Gesundheitsfonds

Kassensturz

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Für Angela Merkel ist er „das wichtigste Projekt der Legislaturperiode.“ Für Ulla Schmidt „die einzige Lösung , um Finanz- und Strukturprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung längerfristig solidarisch zu lösen.“ Alle anderen sagen: teuer, kompliziert und unsinnig. Dennoch bleibt die Frage: Was bringt der Gesundheitsfonds?

Am 7. Oktober traf das Kabinett eine Entscheidung, die das Gesundheitssystem in Deutschland nachhaltig verändern wird: Es billigte den Koalitionsbeschluss, den gesetzlichen Krankenkassenbeitrag ab 2009 einheitlich auf 15,5 Prozent festzuschreiben.

Ein politisch festgelegter Satz für die GKV? Bisher entschieden die Kassen selbst, wie viel sie von ihren Mitgliedern verlangen. So viel Staat gab es in unserem Gesundheitswesen noch nie, waren sich denn Arbeitgeber, Gewerkschaft, Ärzte und Kassen überraschend einig. Niemals zuvor formierte sich ein so ungleiches Bündnis, um gegen die geplanten Eingriffe zu protestieren. Genauer: Um Fonds und Einheitssatz doch noch abzuwenden. Ohne Erfolg. Bislang.

Trotzdem stockt das Unterfangen: Zu einer gemeinsamen Empfehlung konnte sich sich der Schätzerkreis, bestehend aus GKVSpitzenverband, Bundesversicherungsamt (BVA) und BMG, nicht durchringen. Hielten die Regierung und das BVA 15,5 Prozent für akzeptabel, beharrten die Kassen auf 15,8 Prozent, um ihre Ausgaben zu decken. Am Ende setzte sich die „Mehrheitsmeinung“ von Ulla Schmidt durch. 15,5 Prozent – das sei genug, dieser Satz könne „auch 2010 stabil bleiben“, meinte die Bundesgesundheitsministerin. Und pries ihr Werk erneut als wegbereitend für eine „nachhaltige Gesundheitspolitik“. Schließlich müssten die Menschen „auf jeden Euro schauen“.

Der Fonds sei so ausgestattet, dass 100 Prozent der Ausgaben gedeckt sind. Es bestehe für die Kassen daher kein Anlass, Zusatzbeiträge zu erheben. Ihnen stünden nach einvernehmlicher Schätzung im nächsten Jahr über zehn Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Schmidt: „Das muss reichen.“ Dass die GKV derzeit versuche, so viel Geld wie möglich herauszuholen, sei verständlich. Aber: „Die Kassen sind keine Sparkassen, die Kapital bunkern, um es zu verleihen!“ Das Geld der Versicherten müsse effizient und sparsam eingesetzt werden – das sei die Pflicht der Kassenmanager, dafür würden sie von den Versicherten bezahlt. Auch Angela Merkel ist der Überzeugung, dass die Kassen keinen Extra-Obolus einzuziehen brauchen. Die Kanzlerin erwarte vielmehr, dass diese von der Möglichkeit der Beitragsrückerstattung Gebrauch machen.

15,5 Prozent. Ganze 0,6 Prozentpunkte liegt dieser Satz über dem durchschnittlichen Kassenanteil heute. Neun von zehn Beitragszahlern müssen damit ab 2009 für ihre Gesundheit deutlich tiefer in die Tasche greifen – im Mittel bis zu 399 Euro pro Jahr. Für die Mitglieder der Günstigkassen kommt es noch dicker: Sie zahlen bis zu 678 Euro mehr, errechnete der „Focus“. Kunden geschlossener Kassen können sich auf Mehrbelastungen von fast 800 Euro einstellen. Mehr Leistung gibt es dafür nicht.

Und dann wären da noch die Zusatzbeiträge. Geringverdiener haben Anspruch auf Nachlass, falls die Prämie die Acht-Euro-Grenze übersteigt. Ansonsten darf eine Kasse künftig monatlich bis zu 36 Euro extra verlangen, wenn sie mit dem Geld aus dem Fonds nicht hinkommt. Das ist happig – für die Versicherten wie für die Kassen. Nicht alle blicken deshalb so positiv in die Zukunft des Gesundheitswesens wie Schmidt und Merkel.

