Wenn Probleme auftauchen

Der "merk-würdige" Patient in der zahnärztlichen Praxis

Es gibt Patienten, die "merk-würdig", "verwunderlich" oder "schwierig" erscheinen, die "aus den Raster fallen", weil die Beschwerden oder die Symptomschilderung nicht zu den erlernten, anatomisch-physiologisch, oft monokausal definierten Krankheitsbildern passen.

Dies ist eine immer wiederkehrende Erfahrung in der zahnärztlichen Praxis. Müller-Fahlbusch [1] prägte hierfür den Begriff der "Unvereinbarkeit von Befund und Befinden". Die vom Patienten beschriebene Krankheit kann nach den gängigen Kriterien nicht oder nicht hinreichend eingeordnet werden (Tabelle 1).

Der Zahnarzt spürt, diese ungewöhnlich "merkwürdigen" Patienten stören den sonst so präzisen Praxisablauf, weil ihre Beschwerden mit den üblichen Untersuchungen nicht klar einzuordnen sind, viel Zeit und Zuwendung verlangen, auch verwirren können, sie eigentlich nicht verstanden werden. Das Verstehen des Patienten ist aber die Grundlage jeder Diagnostik.

Beispiel Kariesbefund

Karies ist zu sehen. Eine Schilderung des Patienten ist nicht nötig. Aber schon beim Schmerz des kariösen Zahns ist der Zahnarzt diagnostisch auf die subjektive Schilderung des Patienten angewiesen. Schmerz ist nicht zu sehen oder zu messen. Korrekt müsste es heißen: Man verlässt das Feld der objektiven Befundung und begibt sich in das Feld der Bewertung von Sinneseindrücken. Sinneseindrücke sind aber subjektiv und werden selektiv wahrgenommen. Sie sind stark abhängig von der Situation und der psychischen Befindlichkeit der Person. Die Schmerzschilderung ist ohne Berücksichtigung allgemeiner Umstände und der Persönlichkeitsstruktur diagnostisch kaum zu beurteilen. Aber auch die Persönlichkeitsstruktur des Behandlers beeinflusst das Verstehen und die Bewertung der Schilderung der Beschwerden durch den Patienten. Hier beginnt die Notwendigkeit der Integration psychosomatischen Denkens.

Beispiel Prothesenunverträglichkeit

Ein Patient kommt mit seiner neuen Prothese nicht zurecht. Es könnte vielleicht die offensichtlich mangelhafte technische Ausführung die Ursache sein. Fehlen aber solche deutlichen Mängel, oder haben bereits verschiedene Behandler erfolglos immer wieder neue Prothesen versucht, so darf die Ursache der Probleme auf einer anderen Ebene vermutet werden. Erst ein patientenzentriertes, professionelles Gespräch kann Aufschluss über die Ursachen des Problems geben und Wege zur Problemlösung aufzeigen.

Schmerz und Prothesenunverträglichkeit sind die typischerweise ersten Themen, die Zahnärzte zur Psychosomatik führen. Die Probleme dieser Patienten und mit diesen Patienten sind ohne differentielle Berücksichtigung der somatischen, psychischen und sozialen Bedingtheiten kaum zu lösen. Die übliche Ausbildung in der Zahnmedizin lehrt nicht, solche Probleme und Schwierigkeiten des Verstehens auch psychologisch beziehungsweise psychoanalytisch zu betrachten.

Abweichungen vom erwarteten "Normverhalten" des Patienten erfordern eine Flexibilität des Zahnarztes sowie Zeit, Wille und Kenntnisse zum Versuch des Verstehens. Nicht immer liegt der Grund des Nichtverstehens nur in der Darstellung des Patienten.

So ist zum Beispiel denkbar, dass ein Zahnarzt mit einer sachlich ausgerichteten Persönlichkeitsstruktur erhebliche Verständigungsschwierigkeiten mit einem eher "hysterisch" übertreibenden Patienten hat. Die so genannte "individuelle Wirklichkeit" des Patienten und des Zahnarztes sind zu verschieden. Erst ein kritisches Bewusstsein der eigenen Struktur durch Selbsterfahrung und Reflexion kann diese Verständigungsschwierigkeiten vermindern helfen und eine "gemeinsame Wirklichkeit" schaffen. Es ist nicht selten, dass das Krankheitsbild psychisch stark alteriert ist. Angst oder Furcht könnten zu einer Verstärkung oder Verfremdung des Grundleidens führen. Neurosen können eine erwartete normale Reaktion so verändern, dass sie "merk-würdig" erscheint. In diesem Zusammenhang muss auf Untersuchungen von Schepank [2] aufmerksam gemacht werden.

