Fortbildungsteil 1/2009

Die Problematik der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

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Die MIH (Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation) wird definiert als systemisch bedingte Hypomineralisation von ein bis vier bleibenden ersten Molaren, häufig assoziiert mit den oberen Inzisiven [Weerheijm et al., 2001]. Je mehr Molaren betroffen sind, desto größer ist die Gefahr, dass die oberen Schneidezähne auch Defekte aufweisen. Literaturangaben zur Prävalenz der MIH schwanken.

Die Häufigkeit wird in den nordischen Ländern mit 10 bis 19 Prozent angegeben. Im deutschsprachigen Raum liegt die Prävalenz der Erkrankung mit 4 bis 6 Prozent deutlich niedriger, wobei eine steigende Tendenz zu beobachten ist [Koch et al., 1987; Jalevik et al., 2001; Dietrich et al., 2003].

Ätiologie

Die Ätiologie der MIH ist bis dato nicht geklärt. Da die Amelogenese der ersten Molaren und der Inzisivi zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, muss die Störung in dieser Zeitspanne aufgetreten sein. Insbesondere während der ersten zehn Lebensmonate und zwischen zweieinhalb und fünf Jahren besteht für die Odontogenese eine auf metabolische Störungen sehr anfällige Periode [Schroeder, 2000]. Als mögliche Ursachen werden in der Literatur unter anderem diskutiert: Dioxinbelastung der Muttermilch, Probleme im letzten Monat der Schwangerschaft, Frühgeburten, respiratorische oder bläschenbildende Erkrankungen in den ersten beiden Lebensjahren sowie verlängertes Trinken aus Plastiktrinkflaschen [Koch et al., 1987; Jalevik & Noren, 2000; Weerheijm et al., 2003; Behrendt et al., 2004].

Der klinische Befund

Betroffen sind nur die ersten bleibenden Molaren und die Inzisiven, wobei innerhalb einer Dentition beträchtliche Unterschiede bestehen. Meist sind die Sechsjahr-Molaren häufiger und ausgeprägter betroffen als die Schneidezähne. Die Oberkiefer-Schneidezähne sind wiederum eher befallen als die unteren [Leppaniemi et al., 2001]. Sind jedoch die Unterkiefer-Frontzähne betroffen, so kann man davon ausgehen, dass sowohl die OK-Schneidezähne als auch die Molaren Hypomineralisationen aufweisen [Koch et al., 1987] (Abbildungen 1 und 2). Die Ausweitung der Mineralisationsstörung kann auf einen einzelnen Höcker beschränkt sein oder aber über die gesamte Glattfläche oder das Fissurenrelief bis hin nach zervikal reichen [Koch et al., 1987]. Die Defekte zeichnen sich klinisch durch eine Veränderung in der Transluzenz des Schmelzes aus. Sie können in ihrer Farbe weiß, creme, gelb oder braun sein. Einige erhalten ihre transluzente Oberfläche aufrecht, wogegen andere in ihrer Erscheinung opaker werden, sich in schwerere Defekte umwandeln und zum Schmelzverlust führen können [FDI, 1992]. Geringradig veränderte Zähne zeigen eher weiß-gelbliche oder gelb-braune, unregelmäßige Opazitäten im Bereich der Kauflächen und/oder Höcker. Schwere Hypomioneralisationsformen weisen abgesplitterte oder fehlenden Schmelz- und/oder Dentinareale unterschiedlichen Ausmaßes auf [Koch et al., 1987]. Je dunkler die Farbe, desto poröser ist der Zahnschmelz und desto höher ist die Gefahr des posteruptiven Substanzverlustes. Der hypomineralisierte Schmelz hat im Vergleich zu normalem Schmelz einen niedrigeren Gehalt an Kalzium und Phosphor, jedoch einen höheren Kohlenstoffanteil, wodurch die mechanische Belastbarkeit herabgesetzt ist. Schmelzabsprengungen unter normaler Kaubelastung sind oft die Folge, wobei die freiliegenden Dentinareale wiederum zu schnell fortschreitender Karies führen können [Dietrich et al., 2003; Weerheijm et al., 2003; Behrendt et al., 2004]. Röntgenologisch ist hypomineralisierter Schmelz dem Dentin sehr ähnlich. Mikroskopisch liegen Unregelmäßigkeiten der Schmelzstruktur in Form von veränderter Verdichtung und Ausrichtung der Mikrokristallite vor.

Hypomineralisationen an den Sechsjahr-Molaren können nach Wetzel und Reckel [Wetzel & Reckel, 1991] in drei Schweregrade von 1 (leicht) bis 3 (schwer) eingeteilt werden.

Schweregrad 1:Molaren mit Schweregrad 1 weisen einzelne weiß-cremige abgegrenzte Opazitäten im Bereich der Kaufläche und/oder der Höcker/des oberen Kronendrittels ohne Substanzverlust auf.