Ein politischer Beitrag

Einer, der eher düstere Aussichten prognostiziert, ist Ärztepräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. Wer selbst in Zeiten einer globalen Finanzkrise den einheitlichen Beitragssatz für unveränderlich erklärt, nehme Defizite in der Patientenversorgung bewusst in Kauf, sagt er. Das Zustandekommen des einheitlichen Beitragssatzes sei auch ein Indiz dafür, dass bei der Bewertung des Finanzierungsbedarfs die tatsächlichen Versorgungserfordernisse nur eine untergeordnete Rolle spielen. Hoppe: „Die Regierung legt nach wirtschaftlicher Opportunität und haushaltspolitischer Machbarkeit fest, wie viel Geld für die Versorgung der Patienten ausgegeben werden darf.“ Damit hänge die Versorgung der Patienten künftig vom Spardiktat der Finanzpolitiker ab.

Dass in die Beitragsfestsetzung politische Kriterien eingeflossen sind, kommt für Kassenchefin Doris Pfeiffer nicht überraschend: „Die Lohnnebenkosten sind ein wichtiges Thema.“ Was der Spitzenverband der Krankenkassen generell beklagt ist: Der Fonds löse einfach keine Probleme, sondern erzeuge neue. Denn im Wettbewerb seien die Kassen gezwungen, freiwillige Serviceleistungen einzuschränken und sich mit mehr Bürokratie herumzuschlagen, während die Finanzierung alles andere als stabil sei.

Hintergrund: Mit dem Fonds müssen die gut 200 Krankenkassen für ihre Mitglieder insgesamt 46 Millionen Einzelkonten einrichten, um eventuell anfallende Prämien einzuziehen, anzumahnen, abzurechnen. Hinzu kommt eine Aufschlüsselung nach Diagnosen, Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand. Das klingt nicht gerade nach einem Durchgangsvermerk, oder? Denn – wir erinnern uns – Geld gibt es in erster Linie für Kranke. Kritiker befürchten daher, künftig könnte es sich für die Kassen nicht mehr lohnen, in die Prävention zu investieren.

Krank ist gut

„Nur ein kranker Versicherter ist im neuen System ein guter Versicherter“, bestätigte Christoph Straub von der Techniker Krankenkasse. Jagten sich die Kassen früher gegenseitig die Jungen, Gesunden ab, sind angeschlagene Mitglieder jetzt so lukrativ wie nie – vorausgesetzt, die Diagnose stimmt.

„Wir haben überhaupt kein Interesse an hohen Beitragssätzen“, stellte Kassenchefin Doris Pfeiffer klar: „Aber wir haben ein Interesse daran, dass die Kosten gedeckt sind.“ Und da haben wir den Knackpunkt. „Wenn die Regierung den Einheitsbeitrag über Jahre festschreibt und die Krankenkassen deshalb zunehmend über Zusatzbeiträge finanziert werden müssen, erreicht man Stabilität in der Statistik, aber nicht in den Portemonnaies der Versicherten“, sagte sie in den Medien. Die Frage ist ja: Reicht ein Beitrag von 15,5 Prozent aus, um die zusätzlichen Ausgaben der GKV für die Kliniken (plus drei Milliarden Euro), Arzthonorare (plus 2,7 Milliarden Euro) und Arzneimittel (plus mindestens 2,4 Milliarden Euro) aufzufangen? Die Kassen sagen nein. Sie halten dafür die Mehreinnahmen von zehn Milliarden Euro für zu wenig. Aber auch die Mediziner äußern Bedenken: Setzt man den einheitlichen GKV-Satz zu niedrig an, bestehe die Gefahr der verdeckten Rationierung. Der Kassenleistungskatalog sei dann nämlich im Verhältnis zum Finanzsäckel zu umfangreich.

Falsch, erklärte Schmidt. „Wichtig für die Schätzung der Einnahmeseite ist die Beschäftigung und die Entwicklung der Löhne, Gehälter und Renten.“ Hier seien ein leichter Rückgang der Beschäftigung 2009 und eine Veränderung der Lohn- und Gehaltssumme einkalkuliert worden.

