Orale Rehabilitation im Milchgebiss bei frühkindlicher Osteopetrosis

Das Albers-Schönberg-Syndrom

198452-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
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Störung im Zahndurchbruch, Schmelzhypoplasien, Kronen- und Wurzelmissbildungen sowie viele kariöse Läsionen sind Zeichen einer Erkrankung, die eine schlechte Prognose hat. Im Folgenden wird ein sehr seltenes Krankheitsbild vorgestellt, das kaum ein Zahnarzt in freier Praxis sehen wird, denn diese Patienten werden meistens in der Klinik behandelt. Trotzdem sollten Symptome und Verlauf der Erkrankung bekannt sein. Hier wurde ein sechsjähriges Kind mit aufwendiger Prothetik oral rehabilitiert.

Ätiopathologie

Die Marmorknochenkrankheit, die erstmals 1904 vom Hamburger Radiologen Albers-Schönberg beschrieben wurde [1], ist eine seltene (Inzidenz 1:200 000) und in ihrer Ätiologie noch nicht hinlänglich bekannte Knochenerkrankung [19]. Sie ist eine rezessiv oder autosomal-dominant vererbbare Knochenkrankheit [13] und stellt sich in drei Formen dar [14, 24]: in einer malignen, brüchigen Osteosklerose mit Anämie, die meist in den ersten Lebensmonaten ad exitum führt und in einer gutartigen Osteosklerose, die häufig als Zufallsbefund entdeckt wird. Daneben wird eine weitere (intermediäre) Form beschrieben, die in der ersten Lebensdekade auftritt und in ihrer Symptomatik den anderen Formen nicht zugerechnet werden kann.

Die infantile oder auch maligne Osteopetrosis ist die erste und schwerste Form. Sie manifestiert sich im Säuglingsalter. Die Patienten versterben früh, sofern keine Knochenmarkstransplantation durchgeführt wird [14]. Die Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum sechsten Lebensjahr wird mit 30 Prozent angegeben [24]. Schwere und Verlaufsgeschwindigkeit der Erkrankung variieren erheblich. Sie ist durch eine diffuse Osteosklerose des gesamten Skeletts mit abnormer Knochenbrüchigkeit, Wachstumsminderung, myelodysplastischer Anämie, neurologischen Ausfällen und osteomyelitischen Prozessen, besonders im Bereich des knöchernen Schädels, gekennzeichnet.

Ein verminderter Knochenabbau führt bei der Osteopetrosis unter Anhäufung eines primitiven, ungeordneten Knochens zu einer fortschreitenden Sklerosierung. Die Ursache dafür ist eine Osteoklasteninsuffizienz [13]. Neuere Untersuchungen machen einen Enzymmangel beziehungsweise das Fehlen bestimmter Ionenkanalproteine von Chloridkanälen für die Entstehung der Osteopetrosis verantwortlich [11, 13, 14]. Ebenso konnten bestimmte Gendefekte identifiziert werden [13]. Die Resorptionsvorgänge werden durch inflammatorische Zytokine beeinflusst [26].

Symptomatik

Störungen in der Hirnnervenregion (wie des Nervus opticus durch Einengung des Foramen opticum) sowie Kieferosteomyelitiden als Folge der veränderten Knochenstruktur mit einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen können auftretende Symptome im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich sein [33]. Die Folgen der seltenen neurologischen Ausfälle sind Nystagmus, Strabismus oder Optikusatrophie und können zur Erblindung führen. Die Sklerosierung im Bereich des Os petrosum kann dagegen Fazialisparesen und Schwerhörigkeit beziehungsweise Taubheit zur Folge haben [18]. Die sensoneurologischen Ausfälle durch Verengung der Foramina der Schädelbasis sind irreversibel.

