Interaktive Fortbildung

Kieferorthopädie heute - interdisziplinär und gewebephysiologisch orientiert

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Die interaktive zm-Sommerfortbildung behandelt den Fachbereich Kieferorthopädie. Zwei Praxisfälle stellen einen alltäglichen, sowie einen speziellen Behandlungsfall in komplexer Weise vor. Pro Beitrag sind zwei Fortbildungspunkte möglich.

Als der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg Prof. em. Norbert Schwenzer, Tübingen, nach einem Übersichtsreferat zu „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der kombinierten chirurgisch-kieferorthopädischen Dysgnathietherapie bei Erwachsenen“ gefragt wurde, wovon der Fortschritt auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten am meisten geprägt worden sei, lautete die kurze Antwort: „Von der Kieferorthopädie“. Dem allgemein tätigen Zahnarzt stellt sich die Entwicklung im Fachgebiet häufig als rasante Zunahme festsitzender Apparaturen mit der Verlagerung der Compliance zum Tragen abnehmbarer Apparaturen auf die Einhaltung der Zahn- und Mundhygiene dar. Die Innovationen vergangener Jahre waren jedoch auf die intensivere Nutzung von Wachstumspotenzen und Geweberegeneration sowie auf die Optimierung der Bogenmaterialien zur Zahnbewegung ausgerichtet, die durch geringe, permanente Kraftabgabe das Schadensrisiko für Parodont und alveolären Knochen minimieren. Zusätzlich sind sie auf neue Verankerungsund Retentionsmaßnahmen für die Stabilität der Ergebnisse ausgerichtet. Fortschritte auf diesen Gebieten helfen, ein gebissphysiologisch besser adaptiertes und stabiles Therapieresultat schneller als bisher zu erreichen.

Kieferorthopädische Frühdiagnostik und Frühbehandlung dient dem Ziel, morphofunktionelle Einflüsse, welche die normale Gebiss- und Kieferentwicklung stören, präventiv auszuschalten und die große Anpassungskapazität des orofazialen Systems beim Wachsenden maximal zu nutzen. Präventive Maßnahmen sind dabei nicht allein auf das Abstellen von Habits, myofunktionelle Übungen und Einschleifen progener Milchzähne zu beschränken, sondern auch auf die Wachstumsstimulation schon im frühen Wechselgebiss zu erweitern, wie dies schon mit der Funktionsreglertherapie von Prof. Rolf Fränkel, Zwickau, begonnen wurde. Vergleichsstudien zur Dysgnathiehäufigkeit in Entwicklungs- und entwickelten Ländern zeigen ein um 20 Prozent häufigeres Vorkommen von oberem Schmalkiefer mit Kreuzbiss bei acht- bis zehnjährigen Kindern in den Industriestaaten. Fehlende Kautätigkeit und verfeinerte Nahrung sind eindeutig als Ursachen zu identifizieren. Neben der Ernährungslenkung wird deshalb zunehmend zur raschen Korrektur des zu schmalen Oberkiefers die forcierte Gaumennahterweiterung beziehungsweise beim zu kurzen Kiefer die Gesichtsmaske nach Delaire (Abbildung 1) angewandt. Mit beiden Apparaturen kann innerhalb weniger Wochen eine Expansion des Kiefers um drei bis vier Millimeter erreicht und damit schon frühzeitig eine dauerhafte Harmonie der Kiefer erzielt werden. Die Kombination beider Expansionsverfahren wird in Absprache mit dem Kieferchirurgen auch sehr früh bei der Spalträgerrehabilitation und Behandlung von Syndrompatienten mit Mittelgesichtshypoplasie eingesetzt. Zum Spektrum der Frühbehandlung gehören unter anderem auch die Distalisierung des ersten Molaren mittels Headgear nach vorzeitigem Verlust der Milchmolaren und die Retrusion der oberen Schneidezähne bei vergrößerter sagittaler Schneidekantenstufe, um dem unfallbedingten Frontzahntrauma vorzubeugen.