Schweregrad 2:Bei Schweregrad 2 erfassen die Opazitäten fast alle Höcker und das obere Kronendrittel mit geringem Substanzverlust.

Schweregrad 3: Dieser ist durch großflächige gelb-braune Verfärbungen mit Defekten der Kronenmorphologie aufgrund ausgeprägter Schmelzverluste gekennzeichnet. Alle Schweregrade können mit oder ohne Beteiligung der Schneidezähne auftreten. Die Verteilung auf die einzelnen Schweregrade ist annähernd identisch [Jalevik et al., 2001].

Diagnostik

Für die Diagnose der MIH ist der klinische Befund entscheidend. Anamnestische Angaben sind aufgrund der unklaren Ätiologie nur bedingt hilfreich. Differenzialdiagnostisch müssen folgende Krankheitsbilder in Betracht gezogen werden: Amelogenesis imperfecta, Dentalfluorose, Schmelzfehlbildungen durch Tetrazyklingabe, Trauma und apicale Entzündungen der Milchzähne (Turnerzahn) sowie Karies.

Die Amelogenesis imperfecta stellt eine hereditäre Schmelzentwicklungsstörung dar, bei der chemisch, quantitativ und/oder strukturell abnormer Schmelz gebildet wird, während die Dentinstruktur normal ist [Schroeder, 1991]. Im Gegensatz zur MIH sind bei der Amelogenesis imperfecta alle Zähne beider Dentitionen betroffen (Abbildung 3). Familienanamnese sowie strukturbiologische Daten erhärten die Diagnose der Amelogenesis imperfecta.

Dentalfluorose und Tetrazyklinbedingte Schmelzveränderungen sind wie die MIH systemisch bedingte Mineralisationsstörungen, die durch ihre symmetrische Verteilung gekennzeichnet sind. Die Störung wirkt sich auf die Zahnbereiche aus, welche sich im Stadium der Schmelz/Dentin-Bildung befanden. Für die Abgrenzung zur MIH sind die Anamnese und der klinische Befund entscheidend.

Die Dentalfluorose entsteht als Folge einer dauerhaft überdosierten systemischen Fluoridexposition während der Schmelzbildung und -reifung. Kennzeichnend sind weiße, opake Flecken und Streifen, die sich bei stärkeren Porositäten durch exogene Farbstoff-einlagerungen bräunlich verfärben können sowie die Akzentuierung der Perikymatien und das symmetrische Erscheinungsbild [Schroeder, 1991] (Abbildung 4).

Tetrazyklingabe während der Schwangerschaft und bei Kindern bis zum siebenten Lebensjahr führen im Milchund bleibenden Gebiss zu grauen und gelblichen Zahnverfärbungen und bei hoher Dosierung zu hypoplastischen Veränderungen des Schmelzes. Tetrazyklin bildet mit Kalzium einen Chelatkomplex, der während der Zahnhartsubstanzbildung irreversibel in den Schmelz und das Dentin eingelagert wird [Schroeder, 1991].

Schmelzbildungsstörungen aufgrund von Traumata zeichnen sich durch solitär auftretende, scharf begrenzte Mineralisationsstörungen infolge eines Unfalles während der ersten Dentition, insbesondere bei Intrusion aus. Betroffen sind vorwiegend die labialen Flächen der permanenten Schneidezähne. Die Defekte variieren von sichtbaren Opazitäten bis hin zu stark ausgeprägten Hypoplasien.

Turner-Zähne sind entzündlich bedingt und können durch eine periapikale Infektion des vorangegangenen Milchzahnes entstehen. Sie weisen eine typische Zahnkronenverformung mit gelblicher Zementauflagerung auf [Schroeder, 1991; Staehle & Koch, 1996]. Da es besonders häufig an den Milchmolaren und oberen Frontzähnen (NBS) zu einer apicalen Parodontitis kommt, sind vorwiegend die Prämolaren und bleibenden Schneidezähne betroffen.

Karies ist in der Regel durch die Lokalisation der Läsionen an den charakteristischen Prädilektionsstellen zu diagnostizieren. Oft kommt es jedoch an den hypoplastischen Zähnen durch vermehrte Plaqueakkumulation sekundär zu Karies, was die Diagnostik erschweren kann.

Therapiemöglichkeiten

Die Behandlung der Kinder mit MIH ist für den Zahnarzt oft sehr problematisch. Betroffene Zähne können sehr heiß- und kaltempfindlich sein. Auch ein Luftzug wird von einigen Patienten bereits als unangenehm empfunden. Betroffene Kinder berichten bei Durchbruch der Zähne bereits über Empfindlichkeit und Schmerzen. Die Mundhygiene ist of ungenügend. Häufig kommt es innerhalb kürzester Zeit zu progressiven Substanzverlusten und rasch voranschreitender Karies. Darüber hinaus kann die Compliance der jungen Patienten durch die Hypersensibilität eingeschränkt sein [Jalevik & Klingberg, 2002].

