Die Freiheiten bleiben
Nach dem Scheitern der EU-Verfassung, deren Ratifizierungprozess aufgrund des negativen Referendums in Frankreich am 29. Mai 2005 zunächst ausgesetzt wurde, und nach dem „Nee“ der Niederländer am 1. Juni 2005 ganz gestoppt wurde, war die Europäische Union gezwungen, die nach ihrer Erweiterung um zwölf neue Mitgliedstaaten nahezu unsteuerbaren Entscheidungsprozesse grundlegend zu reformieren.
Durch die Reform soll die Union auf der einen Seite die Fähigkeit erhalten, in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts besser als einheitlicher aktiver Gestalter auftreten zu können. Auf der anderen Seite soll sie nach innen handlungsfähiger, demokratischer, bürgernäher und insgesamt wettbewerbsfähiger werden. Nach einer Phase der Reflexion über die Gründe des Scheiterns der EUVerfassung, die als „Denkpause“ – spöttisch aber auch als „Pause vom Denken“ – bezeichnet wurde, und nach einer weitgehenden Entschlackung des Verfassungsentwurfes von symbolischen Attributen wie Hymne, Fahne und insbesondere der staatsrechtlich irreführenden Bezeichnung „Verfassung“, unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs am 13. Dezember 2007 in der portugiesischen Hauptstadt den EU-Reformvertrag als „Vertrag von Lissabon“.
Zwei Grundlagenverträge
Im Gegensatz zur Verfassung, die den Vorteil eines einheitlichen Dokumentes geboten hätte, besteht der Reformvertrag aus zwei rechtlich gleichrangigen Grundlagenverträgen. Zum einen gibt es den bisherigen Vertrag über die Europäische Union (EUV), der in seinem Titel beibehalten, aber inhaltlich modifiziert wird. Zum anderen besteht er aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) der nun in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt und ebenfalls modifiziert wird. Weiterhin werden die Verträge um elf neue Protokolle ergänzt, die primärrechtlichen Status haben.
Herz des Vertrages von Lissabon ist die Reform der Institutionen sowie der Entscheidungsverfahren, die diese zu mehr und neuer Handlungsfähigkeit führen sollen. So wird dem Europäischen Rat zukünftig ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident vorsitzen, der in Kombination mit der bereits praktizierten Teampräsidentschaft für mehr Kontinuität und Kohärenz im Handeln des Rates sorgen soll. Ebenso gestärkt wird die Rolle des Kommissionspräsidenten, der zukünftig direkt vom Parlament gewählt wird. Er wird ab 2014 einer verkleinerten Kommission vorstehen, in die dann nach einem strengen Rotationsprinzip nur noch jeweils zwei Drittel der Mitgliedstaaten einen Kommissar entsenden können. Dem Kommissionspräsidenten wird als Vize-Präsident der „Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ zur Seite stehen, der die Funktionen des bisherigen EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars bündelt.
Mehr Mitspracherechte
Um auch die Entscheidungsprozedur zu modernisieren, wurden die Rechtsetzungsverfahren wesentlich entschlackt und gleichzeitig dem Europäischen Parlament mehr Mitspracherechte zugebilligt. Die bisherigen vier Verfahren (Mitentscheidungs-, Zusammenarbeits-, Anhörungs- und Zustimmungsverfahren) werden auf zwei reduziert.
Einerseits ist dies das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“, welches weitgehend dem bisherigen Mitentscheidungsverfahren gleicht und im Regelfall zur Anwendung kommt. Andererseits ist dies das „besondere Gesetzgebungsverfahren“, zum Beispiel die Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch ein Legislativorgan, das heißt, Europäisches Parlament oder Rat, wobei die Beteiligung des jeweils anderen Organs in der entsprechenden Bestimmung des Vertrages geregelt wird. Dieses Verfahren wird unter anderem im Bereich der Sozialpolitik (ex-Artikel 137, jetzt 153 EGV) zur Anwendung kommen, wenn die Union zum Schutz der Arbeitnehmer die Mitgliedstaaten in Fragen der sozialen Sicherheit unterstützt.
Mit dieser Neuordnung und der Einführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens avanciert das Europäische Parlament praktisch zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber, wodurch die demokratische Legitimität der Union erhöht wird und die Möglichkeiten, gesundheitspoltische Entscheidungen zu beeinflussen, vergrößert werden.
Parlamente gestärkt
Aber auch die nationalen Parlamente werden mit dem Reformvertrag gestärkt. Sie erhalten mit Artikel 5 EUV in Verbindung mit dem Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eine möglicherweise machtvolle Waffe, gegen Gesetzesvorhaben der Union vorzugehen, wenn sie der Meinung sind, die Zuständigkeit der Union sei überschritten.
Damit sie dieses Recht wahrnehmen können, muss die Kommission ihnen künftig Gesetzgebungsakte und ihre geänderten Entwürfe neben dem Unionsgesetzgeber auch zuleiten. Die nationalen Parlamente oder die einzelnen Kammern können dann binnen acht Wochen Einspruch erheben, wenn sie ihre Zuständigkeit missachtet sehen.