Ulla Jekyll und Mrs. Hyde

Nach Informationen des „Spiegel“ braucht der Gesundheitsfonds aber bereits im ersten Jahr eine zusätzliche Finanzspritze. Dies geht ausgerechnet aus einer Antwort von Ulla Schmidt auf die Anfrage der Grünen- Fraktion im Bundestag hervor. Dieselbe Ulla Schmidt, die behauptet, die Kosten seien 100-prozentig gedeckt, erwidert nun, auch der Fonds könne unverzinsliche kurzfristige Liquiditätsdarlehen des Bundes aufnehmen, wenn „die Liquiditätsreserve (noch) nicht ausreicht“, um Einnahmeschwankungen aufgrund von Arbeitsmarktveränderungen während des Jahres auszugleichen. Wird davon Gebrauch gemacht, heißt es dort, könnten nach „derzeit groben Schätzungen im Spätsommer/Herbst 2009 für einige Wochen kurzfristige Liquiditätsdarlehen in einer Größenordnung von bis zu einer Milliarde Euro erforderlich werden“.

Dass viele Versicherungen schon im kommenden Jahr vor der Insolvenz stehen, erwartet der Erfinder des Gesundheitsfonds, Ökonom Wolfram Richter. Gefährdet seien vor allem Kassen, die sich nicht auf die neue Situation einstellten, und vor allem kleinere, regionale Kassen. „Die werden alleine nicht überleben.“ Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sieht ebenfalls das „große Sterben der Betriebskrankenkassen“ voraus. „Es gibt extrem viele Unsicherheiten“, pflichtet Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem bei. Er ist deshalb für eine Verschiebung. „Klar ist, dass einige Kassen nach wenigen Monaten mehr Geld brauchen werden. Wer heute 16 Prozent Beitrag hat, kommt mit dem Einheitssatz nicht hin.“ Zusatzbeiträge seien bereits absehbar, glaubt auch Verdi. Zugleich sei mit einer verstärkten Fusion, aber auch der Schließung von Krankenkassen zu rechnen, was den hochwertigen und wohnortnahen Service für die Versicherten gefährde. „Ich bin dafür, den Fonds zu verschieben, weil man nicht weiß, wie er die Kassen mit Geld ausstattet“, gab auch KBV-Chef Dr. Andreas Köhler zu bedenken. „Möglicherweise gehen einige pleite, und wir Ärzte bleiben auf den Rechnungen sitzen.“

Nach der neuen Insolvenzregelung, die 2010 greifen soll, können sogar AOKen und regionale Versicherungen bankrott gehen. Bislang waren nur Kassen unter Bundesaufsicht wie die Barmer, die TK oder DAK insolvenzfähig. In Zukunft haften dann bei einer Pleite von Kassen, die unter Landesaufsicht stehen, nicht mehr die Länder. Stattdessen sollen die Krankenkassen der jeweiligen Kassenart einspringen oder notfalls andere Kassen aushelfen.

Kassen fürchten Overkill

Vor einem drohenden Finanzchaos warnt darum DAK-Chef Herbert Rebscher. Die Krankenkassen müssten jetzt entscheiden, ob sie eine Zusatzprämie nehmen oder nicht – die dafür nötige Kalkulationsbasis erhielten sie aber erst später. Derzeit wisse keine Kasse, mit welchen Einnahmen sie im nächsten Jahr aus dem Fonds rechnen könne. „Auch kleine nachträgliche Korrekturen können die ganze Kalkulation einer Kasse auf den Kopf stellen“, sagte Rebscher. Selbst wenn die Schätzungen nur um zwei Prozent von der Realität abweichen, „würde das den Unterschied zwischen einer Zusatzprämie von fünf Euro oder einer Rückzahlung von fünf Euro bedeuten“. Gehe die Konjunktur wie absehbar in den Keller, fehlten zusätzliche Finanzmittel. Auf dieser Grundlage könne keine Kasse seriös kalkulieren. Alle hätten aber den starken Anreiz, keinesfalls als erste eine Zusatzprämie zu erheben. Der Meinung ist auch Lauterbach: Zusatzbeträge „werden sie vermeiden, weil ihnen sonst die Mitglieder davonlaufen.“

Hoppla – Wachstumsdelle

Hätte denn eine Wachstumsdelle Auswirkungen auf die Versicherten, insbesondere auf deren Beitragslasten? Ja – verkündet das neu geschaffene„Bündnis für finanzielle Stabilität im Gesundheitswesen“. Und verlangt, auf den Einheitsbeitrag zu verzichten. Der Finanzpool werde zu knapp ausfallen, weil der Beitragssatz von 15,5 Prozent auf Grundlage eines Wachstums von 1,2 Prozent errechnet worden sei, argumentiert die Allianz aus Altpolitikern, Kassenchefs und Koryphäen aus Gesundheitspolitik und Medizin. Mit Blick auf die Wachstumsflaute seien deshalb schon Mitte 2009 flächendeckende Zusatzbeiträge zu befürchten.