Bei 22 bis 26 Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind psychische Störungen mit Krankheitswert festgestellt worden. Daraus folgt, jeder vierte bis fünfte Patient der bundesdeutschen Bevölkerung ist psychisch komorbid! Zwölf Prozent aller körperlichen Symptome in der Arztpraxis haben eine bedeutsam psychogene Genese. Bei jedem achten dieser Patienten muss also mit psychogener oder stark psychisch beeinflusster Erkrankung gerechnet werden. Aus diesen Ergebnissen ist zu folgern, dass auch die Zahnmedizin ohne eine speziell psychosomatische Ausbildung zum Erkennen dieser Krankheitsfaktoren nicht auskommt.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass Körperfunktionen von seelischen Faktoren beeinflusst werden. So ist bekannt in der peinlichen Situation das Erröten, bei Schreck die Blässe oder Ohnmacht und bei Angst das Zittern. Diese psychovegetativen Reaktionen würden nie rein somatisch zu erklären versucht werden. Auch ist geläufig, dass Vorstellungen und Stimmungen Mimik, Gestik und Haltung beeinflussen, aber auch den Gesundungsverlauf oder zum Beispiel die Schmerzempfindung. Zweifel an einer nur monokausal somatischen Krankheitserklärung sind also deutlich begründet. Krankheit ist immer ein multifaktorielles Geschehen. Viktor von Weizsäcker: "Wer nur am Körper arbeitet, verfehlt die volle Hälfte der Wirklichkeit" [3]. Die Psychosomatische Medizin ist die Lehre von körperlich-seelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, dem Verlauf und der Behandlung von Krankheiten. Sie ist kein zusätzliches Fachgebiet der Medizin, sondern eine umfassend andere Sichtweise - ein Paradigma.

Das heute noch vorherrschende, dualistische Paradigma einer Körper und Psyche getrennt betrachtenden Medizin (mechanistisches Modell), das auf Descartes (17. Jahrhundert) zurückgeht, ist weder in der Medizin der Antike, noch nach heutigem erkenntnistheoretischem Wissen denkbar. Körper und Psyche sind untrennbar verknüpft in der Art von Regelkreisen.

Frühzeitiger Verdacht ...

Die Zahnmedizin befasst sich mit der Diagnostik und Therapie lokaler Symptome, die aber nicht immer nur eine lokale Genese haben, sondern wie alle Erkrankungen viel umfassender betrachtet werden müssen. Krankheit ist nicht nur somatisch zu erklären, sondern kann auch als untauglicher Lösungsversuch eines Traumas, Problems oder Konfliktes verstanden werden. Hier muss aber deutlich von dilettantischem "Psychologisieren" Abstand genommen werden.

Krankheiten nur mystisch als psychischen Ausdruck zu erklären, entbehrt jeder Wissenschaftlichkeit. Die Diagnose einer psychischen Ursache oder Mitbeteiligung bei Krankheit bedarf immer der begründet positiven Diagnostik. Diese ist aber nur durch profunde differentialdiagnostische Kenntnisse in Psychosomatischer Medizin möglich.

Die Aufgabe des Zahnarztes ist es, die möglichen Ursachen differenziert zu betrachten und dem Patienten zu besseren Lösungsmöglichkeiten zu verhelfen. Nur die Erkenntnis, nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln, wird zu einer wirklich - im Wortsinn - ganzheitlich individuellen Zahnmedizin führen.