Die Zahnentwicklung ist anomal und in ihrer eruptiven Phase gestört [22, 32]. Sie ist durch eine Oligodontie charakterisiert. Der Wachstumsfaktor EGF ist möglicherweise für die Störung des Zahndurchbruchs verantwortlich, da er auch bei pathologisch veränderten Osteoklasten nachweisbar ist [30]. Bei angelegten Zähnen imponieren Schmelzhypoplasien sowie Kronen- und Wurzelmissbildungen. Oftmals werden auch kariöse Läsionen beobachtet [8, 22, 32]. In der Literatur wird nur ein einziger Fall beschrieben, bei dem es nach allogener Knochenmarkstransplantation bei einem dreiwöchigen Jungen zu einem regelhaften Zahndurchbruch der ersten und zweiten Dentition kam [10].

Diagnostik

Die Diagnose erfolgt primär röntgenologisch, wobei für das jeweilige kindliche Lebensalter abnorme Knochendichten festgestellt werden [12]. Die Bestimmung der Knochendichte kann mittels CT erfolgen [7]. Mit einer zusätzlichen Knochenstanzbiopsie kann eine Knochenmarksklerosierung nachgewiesen werden. Knochenmarkpunktionen sind dagegen in der Regel nicht durchführbar [24]. Ein molekulargenetischer Nachweis kann diagnostisch ergänzend herangezogen werden.

Differentialdiagnostisch ist die frühkindliche Osteopetrosis von der sklerosierenden Osteomyelitis, der Skelettdysplasie und den seltenen Verlaufsformen leukämischer Erkrankungen abzugrenzen [16]. Die Therapie der Osteopetrosis Albers-Schönberg ist hauptsächlich symptomatisch ausgerichtet [17, 19]. Neben einer medikamentösen Therapie mit Interferonen und Steroiden stellt jedoch die Blutstammzelltransplantation eine neue, wirkungsvolle und kurative Therapieform dar, da sich wieder normale Osteoklasten aus hämatopoetischen Stammzellen des Knochenmarks differenzieren [17, 24].

Fallbericht

Eine sechsjährige Patientin mit frühkindlicher Osteopetrosis Albers-Schönberg (Abbildung 1) stellte sich im Juli 2002 in unserer Poliklinik vor. Die allgemeine Anamnese ergab bei dem kleinen Mädchen, dass ein halbes Jahr zuvor aufgrund einer Anämie eine Knochenmarkstransplantation durchgeführt worden war. Nach dem Eingriff entwickelte die Patientin eine Meningitis, die antibiotisch behandelt wurde. Bei bekannter infantiler Osteopetrosis erfolgte bereits im Mai des Vorjahres eine Ausräumung des linken Oberkiefers mit einer resultierenden Resektionshöhle. Zum Zeitpunkt der Vorstellung war das Mädchen aufgrund einer Einengung des Canalis opticus auf dem linken Auge blind und hatte eine Methicillinresistente Staphylococcus aureus Infektion (MRSA+). Infolge der Grunderkrankung und durch die MRSA-Infektion begünstigt, kam es zu einer Osteomyelitis im Oberkiefer. Diese wurde in unserem Hause interdisziplinär behandelt. Besonderer Dank gilt Professor Dr. Günter Delling, Institut für Osteopathologie im UKE, für die freundliche Unterstützung bei der Bearbeitung der ätiopathologischen Gesichtspunkte.

Die Patientin wurde mit der Frage nach einer Zahnsanierung mit einer Kinderprothese von den behandelnden Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen überwiesen. Diese sollte in Form eines Obturators gestaltet werden, da eine chirurgische Defektdeckung des Gaumens nicht möglich war.

Intraoral imponierte eine Oligodontie mit unterbrochenem Verlauf der Alveolarfortsätze und teilweise nekrotisierenden Abschnitten (Abbildung 2). Sofern Zähne vorhanden waren, fielen diese durch anomale Formen auf, die an Odontome [8, 31] beziehungsweise wie von Schulze beschrieben, an sogenannte „Kompressionsanomalien“ erinnerten [25]. Die ergänzende Röntgendiagnostik durch ein Orthopantomogramm (OPG) bestätigte die klinischen Befunde und zeigte, neben Osteolysen im Ober- und Unterkiefer, dass echte Germe permanenter Zähne nicht abgrenzbar waren (Abbildung 3). Ein ungeordnetes Knochenwachstum mit vermehrter Anlagerung von Knochensubstanz führt zu einer Verdrängung von Zahnkeimen (Abbildung 4) [32].

