Zahnärztliche Behandlung in Großbritannien

Leere Versprechungen

Unzufriedene Patienten, frustrierte Zahnärzte und negative Schlagzeilen – so hat sich die zahnärztliche Versorgung unter Tony Blair entwickelt. Von seinem ursprünglichen Versprechen, das staatliche Zahnärztewesen des NHS umfassend zu reformieren, ist nichts übrig geblieben. Spannend wird, wie der neue Premierminister Gordon Brown mit diesen Problemen umgehen wird.

Jeder zweite Zahnarzt in Großbritannien weigert sich, Patienten des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) zu behandeln. Das geht aus einer aktuellen der britischen Verbraucherschutzorganisation „Consumers Association“ (CA) hervor. Demnach hat sich die zahnärztliche Versorgung im Königreich unter der Regierung Blair nicht etwa verbessert, sondern ist noch schlechter geworden. Das sorgt im Königreich seit Monaten für unzufriedene Patienten, frustrierte Zahnärzte und negative Schlagzeilen.

Wie eine Sprecherin der CA gegenüber den zm in London bestätigte, ist es in weiten Teilen Großbritanniens heute nahezu unmöglich, einen staatlichen Zahnarzt zu finden. 51 Prozent der von den Verbraucherschützern befragten Zahnärztinnen und Zahnärzte gaben offen zu, nicht länger Staatspatienten zu behandeln. Häufigste Ursache ist die mangelhafte Bezahlung.

„Für die Zahnarztpraxen rechnet es sich einfach nicht, NHS-Patienten zu therapieren, da die Honorare so niedrig sind und die für NHSBehandlungen zur Verfügung stehenden Materialien qualitativ mangelhaft sind“, so die CA. Ob Füllmaterialien für kariöse Zähne, Brücken oder andere Materialien – NHS-Zahnärzte haben laut CA heute nicht länger das nötige Handwerkszeug zur Verfügung, um ihren Patienten helfen zu können. Am größten ist die Not im Nordwesten Englands. Dort nehmen lediglich 13 Prozent aller Zahnarztpraxen neue Staatspatienten an. In Yorkshire und Humberside (Nord- England) sind es 15 beziehungsweise 16 Prozent. Selbst in den großen Städten wie London, Liverpool und Manchester haben Patienten heute „enorm große Probleme“ (CA), einen staatlichen Zahnarzt zu finden. „Patienten bleibt oftmals gar nichts anderes übrig, als sich privat behandeln zu lassen.“ Freilich: Viele Patienten haben dafür nicht das nötige Geld. Folge: Im Königreich leben heute „zehntausende Patienten, die seit vielen Jahren nicht mehr beim Zahnarzt waren“, kritisierte kürzlich der für die Liberalen im Unterhaus sitzende Abgeordnete Norman Lamb. Lamb berichtete: „Ich kenne eine 80- jährige Patientin, die kürzlich zu ihrem Zahnarzt kam, weil sie starke Zahnschmerzen hatte. Der Zahnarzt riet ihr, drei Restzähne zu ziehen und dann eine Brücke einzusetzen. Das sollte 800 Pfund (rund 1280 Euro) kosten. Die Patientin hatte dafür kein Geld und nimmt seitdem Schmerzmittel.“

BDA übt offen Kritik

Kein Einzelfall, wie gesundheitspolitische Beobachter im Königreich feststellen. Als Tony Blair vor etwas mehr als zehn Jahren die Regierungsgeschäfte in der Downing Street übernahm, versprach er eine umfassende Reform des Zahnärztewesens und eine Verbesserung der bereits damals lückenhaften Versorgungssituation. Seitdem hat sich nach Ansicht britischer Zahnärzteverbände nicht viel zum Besseren gewandelt. Der britische Zahnärztebund (British Dental Association, BDA) wies in jüngster Zeit mehrfach öffentlich darauf hin, dass die Versorgungslücken im staatlichen Zahnärztewesen größer werden. Die BDA kritisierte offen die Gesundheitspolitik der Regierung und verlangte, mehr Geld in den Ausbau des staatlichen Versorgungsnetzes zu investieren. Andernfalls sei absehbar, dass „gesunde Zähne eine Frage des Geldbeutels“ würden.

Besonders kritisch bewertet die BDA Anstrengungen von Gesundheitsministerin Patricia Hewitt, NHS-Zahnärzte zu zwingen, große Summen zurück an den Staat zu zahlen, nur weil sie die vom Londoner Gesundheitsministerium vorgegebenen Versorgungsziele nicht erreicht haben. Das Gesundheitsministerium zwang den Zahnärzten kürzlich einen neuen NHS-Arbeitsvertrag auf. Darin wird den Praxen unter anderem vorgegeben, wieviele Patienten sie behandeln müssen. Messlatte sind die „Units of Dental Activity“ (UDA). Wer in seiner Praxis nicht genug UDAs abliefert, wird finanziell bestraft. Da die Praxen bereits im Voraus für eine von der Gesundheitsverwaltung festgesetzte UDA-Zahl bezahlt werden, kommt es in jüngster Zeit immer öfter vor, dass Praxen 10 000 Pfund (15 500 Euro) oder mehr an die Gesundheitsverwaltungen zurück bezahlen müssen, weil sie nicht genug Patienten behandelt haben. Einige Praxen, so die BDA, müssen bis zu 100000 Pfund (155 000 Euro) zurückzahlen. Folge des auf Menge ausgelegten Systems: arbeits- und zeitintensive Behandlungen, wie Wurzelkanalfüllungen, werden immer öfter durch zeitsparende Eingriffe wie Extraktionen ersetzt. „Das ist nicht im Interesse des Patienten“, so eine BDA-Sprecherin. In Großbritannien praktizieren derzeit 20887 Zahnärztinnen und Zahnärzte.

Boom im Privatbereich

Gleichzeitig erlebt die private Zahnmedizin einen neuen Boom. Besonders im Großraum London hat sich die Zahl privater Zahnarztpraxen in den vergangenen Jahren vervielfacht. Und auch Staatspatienten behandelnde Zahnärzte verdienen immer mehr Geld mit Privatbehandlungen. Laut BDA erzielt eine britische Zahnarztpraxis heute „durchschnittlich 50 Prozent“ ihres Einkommens mit privat bezahlenden Patienten. Vor 15 Jahren lag dieser Prozentsatz laut Zahnärztebund noch bei „sechs Prozent“. Tendenz: weiter steigend.

Gesundheitspolitische Beobachter in London erwarten mit Spannung, was passieren wird, wenn Tony Blair als Premierminister zurücktritt und die Amtsgeschäfte an Gordon Brown übergibt. Brown selbst gilt als Anhänger der privaten Zahnmedizin. Mehrfach wurde der 56-jährige Politiker beim Verlassen einer teuren Privatpraxis im Londoner Westend fotografiert. Das handelte ihm Kritik seitens der Patientenverbände ein.

Arndt StrieglerGrove House32 Vauxhall GroveGB-London SW 8 1SY

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