Gynäkologische Reisen im kleinen Grenzverkehr über die Oder

Furiose Fekundität in Schwedt

Heftarchiv Gesellschaft
Das Gesundheitswesen der EU ist durch Neuzugänge um eine Facette reicher geworden. Es hat einen Neologismus kreiert, der das Zeug zum Wort des Jahres hat: Geburtstourismus.

Polnische Frauen haben eine Möglichkeit entdeckt, wie sie schöner gebären können. Sie kommen hochschwanger über die Oder in die deutsche Klinik Schwedt, die vom Grenzübergang nur zwei Kilometer entfernt liegt (nach Stettin sind es nur 50 Kilometer), erklären dort, sie seien ein Notfall, und einen solchen kann bekanntlich kein Arzt zurückweisen. Sie gebären in der uckermärkischen Nordwestecke der Bundesrepublik eine kleine Polin oder einen kleinen Polen, verlassen meist geschwind wieder das gastliche Haus und melden die Neugeborenen flugs in Polen an.

So weit, so trickreich schön und eigentlich nur zum Schmunzeln geeignet. Denn würde es bei einzelnen Notfällen bleiben, wäre das nicht weiter aufgefallen. Da aber im Jahr bis zu 200 Frauen aus der Nachbarschaft jenseits der Oder sich drängen, um nicht zuletzt den vergleichsweise hohen Standard der Schwedter Klinik wahrzunehmen, sind die Krankenkassen misstrauisch geworden – auf polnischer wie auf brandenburgischer Seite. Beide müssen sparen, weil sie gleichermaßen klamm sind, die Polen sogar noch ein bisschen mehr, weil sie der Segnungen des deutschen Risikostrukturausgleiches nicht teilhaftig werden, zumindest nicht länderübergreifend sondern nur – wie geschildert – im kleinen Grenzverkehr. Sie haben eine Einheitskasse, den Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ).

Werbung in Polen

Und hier beginnen die postnatalen Komplikationen. Eine EU-Vereinbarung sieht vor, dass die deutschen Krankenkassen im Falle einer Notgeburt die Kosten für die niedergekommene Polin übernehmen und anschließend vom NFZ erstattet bekommen. Nun glauben aber beide Kassen nicht mehr an den Wahrheitsgehalt der Notentbindungen, die sich just in Schwedt häufen. Die AOK Brandenburg zahlt, wenn überhaupt, nur noch unter Vorbehalt, der NFZ zahlt einstweilen gar nicht, und das Krankenhaus jammert, dass es auf den Kosten sitzen bleibe. Der anhängige Betrag, den allein die AOK Brandenburg für 173 Fälle gezahlt, aber vom NFZ bisher nicht zurückerhalten hat, ist inzwischen auf runde 430 000 Euro angewachsen. Der NFZ wiederum spricht von etwa 800 000 Euro Kosten, die in zwei Jahren als Forderungen ihm gegenüber aufgelaufen sind. Die Rechnungen stimmen ziemlich nachvollziehbar trotz der unterschiedlichen Beträge überein, weil sie sich auf unterschiedliche Zeiträume beziehen. Eine durchschnittliche Geburt kostet in Polen runde 400 bis 600 Euro, in Schwedt aber zwischen 2 000 und 3 000 Euro.

Der NFZ wie die AOK Brandenburg schließen rechtliche Schritte nicht mehr aus, wie man hört. Die Deutschen gegen die Klinik, der NFZ wider die in seinen Augen transnational wie dissozial gebärenden Landsmänninnen. Nach Beschluss Nr. 195 der EG-Verwaltungskommission ist ein Leistungsanspruch ausgeschlossen, wenn Patientinnen sich bewusst zum Zweck der Entbindung nach Deutschland begeben, vielleicht sogar, nachdem sie sich bei vorherigen Besuchen in Schwedt beraten lassen haben. Dieses Procedere scheint man bei der „märkischen Gesundheitskasse“, wie sich die brandenburgische AOK mitunter auch nennt, nicht mehr ganz auszuschließen. Sie behält sich überdies Rückforderungen schon geleisteter Zahlbeträge gegenüber der Klinik vor. Indessen rühmen Frauen in ganz Westpolen die Schwedter gynäkologische Ausstattung. Hierin ist wohl auch der Grund zu suchen, dass in der Uckermark besonders häufig die Wehen „überraschter“ polnischer Frauen einsetzen.