Für das Gesundheitswesen, das in Deutschland in vielen Bereichen in die Kompetenz der Länder fällt und in dem die Union ohnehin nur nachrangig und sehr eingeschränkt tätig werden darf, bedeutet dies, dass der Bundesrat ohne die Mitwirkung der Bundesregierung prüfen lassen kann, ob etwa die derzeit in Brüssel geplanten Europäischen Referenzzentren für (seltene) Krankheiten nicht doch zu weitgehend in die Kapazitätsplanung und den Sicherstellungsauftrag der Länder eingreifen, und gegebenenfalls – sollte es der Wille der Länder sein– entsprechende Rechtsakte verhindern, zumindest aber weiter verlangsamen. Während die institutionellen Neuordnungen im EU-Vertrag das Gesundheitswesen nur sehr indirekt berühren und allenfalls über den Umweg der erweiterten Möglichkeiten der politischen Interessenvertretung durch Verbände und Standesorganisationen zu Veränderungen in den nationalen Rahmenbedingungen führen könnten, ist zu prüfen, ob die Änderungen ordnungspolitisch für das Sozial- und Gesundheitswesen einen weitreichenderen Einfluss haben.
Gesundheitsschutz
Hierzu gebührt der erste Blick Artikel 168 AEUV (ex-Artikel 152 EGV), der auch weiterhin mit dem Titel „Gesundheitswesen“ nur eine mäßige und wenig treffenden Übersetzung des englischen Begriffes „public health“ hat. Ziel der EU-Gesundheitspolitik ist auch künftig die Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus bei allen Maßnahmen der Union. Dabei spricht sie statt der „Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Gesundheit“ in Zukunft spezifisch von der „körperlichen und geistigen Gesundheit“. Diese Änderung hatte bereits in die operative Politikgestaltung der Kommission in Form der Grün- und Weißbücher für „Geistige Gesundheit“ und „Gesunde Ernährung und sportliche Aktivität“ Eingang gefunden.
Bedeutender als diese kleine Änderung scheint jedoch die nunmehr primärrechtlich „legalisierte“ Einbeziehung der „offenen Methode der Koordinierung“ im Gesundheitswesen. In Zukunft soll die Kommission auch im Bereich der Gesundheitspolitik die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit dieser bereits aus den Sozialvorschriften (ex-Artikel 137 EGV) bekannten Methode der Koordinierung fördern. Dazu erhält die Kommission die Möglichkeit, Initiativen zu ergreifen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten. Das Europäische Parlament muss davon jedoch nur in vollem Umfang unterrichtet werden, eine explizite Einbeziehung ist nicht vorgesehen.
Die Offene Methode der Koordinierung ist zwar nicht ausdrücklich als eigene Handlungsform der EU im Vertrag von Lissabon definiert. Die in Artikel 168 AEUV enthaltene Formulierung stellt dennoch eine genaue Umschreibung der Methode dar. Zudem geht das neu definierte Initiativrecht der EU-Kommission über die bislang bloße Koordinationsfunktion hinaus.
Ärztliche Freiheit bleibt
In der praktischen Politikgestaltung wurde die Offene Methode der Koordinierung bisher dazu angewandt, unter Zurhilfenahme von überwiegend Struktur- und Prozessindikatoren outcome-orientierte Gesundheitssystemvergleiche zu kreieren und so die Mitgliedstaaten zu Reformen und letztendlich auch zur Harmonisierung ihrer Gesundheitssysteme zu veranlassen. Nicht verstanden werden kann die Formulierung „...Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind, insbesondere Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen…“ dahingehend, dass die Kommission nun das Recht erhält, konkrete und damit die ärztliche Freiheit einschränkende Behandlungs- und Qualitätsstandards auf der europäischen Ebene zu formulieren und national als verbindlich zu erklären. Dies ist weiterhin begrenzt auf die Bereiche der Organe, Blut und Blutprodukte sowie Arzneimittel- und Medizinprodukte.
Auch das neue Recht der Kommission (Absatz 6), Fördermaßnahmen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Krankheiten und zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch durchzuführen, wird keinen Einfluss haben auf die nationalen Akteure im Gesundheitswesen. Hierfür sorgt auch weiterhin die Formulierung (Absatz 7), dass „die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel“ in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten bleibt.
Soziale Elemente
Verlässt man die rein auf Gesundheitspolitik zentrierte Ebene und öffnet den Fokus wieder, um sich dem Spannungsfeld von Wettbewerbs- und Sozialpolitik zuzuwenden, dann fällt auf, dass der neue Vertrag deutlich mehr sozial orientierte Elemente hat. Zwar wird die Kernidee des einheitlichen und freien Binnenmarktes nicht in Frage gestellt, und sowohl die Niederlassungsals auch die Dienstleistungsfreiheit bleiben inhaltlich unverändert. Aber der noch im Verfassungsentwurf enthaltene Vorschlag, das Ziel eines „Binnenmarktes mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ im Artikel 3 EUV zu verankern, wurde gestrichen und taucht nunmehr nur noch im Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb auf. Stattdessen wurde der von Ludwig Erhard geprägte Begriff der sozialen Marktwirtschaft mit Vollbeschäftigung als Ziel festgelegt.