Nach Einschätzung der Regierung sind die Krankenkassen freilich vorerst krisenfest: Ein schwerer Einbruch der Konjunktur hätte nach ihrer Einschätzung nur mittelbare Auswirkungen auf die Finanzierung der GKV. Gesundheitsstaatssekretärin Marion Caspers- Merk (SPD) zufolge hingen die gesetzlichen Kassen „weniger von den DAX-Werten ab.“

Als unverantwortliche „Rechenschieberpolitik“ kanzelte indes der DGB die Kalkulation der Koalition ab. In einem Brandbrief an die Bundestagsabgeordneten kritisierte er die Auswirkungen der Reform und forderte sie eindringlich auf, jene „Schieflage bei der Finanzierung des Gesundheitswesens“ noch vor Januar zu korrigieren. Bezahlbarkeit sei auch ohne allgemeinen Beitragsanstieg machbar, wenn man den Steuerzuschuss für die Krankenversicherung von Hartz-IV-Empfängern in angemessener Weise erhöht. Eine Kompensation steigender Beiträge durch die Absenkung der Beiträge zur Bundesagentur für Arbeit lehnt der DGB indes entschieden ab. Ein Anstieg der Sozialabgaben sei vermeidbar, ohne die Arbeitslosenkasse in Turbulenzen zu bringen.

Auch Gesundheitsökonom Wasem zerlegt die Berechnungen der Regierung: Liegen die pauschalen Zuweisungen an die einzelnen Kassen vor, haben diese nach geltendem Recht auch Anspruch darauf. Fallen ihre Ausgaben höher aus, müssten die Kassen gegebenenfalls Zusatzbeiträge erheben. Ist aber die Einnahmeseite des Fonds geringer als erwartet, geht das zu Lasten des Bundes, erläuterte Wasem: „Das Risiko trägt also der Steuerzahler!“ Der Bundesverband der Arbeitgeberverbände rügt ebenfalls, der Fonds sei, anders als von der Regierung behauptet, nicht geeignet, eine wirtschaftliche Verwendung von Beitrags- und Steuergeldern zu garantieren. Die Probleme des Gesundheitswesens würden nicht gelöst, die erforderlichen Strukturreformen seien unterblieben.

Von wegen Einheitsbeitrag

Alles in allem sieht die Lage der Kassen am Markt natürlich unterschiedlich aus. Die Techniker Krankenkasse gilt zum Beispiel als eine Kasse mit besonders gesunden Versicherten. Ihre Mitglieder zahlen nun deutlich mehr – 15,5 statt bislang 14,7 Prozent inklusive Sonderbeitrag. Die TK hat aber vom Morbi RSA wenig. Tendenziell fließt eher Geld von dort ab zu Kassen wie den AOKen, die viele Alte und Kranke versichern.

Inzwischen haben einige Krankenkassen angekündigt, ihren Mitgliedern einen Teil des Beitragssatzes zurückzugeben. So hat die Knappschaft Bochum, die mit 1,5 Millionen Versicherten zu den großen Kassen zählt, sich dieses umstrittene Ziel gesetzt. Ähnlich äußerten sich auch mehrere Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie die Direktkasse BIG. Mit einem Aufschlag kalkuliert dagegen die BKK BVM.

Der AOK-Vorsitzende Hans-Jürgen Ahrens verlangt angesichts dessen ein Sparpaket: Erstens sollte der Herstellerrabatt, den Pharmafirmen den Kassen gewähren müssen, auf 16 Prozent erhöht werden. Dies bedeute bis zu einer Milliarde Euro an Einsparungen . Zweitens müsse die Politik dafür sorgen, dass es im stationären Bereich bei Mehrausgaben von maximal 3,5 Milliarden Euro bleibe. Und drittens sollten die Kassen endlich einen angemessenen Beitrag für die bei ihnen krankenversicherten Arbeitslosen erhalten.

Die Ministerin lehnt sich derweil zurück: Rückt die Bürgerversicherung doch mit dem Fonds wieder ein Stück näher. Und auch für die Union wird die Kopfpauschale greifbarer. „Es gibt keinen Grund, so zu tun als könnten Leistungen nicht bezahlt werden“ entgegnet Schmidt gelassen. „Ich kann Versicherten nur sagen, wenn Ihre Kasse das tut, wechseln Sie. Es gibt genügend andere.“

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