Sollte ein "merk-würdiger" Patient Anlass geben, an ein psychosomatisches Krankheitsbild zu denken, so bleibt den nicht speziell ausgebildeten Zahnärzten nur der Weg der Überweisung zur diagnostischen Abklärung. Das Vermitteln der Notwendigkeit der Überweisung zum Psychotherapeuten ist aber äußerst schwierig, da in der Regel diese Patienten eine seelische Ursache nicht erkennen können. Oft bewerten sie dies als Stigmatisierung ("ich bin doch nicht verrückt …"). Wie eine solche Überweisung mit bestmöglicher Compliance zu erarbeiten ist, wird in einem der folgenden Beiträge zur Psychosomatik in der zahnärztlichen Praxis dargestellt werden.

... spart teure Diagnostik

Das frühzeitige Erkennen psychosomatischer Zusammenhänge bei der Diagnostik verhindert auch die unsinnige Häufung aufwendiger Untersuchungen und Behandlungen sowie die Aggravierung der Symptomatik durch somatische Fixierung. Es ist sowohl aus menschlicher als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht bedenklich, dass durch das weit verbreitete Verfahren der somatischen Ausschlussdiagnostik bei vielen Erkrankungen erst nach einer mehrjährigen Odyssee somatischer Verdachtsdiagnosen (mit erheblichen Kosten) auch psychogene Ursachen qualifiziert diagnostiziert werden. Die integrierte Psychosomatische Medizin hat zum Ziel, dieses zu vermeiden.

Der tiefenpsychologisch begründete Ansatz beim Umgang mit dem Kranken unterscheidet sich grundlegend von Ratschlägen aufgrund des "gesunden Menschenverstandes" oder der allgemeinen Lebenserfahrung des Zahnarztes. Die vorschnelle, unqualifizierte Deutung psychogener Ursachen oder Mitbeteiligungen an der Krankheit muss bei diesen Kranken zu einer Verstärkung der Abwehr führen. Könnten sie ihren Konflikt auf der psychischen Ebene verarbeiten, müssten sie nicht somatisieren. Nur so ist die erschreckend geringe Compliance bei unreflektierter Überweisung zu Fachinstitutionen mit dem Suffix "Psycho" zu erklären. Der psychosomatisch ausgebildete Zahnarzt bietet durch das qualifizierte Vorgehen dem Patienten die Möglichkeit, den Desomatisierungsprozess einzuleiten und damit den Circulus vitiosus der somatischen Fixierung aufzulösen.

Die neu gewonnene Einsicht in die Krankheitsentwicklung ermöglicht dem Patienten schließlich erst den Zugang zur eventuell notwendigen Psychotherapie oder kann durch eine Einordnung der aktuellen, aber temporären Problematik (zum Beispiel: übermäßiger Stress) diese überflüssig machen.

Schlussfolgerungen

• Das mechanistische Monokausalitätsdenken des 17. Jahrhunderts sollte auch in der Zahnmedizin beendet werden. Diagnose und Therapie müssen aus einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Krankheit erfolgen. Hierbei ist es wichtig, sich nicht zu einer dilettantischen Psychologisierung verführen lassen, sondern eine qualifizierte Wertung und Gewichtung der Anteile vorzunehmen. Diagnostik und Therapie sollen entsprechend der Anteile und der sinnvollen Möglichkeiten erfolgen.

• Bereits im Studium sollten Psychologie und Psychosomatik mehr als bisher berücksichtigt werden.

•  Da aber im Studiengang nur eine orientierende Einführung vermittelt werden kann, ist eine postgraduelle, qualifizierende Fortbildung in Psychosomatischer Medizin notwendig.

• Als Einstieg in eine psychosomatisch orientierte Zahnmedizin bietet die Akademie Praxis und Wissenschaft (www.dgzmk.de) Seminare für Zahnärzte an.

• Es besteht ein großer Bedarf für Institutionen, zu denen Zahnärzte, die nicht psychotherapeutisch entsprechend ausgebildet sind, Patienten überweisen können. Etwa zur differentialdiagnostischen Beratung bei Verdacht auf erhebliche psychische Krankheitsursachen oder Komorbidität. Das Suffix "Psycho" sollten diese Beratungsstellen nicht im Titel führen, um die Compliance zu erleichtern. Es wäre wünschenswert, dass solche interdisziplinären Beratungsstellen von den Universitäten, den Kammern und / oder den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen eingerichtet werden.

Dr. Hans-Joachim DemmelAuerbacher Str. 214193 Berlinmail:h.j.demmel@gmx.de

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