Hypomineralisierte Zähne reagieren schlechter auf eine Lokal-anästhesie, wodurch die Behandlung zusätzlich erschwert wird [Jalevik & Klingberg, 2002]. Patienten mit MIH sollten deshalb frühzeitig einer umfassenden Betreuung mit engmaschigem Recall-Programm zugeführt werden. Die Therapie erstreckt sich über den Bereich der Intensivprophylaxe bis hin zu restaurativen Maßnahmen (je nach Schweregrad der Hypomineralisation). Für die Intensivprophylaxe werden folgende Maßnahmen empfohlen: regelmäßige Zahnreinigungen und Mundhygieneanleitungen, die Applikation von Fluoridund CHX-Präparaten sowie die Desensibilisierung mit einem Dentinadhäsiv oder einem Versiegler und Fissurenversieglungen.

Fissurenversiegelungen können in leichten Fällen die Hypersensibilität verringern, in schweren Fällen aber den Hartsubstanzverlust nicht vorbeugen. Die Retention an betroffenen Zähnen ist oftmals schlechter als an nicht betroffenen Zähnen [Jalevik & Klingberg, 2002; Fayle, 2003].

Die Restauration hypoplastischer Defekte wird bestimmt durch deren Schweregrad. Für die Erstversorgung von Zähnen, bei denen aufgrund des noch unvollständigen Zahndurchbruchs keine absolute Trockenlegung möglich ist, eignen sich Glasionomerzemente. Diese müssen aber langfristig durch definitive Füllungen ausgetauscht werden [Jalevik & Klingberg, 2002].

Amalgam hat sich nicht als geeignet erwiesen, da es aufgrund der Ausdehnung des Materials zu Aussprengungen der verbliebenen Zahnhartsubstanz kommen kann [Fayle, 2003]. Bei leichten bis mittleren Defekten sind Komposite ein gutes Therapiemedium. Bei adäquater Verarbeitung zeigen sie eine gute Überlebensrate auch bei hypomineralisierten Zähnen [Lygidakis et al., 2003]. Da die Füllungsränder komplett im gesunden Schmelz liegen sollen, muss der gesamte defekte Schmelz entfernt werden. Anderenfalls kommt es aufgrund des eingeschränkten adhäsiven Verbundes zu dem defekten Schmelz zu weiteren Zahnsubstanzverlusten rund um die Füllungen [Lygidakis et al., 2003].

Oft besteht die Schwierigkeit, das Ausmaß der Füllung festzulegen, wenn die Zahnhartsubstanz erweicht ist, obwohl sie nicht kariös ist. In solchen Fällen schlagen Kellerhoff et Lussi [2004] primär ein minimalinvasives Vorgehen vor, verbunden mit periodischer Kontrolle der gelegten Füllung [Kellerhoff & Lussi, 2004]. Bei weiter fortgeschrittenen Läsionen ist eine ausgedehnte Restauration notwendig. In schweren Fällen bei stark ausgeprägtem Substanzverlust der ganzen Zahnkrone sollte vor Behandlungsbeginn mit einem Kieferorthopäden die Erhaltungswürdigkeit der betroffenen Zähne abgeklärt werden.

Bei sich abzeichnendem Engstand kann es sinnvoll sein, die hypoplastischen Zähne zu gegebener Zeit zu extrahieren [Williams & Gowans, 2003]. Wenn aber der Erhalt dieser Zähne angestrebt wird, ist die Eingliederung konfektionierter Stahlkronen als Langzeitprovisorium indiziert [Zagdwon et al., 2002].

Nach dem 16. Lebensjahr ist die Stahlkrone durch eine Vollkeramikoder VMK-Krone zu ersetzen. Bei den Frontzähnen handelt es sich nur selten um posteruptive Schmelzdefekte, sondern um Opazitäten, die ästhetisch jedoch sehr störend sein können. Die Versorgung dieser Zähne mit Mehrschichtrestaurationen aus hoch ästhetischen Kompositmaterialien ist sehr Erfolg versprechend.

Zusammenfassung

Die Behandlung von hypomineralisierten Zahndefekten bei Kindern spielt eine zunehmend große Rolle. Die Ausprägung der Hypomineralisationen und die daraus resultierende Problematik können stark differieren. Es ist wichtig, Patienten mit MIH frühzeitig zu erfassen und einer umfassenden Betreuung zuzuführen sowie in ein engmaschiges Recall-Programm einzubinden. Damit wächst die Chance, eine in funktioneller und ästhetischer Hinsicht zufriedenstellende Rehabilitation zu erreichen.

Dr. Katrin BekesDr. Leonore KleebergMartin-Luther-Universität Halle-WittenbergSektion Kinderzahnheilkunde und PräventiveZahnheilkundeHarz 42a, 06108 HalleKontakt:katrin.bekes@medizin.uni-halle.de

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