Kassenrechtliche „Indikationsgruppen“ dürfen dem Stellen der medizinischen Indikation und einem präventiv orientierten frühen Behandlungsbeginn im individuellen Fall nicht im Wege stehen. Für die frühzeitige kieferorthopädische Diagnostik ist nicht nur die Abstimmung mit dem Hauszahnarzt und Kieferchirurgen, sondern auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Pädiater, dem Logopäden, dem Orthopäden und dem Kinderpsychologen essentiell. Die Hauptbehandlungszeit für die meisten Zahnfehlstellungen und Bisslageanomalien liegt zwischen dem zehnten und 14. Lebensjahr und erfolgt mit der festsitzenden Apparatur. Die Vorteile dieser Behandlungsart mit Brackets und elastischen Drahtbögen nach dem sogenannten Straight wire oder Gerade-Bogen-Konzept liegen in der Verkürzung der Behandlungszeit auf ein bis zwei Jahre und dem kontinuierlichen, zielgerichteten Gewebeumbau. Die Compliance von Seiten des Patienten muss sich bei Applikation der Bracket-Bogen-Apparatur auf die Mundhygiene und abnehmbare extra- und intraorale Hilfsmittel zur Verankerung (siehe unten) konzentrieren.

Neben der Verbesserung der Materialeigenschaften und der klinischen Forschung zur Gewebereaktion galt in den letzten Jahren die verstärkte Aufmerksamkeit der Verankerung mit speziellen Implantaten und Minischrauben im Knochen, um damit unabhängig von der Patientenmitarbeit zu sein. Unter Verankerung sind alle jene Maßnahmen zu verstehen, welche eine geradlinige körperliche Bewegung eines Zahnes oder von Zahngruppen an ihren Bestimmungsort unterstützen und gleichzeitig die Mitbewegung von Zähnen, welche nicht bewegt werden sollen, verhindern. Dem Risiko von Wurzelresorptionen sowie unerwünschten reaktiven Zahnrotationen und Kippungen, die zu Okklusionsstörungen Anlass geben, kann damit vorgebeugt werden. Dafür wurden bislang mehrere Zähne zu Verankerungsblöcken intra- und intermaxillär zusammengefasst, oder mit dem Headgear die ersten Molaren am Ort gehalten. Dennoch kam es entweder durch fehlende Stabilität der Blockbildung oder fehlende Mitarbeit des Patienten beim Tragen des Headgear zum Verankerungsverlust. Um die parodontale Mitreaktion der Verankerungszähne und die Patientenmitarbeit zu umgehen, wurde das Ankylosierungsprinzip des dentalen Implantates genutzt. Im Oberkiefer wird dafür ein spezielles Gaumenimplantat mit einer Länge von 4,0 Millimeter und einem Durchmesser von 3,5 Millimeter in oder neben der Gaumennaht inseriert. Von diesem aus werden mit einem starren Transpalatinalbogen Prämolaren oder Molaren fixiert, um beispielsweise nach einer systematischen Prämolarenextraktion zielgerichtet die Restlücken, auch asymmetrisch, zu schließen oder die Molaren zum Platzgewinn beim Zahnengstand zu distalisieren (Abbildung 2). Neben dem Gaumenimplantat werden zur isolierten Bewegung einzelner Zähne oder Zahngruppen kortikal verankerte Minischrauben angewandt. Durch ihren Einsatz ist es zum Beispiel möglich geworden, bei Aplasie der zweiten Prämolaren im Unterkiefer die Molaren zu mesialisieren, ohne die Schneidezähne nach lingual zu kippen (Abbildung 3).

Durch die geschilderten Verankerungsmaßnahmen, die sehr wesentlich aus der Interdisziplinarität mit der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie erwachsen sind, ist auch das Behandlungsspektrum bei Erwachsenen erweitert worden. Hier sind als weitere Innovationen die Symphysendistraktion beim Zahnengstand im Unterkiefer und die Knochenverankerung der Hyraxschraube (bisher Zahnverankerung) bei chirurgisch unterstützter Gaumennahterweiterung hinzugekommen. Bei letzterer wird der zu starken Zahnkippung und der Gefahr von Zahnwurzel- und Knochenresorptionen vorgebeugt.

Die Kieferorthopädie ist damit auf einem guten Weg, sich von der Orthodontie zu einem zahnmedizinischen Teilgebiet mit Profil bildender interdisziplinärer Verflechtung zu entwickeln.

Prof. Dr. Winfried HarzerDirektor der Poliklinik für KieferorthopädieUniversitätsklinikum Carl Gustav Carusan der Technischen Universität DresdenFetscherstr.7401307 DresdenWinfried.Harzer@uniklinikum-dresden.de

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