Seinen Niederschlag findet dies unter anderem in der nunmehr primärrechtlichen Verankerung der Mitspracherechte der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände) auf europäischer Ebene. Auch wenn die genaue Form der Beteiligung der Sozialpartner über den Sozialgipfel hinaus noch bestimmt wird, so führt allein die Verankerung dieser Rechte zu einer hervorgehobenen und privilegierten Stellung.
Mehr Freizügigkeit
Eine weitere und insbesondere für die Dienstleistungsmobilität der freien Berufe interessante Änderung ist die Ausdehnung der bisher nur für Arbeitnehmer geltenden Freizügigkeitsregeln. In die primärrechtliche Grundlage für die „Wanderarbeitnehmerverordnung“ werden jetzt auch die Selbstständigen einbezogen. Damit muss die Europäische Gemeinschaft unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung nun einen Rechtsrahmen schaffen, der es auch den Selbstständigen erlaubt, ihre obligatorischen Versorgungssysteme bei der Niederlassung oder der vorübergehenden Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt zu bekommen. Eher von ordnungspolitischem Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass die bisherige Einstimmigkeit im Rat durch die qualifizierte Mehrheit ersetzt wurde.
Abschließend ist zu erwähnen, dass der bisherige Artikel 16 EGV, der den Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eine privilegierte Stellung sicherte, sich im Vertrag von Lissabon in leicht geänderter Form in Artikel 14 AEUV wiederfindet. Neu ist hingegen das Protokoll 26 über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Das Protokoll enthält die Auslegungsgrundsätze und gemeinsame Werte, die bei der Bereitstellung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als gemeinsame Basis dienen.
Ermessensspielraum
Die Organisation der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wird weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Damit werden zum ersten Mal im europäischen Recht die Zuständigkeit und der weite Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei Definition und Organisation der entsprechenden Dienstleistungen festgehalten. Uneingeschränkte Anwendung finden jedoch nach wie vor die EU-Wettbewerbsregeln und die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge. Die Auftragsvergabe und Organisation nichtwirtschaftlicher Dienste von allgemeinem Interesse wird nach dem Protokoll jedoch ausdrücklich den Mitgliedstaaten zugewiesen. Was dies für das Gesundheitswesen bedeutet, lässt sich bisher schwer abschätzen, da die Grenzlinie zwischen den beiden Formen der Dienste von allgemeinem Interesse durch die Definition der Mitgliedstaaten gezogen wird und über die Richtigkeit dieser Definition und die korrekte Anwendung der Wettbewerbsregeln der Europäische Gerichtshof entscheidet.
Fazit
Fasst man den Vertrag von Lissabon zusammen, so stellen die Änderungen im institutionellen Gefüge den Schwerpunkt des Vertrages dar. Mit ihnen sollte es der Union der 27 gelingen, auch zukünftig handlungsfähig zu bleiben. Hervorzuheben und von der Politik noch deutlich den Bürgern der EU zu vermitteln ist der Zuwachs an Demokratie und Mitentscheidung beim Europäischen Parlament. Dies ist zwar immer noch weit entfernt von den Rechten eines Deutschen Bundestages, doch der nun beschrittene Weg kann wesentlich zu einer größeren Akzeptanz und einem größerem Verständnis von Europa beitragen.
Beurteilt man die Änderungen im Vertrag von Lissabon aus dem Blickwinkel des Gesundheitswesens im allgemeinen und aus dem der Gesundheitsberufe im speziellen, so muss man nüchtern feststellen, dass sich primärrechtlich keine nennenswerten Veränderungen ergeben haben, die die bestehenden Freiheiten und Rechte einschränken oder erweitern. Relevanter dürften hier die angekündigte Richtlinie für Patientenrechte und das Grünbuch über Gesundheitsberufe in Europa werden.
Aber bevor es dazu kommt, muss der Vertrag von Lissabon noch von allen 27 EUMitgliedstaaten ratifiziert werden, damit er zum 1. Januar 2009 rechtzeitig vor den nächsten EU-Parlamentswahlen in Kraft treten kann. Bislang haben elf Staaten, unter ihnen Frankreich, an dessen Nein beim Volksentscheid die EU-Verfassung scheiterte, den neuen Vertrag gebilligt. Auch Deutschand hat bereits zugestimmt, Estland könnte folgen. Die große Unbekannte ist jedoch Irland. Hier muss gemäß der Verfassung ein Volksentscheid durchgeführt werden. Derzeit sprechen sich nach Meinungsumfragen nur 28 Prozent der Bevölkerung für den neuen Vertrag aus, 60 Prozent sind immer noch unentschieden. Am 12. Juni, dem Tag des Irischen Referendums, könnte also erneut alles zu Ende sein.
Dipl.-Ök. Malte Enderlein, MPHReferent für europäische GesundheitspolitikDeutsche SozialversicherungEuropavertretungRue d’Arlon 50B-1000 Brüssel
• Der Artikel gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.