Genialität oder Lerneffekt

Mozart und das absolute Gehör

Mit dem absoluten Gehör kann man weder das Gras wachsen, noch die Flöhe husten hören. Man hört nicht mehr und nicht weniger als andere Menschen auch, aber man kann die Tonhöhe des Gehörten exakt bestimmen.

Nur etwa 8 000 Deutsche können das. Sie stimmen einen Schlager immer in genau der richtigen Originaltonlage an, während „Otto Normalsänger“ irgendeinen Anfangston wählt und lediglich die nachfolgenden auf diesen Ton abstimmt.

Die Mehrzahl der Menschen kann Tonhöhen im Vergleich mit anderen Tönen unterscheiden – also relativ hören. Das genügt vollkommen, um herauszuhören, ob sich ein Musiker verspielt hat. Wer über das absolute Gehör, also ein Tonhöhengedächtnis, verfügt, erkennt zudem auch die tatsächliche Tonhöhe. Bei Menschen, die Noten lesen können, bedeutet das, dass sie einen Ton hören und genau sagen können, um welche Note es sich handelt.

Mozart hatte das absolute Gehör. Auch Beethoven, Bach, Händel und Chopin wird es nachgesagt. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gabe die Voraussetzung für eine geniale Komponisten- oder Musikerlaufbahn ist. Wahrscheinlich ist es eher so, dass diese Künstler bereits sehr früh in ihrem Leben mit Musik in Berührung kamen und schon in jungen Jahren ein Instrument erlernten. Dadurch blieb ihnen das Tonhöhengedächtniserhalten. Man geht heute davon aus, dass alle Menschen zunächst in der Lage sind, absolut zu hören. Da diese Fähigkeit beim Erlernen unserer Sprache und im Alltag aber nicht gebraucht wird, verlieren wir sie wieder. Wer sich jedoch in der frühen Kindheit mit Tonhöhen beschäftigt, hat die Chance, das Tonhöhengedächtnis zu erhalten. So verfügt nur etwa einer von 10 000 Europäern oder Nordamerikanern über diese außergewöhnliche Begabung. Bei Musikstudenten, die im zarten Alter von Vier oder fünf schon Klavier- oder Geigenunterricht bekommen haben, sind immerhin sieben Prozent in der Lage, absolut zu hören – also 700 von 10 000.

In Asien kommt diese Begabung wesentlich häufiger vor. Die Ursache liegt offenbar in den dortigen Sprachen begründet. So hat beim chinesischen Standard-Dialekt Mandarin, einer Tonsprache, dasselbe Wort unterschiedliche Bedeutungen, wenn es in unterschiedlichen Tonlagen ausgesprochen wird. Mit dem Erlernen der Muttersprache wird zugleich also auch das sichere Beherrschen ganz bestimmter Tonlagen eingeübt. Damit hat diese Fähigkeit eine hohe Wahrscheinlichkeit, erhalten zu bleiben. Eine Untersuchung mit 200 Musikstudenten aus den USA und China bestätigte diese Annahme: 52 Prozent der chinesischen Studenten konnten absolut hören.

Die Voraussetzung für absolutes Hören ist natürlich ein intaktes Gehör. Wenn das Hörvermögen durch Lärm oder Infektionskrankheiten geschädigt ist, können bestimmte Frequenzen nicht mehr gehört werden – egal ob absolut oder relativ. Wer das Gefühl hat, nicht mehr gut zu hören, sollte vorsorglich einen Hörtest beim Hörgeräte-Akustiker oder HNO-Arzt machen. „Absolut“ hören muss man nicht – auch nicht als Musiker. Aber gutes Hören ist für alle Menschen wichtig, um „mit allen Sinnen“ am Leben teilhaben zu können.

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