Aufgrund von Formanomalien (Abbildung 5) wurden sechs Zähne extrahiert und eine modellierende Osteotomie durchgeführt. Die anschließende prothetische Versorgung der zahnlosen Kiefer erfolgte in denselben Arbeitsschritten wie bei Erwachsenen. Auf eine Stützstiftregistrierung sowie eine Gesichtsbogenübertragung wurde dabei wegen der fehlenden Mitarbeit der Patientin verzichtet [4]. Nach erfolgter Wachseinprobe konnte die fertiggestellte Kinderprothese (Abbildung 6) zunächst jedoch nicht eingegliedert werden, da diverse Nachsorgetermine seitens der Eltern der Patientin nicht wahrgenommen wurden. Durch den Zeitverzug bedingt, waren einzelne Milchzähne weiter durchgebrochen, so dass ein erneuter oralchirurgischer Eingriff notwendig wurde. Die Wundheilung verlief komplikationslos, so dass vierzehn Tage post-op die unterfütterte Unterkieferprothese und der Obturator eingegliedert werden konnten (Abbildung 7).

Diskussion

Infolge kariöser Zerstörung von Zahnkronen, traumatischem Zahnverlust oder bedingt durch Nichtanlagen beziehungsweise ausgeprägte Zahnanomalien treten Störungen in der Kaufunktion, der Sprachentwicklung und der Ästhetik auf. Letztere können dabei zu psychosozialen Problemen führen. Prothetische Maßnahmen lassen sich im Kindesalter in der Regel erst dann realisieren, wenn sie sowohl von den kleinen Patienten als auch von der elterlichen Bezugsperson gewünscht werden [6, 21]. Bei enger Indikationsstellung beträgt nach Körperich die Prothesenakzeptanz bei drei- bis sechsjährigen Kindern 96 Prozent [15]. Die Eingliederung von Kinderprothesen ist jedoch im Falle kieferorthopädischer Behandlungsnotwendigkeit, bei geplantem kieferorthopädischem Lückenschluss oder wenn der Durchbruch der zweiten Dentition in weniger als sechs Monaten zu erwarten ist, kontraindiziert [27].

Im vorliegenden Fall macht der Schweregrad der Grunderkrankung per se schon eine Behandlung schwierig. Die Osteomyelitis ist eine gravierende Komplikation der Osteopetrosis Albers-Schönberg und tritt gehäuft im Unterkiefer auf [29]. Ihr Vorkommen im Oberkiefer ist eher selten und wahrscheinlich auf die dünne Kortikalis und die gute Blutversorgung durch Kollateralgefäße zurückzuführen [2, 3, 9]. Die Virulenz der in den Alveolarknochen penetrierten Erreger und die Resistenzlage der Patientin sind dabei wichtige Faktoren für die Entstehung einer Osteomyelitis [23].

Der osteomyelitisch bedingte knöcherne Defekt des Gaumens erschwert den Saughalt der Prothese ebenso wie die ungünstigen Verhältnisse des Prothesenlagers im Unterkiefer. Die Saugleistung von totalen Kinderprothesen stellt aufgrund eines anatomisch unzureichend ausgebildeten Prothesenlagers ohnehin ein Problem dar [15]. In diesem Fall waren präprothetische Maßnahmen aufgrund der schweren MRSA-Infektion, der pathologischen Knochenstruktur und des kindlichen Alters nicht realisierbar. Funktionelle Ansprüche an die Prothese dürfen daher nicht zu hoch angesetzt werden; vielmehr waren phonetische und ästhetische Gesichtspunkte vordergründig. Aufgrund erhöhter Frakturanfälligkeit der Alveolarknochen bei Patienten mit Osteopetrosis muss insbesondere im Unterkiefer darauf geachtet werden, die Prothesenbasis hinsichtlich ihrer Schichtstärke nicht zu massiv zu gestalten. Sie könnte, insbesondere bei vorangegangener Germektomie, eine Fraktur des ohnehin geschwächten Unterkiefers provozieren. Die Extension der Basis sollte in jedem Fall eine gleichmäßigere Verteilung der Kaukräfte berücksichtigen [20].