Die EU-eigene Besonderheit scheint darüber hinaus, wie NFZ und AOK wähnen, nicht nur die Erfindungsgabe der werdenden Mütter jenseits der Oder herauszufordern, sondern auch das Ingenium der Klinikleitung. Dies meint jedenfalls Jörg Trinogga, Pressesprecher der AOK Brandenburg: „Es gibt Hinweise, dass das Uckermark-Krankenhaus in Polen massiv Werbung gemacht hat.“ Vor etwa einem Jahr seien überdies in Stettin angeblich Prospekte der Klinik verteilt worden, die jetzt Asklepios heißt, und im polnischen Internet sei über die Möglichkeiten einer Entbindung in Schwedt diskutiert worden. Bis vor kurzem hatte die Klinik außerdem einen populären polnischen Chefarzt, der jetzt in Rente ist, sich aber offensichtlich im produktiven Unruhestand nebenbei im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus Prenzlau segensreich betätigt. Dort ist wunderbarer Weise nach seiner Übersiedlung die Zahl der polnischen Entbindungen angestiegen. Die Fama scheint ihm vorangeeilt zu sein. Er hatte zuvor schon in Polen, sagt der Schwedter Klinik-Geschäftsführer Michael Jürgensen, „einen hohen Bekanntheitsgrad“. „Langfristig aber“, setzt Trinogga dagegen, „ist die Klinik auf eine Kooperation mit den Krankenkassen angewiesen. Das Gesundheitswesen kann nur funktionieren, wenn man miteinander und nicht gegeneinander agiert.“ Im Prinzip spricht Trinogga dabei für zwei weitere deutsche Kassen mit. Auch die Barmer Ersatzkasse und die Technikerkrankenkasse sind im Brandenburgischen mit betroffen. Die Hauptlast fällt freilich der AOK auf die Füße. Die Sache hat aber noch einen anderen Haken. Er ist, um im Bild zu bleiben, fast noch gekrümmter als die Berechnungen der Krankenkassen, tangiert diese aber nicht, weil anfallende Rechnungen privat bezahlt werden. Der „Märkischen Oderzeitung“ sagte der Schwedter Klinikmanager Jürgensen, etwa 170 Frauen (nicht nur aus Westpolen) kämen im Jahr in seine Klinik zum Schwangerschaftsabbruch.

Hier legal, da illegal

Abtreibungen stehen nach der politischen Wende in Polen seit 1993 wieder unter strengen Strafen, zwar nicht für die Frauen, aber für die durchführenden Ärzte, die hohe Geldstrafen oder gar ein Berufsverbot zu gewärtigen haben, wenn sie ertappt werden.

Abgebrochen werden darf eine Schwangerschaft im Nachbarland nur aus wenigen Gründen, beispielsweise wenn sie als Folge einer Vergewaltigung zustande gekommen ist, wenn die Schwangerschaft die werdende Mutter gefährdet oder beim Fötus Missbildungen zu fürchten sind. Hoffen darf man, dass die verletzlichen deutschpolnischen Beziehungen nicht auch noch an dieser Stelle unter Irritationen zu leiden haben. Divergenzen im Abtreibungsrecht riechen geradezu nach dem Stoff, aus dem nicht selten die Storys von „Radio Maria“ sind, einem populären, erzkatholischen Radiosender jenseits der Oder. Er ist schon mehrfach nicht vor Beiträgen zurückgeschreckt, die der grenzüberschreitenden Verständigung eher abträglich waren. Beide Seiten haben es eh nicht leicht, ihre mitunter übernervösen Pferde in Zaum zu halten.

In Deutschland entscheidet über einen Schwangerschaftsabbruch letztendlich allein die werdende Mutter. Sie ist aber verpflichtet, sich beraten zu lassen und muss nach der Beratung mindestens drei Tage Bedenkzeit einlegen, bevor sie sich für den Eingriff entscheidet. Überdies löhnt sie dafür in Schwedt beispielsweise runde 400 bis 500 harte Euro aus der Privatschatulle. Eine der Mitarbeiterinnen von „Pro Familia“, einer Institution, die in Fragen der Verhütung, Schwangerschaft und Elternschaft unter dem Motto „Für selbstbestimmte Sexualität“ republikweit Bundesbürger – und wie sich jetzt herausstellt auch deren Gäste – berät und auch in Schwedt präsent ist, erzählte voller Stolz, kürzlich sei eine von ihr zuvor betreute Polin in Frankfurt an der Oder auf sie zugelaufen, habe ihr freudestrahlend und dankbar mitgeteilt, sie habe sich nach der Beratung für ihr Kind entschieden.

Zweifelsohne findet in diesem Einzelfall die Geschichte über den kleinen gynäkologischen Grenzverkehr nicht nur ein gutes polnisches, sondern überdies ein gutes katholisches Ende.

Rudi Mews/Gesundheits-Informationsdienst

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