Die Extraktion sämtlicher angelegter Zähne war aufgrund starker Deformitäten im Bereich der klinischen Kronen und Wurzeln unumgänglich. Eine prothetische Rehabilitation mit diesen Zähnen erschien nicht möglich. Infolge der resultierenden Zahnlosigkeit war die Versorgung mit einer Kinderprothese indiziert [28].

Die Planung und Herstellung von totalen Kinderprothesen entspricht im Wesentlichen der Anfertigung von totalem Zahnersatz bei Erwachsenen [5, 6]. Die orale Rehabilitation im Milchgebiss mit Totalprothesen beinhaltet die anatomische Abformung der Kiefer, die Herstellung individueller Löffel mit Funktionsabformung und die Bissregistrierung [5, 21]. Bei der Gestaltung der Prothese sollte darauf geachtet werden, dass die Prothesenbasen im Bereich des Alveolarfortsatzes nicht nach labial übergreifen und posterior bis zur Distalfläche der zweiten Milchmolaren ausgedehnt werden [5]. Die Schwierigkeit bei der prothetischen Rehabilitation der kleinen Patientin bestand in der Defektsituation des Oberkiefers, der pathologisch veränderten Situation des Alveolarkammes und einem infektbedingten, reduzierten Allgemeinzustand. Aufgrund einer überwiegend guten Compliance während der Behandlungsphase waren eine funktionelle Abformung des Defekts und die Versorgung mit einem Obturator möglich. Nach Einwag lässt der Prothesenhalt bei Kinderprothesen wegen der muskulären Adaptation der Patienten keine Probleme erwarten [5]. In der aufgezeigten Kasuistik traf dieser Umstand nur bedingt zu, da infolge der Osteopetrosis klinisch eine andere Situation vorlag.

Unter Berücksichtigung, dass uns aus der Literatur hinsichtlich der prothetischen Versorgung bei frühkindlicher Osteopetrosis bisher kein Fall bekannt ist, erscheint das beschriebene interdisziplinäre Behandlungskonzept als eine geeignete Methode der oralen Rehabilitation bei Patienten mit Marmorknochenkrankheit.

Zusammenfassung

Die Osteopetrosis (Albers-Schönberg Syndrom, Marmorknochenkrankheit) ist eine seltene genetische Erkrankung, bei der es zu Resorptionsstörungen des Knochens kommt. Gleichzeitig kommt es auch zu Entwicklungsstörungen der Zähne, die durch Schmelzhypoplasien sowie Kronen- und Wurzelmissbildungen gekennzeichnet sind. Bei noch teilweise unklarer Pathogenese ist die Therapie dieser Krankheit hauptsächlich symptomatisch ausgerichtet.

Der vorliegende Fallbericht, der die prothetische Versorgung einer sechsjährigen zahnlosen Patientin mit frühkindlicher Osteopetrosis dokumentiert, stellt aufgrund dieser hereditären Ossifikationsstörungen, die den Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich betreffen, für die zahnärztliche Diagnostik und Versorgung eine Besonderheit dar.

Dr. Georg CachovanDr. Iwer LassonProf. Dr. Ursula PlatzerPoliklinik für Zahnerhaltung und PräventiveZahnheilkunde, Zentrum für Zahn-, MundundKieferheilkunde (ZZMK)Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfMartinistr. 5220246 Hamburgcachovan@uke.uni-hamburg.de

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