Fortbildungsteil 1/2009

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten – ein interdisziplinäres Behandlungskonzept

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Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten gehören zu den kraniofazialen Dysplasien und stellen nach den Veränderungen der Gliedmaßen (Klumpfuß) eine der häufigsten Fehlbildungen des Menschen dar. In Europa liegt eine Häufigkeit von etwa einer auf 500 Geburten vor.

Die Missbildungen entstehen während der Embryogenese etwa von der vierten bis zur zehnten Schwangerschaftswoche.

Die genaue Ätiologie der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten ist nach wie vor noch nicht vollständig geklärt. Derzeit wird von einem multifaktoriellen Schwellenmodell mit genetischer Komponente ausgegangen. Es lassen sich dabei „spaltbelastete“ Familien nachweisen, in denen diese Fehlbildungen in unregelmäßiger Generationenfolge weitergegeben werden. Die Erblichkeit der Spaltbildungen liegt zwischen 15 und 33 Prozent [Coninck et. al., 1989].

Hinzu kommen äußere Faktoren, zum Beispiel ein Vitamin- oder ein (geringer) Sauerstoffmangel in der Frühschwangerschaft, durch die eine in der Familie latent vorhandene Anlage zur Spaltbildung begünstigt wird. Auch schwach ionisierende Strahlung trägt nachweisbar zur Spaltbildung bei [Zieglowski, Hemprich, 1999].

Im Rahmen der Ultraschall-Feindiagnostik, etwa zur 22. Schwangerschaftswoche, lassen sich heute mit modernen Geräten Spaltbildungen im Gesicht mit einer hohen Treffsicherheit erkennen. Hier ergibt sich nunmehr ein optimaler Ansatz zur Frühberatung für werdende Eltern im nächstgelegenen Spaltzentrum. Falls neben der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte keine andere Schädigung des Fötus vorliegt, besteht keinerlei Indikation für die Unterbrechung der Schwangerschaft aus medizinischen Gründen, da die heutzutage sehr ausgereiften Verfahren zur Rehabilitation dem Spaltträger ein völlig normales Leben ermöglichen.

Die erfolgreiche Rehabilitation dieser Patientengruppe lässt sich ausschließlich mit einer wohl abgestimmten interdisziplinären Behandlung der verschiedensten Fachgebiete erzielen. Als primäre „Säulen“ der Behandlung dürfen die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, die Kieferorthopädie, die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde mit ihren Spezialitäten Phoniatrie, Pädaudiologie und Logopädie und nicht zuletzt die allgemeine Zahnheilkunde unter besonderer Berücksichtigung von Kinderzahnheilkunde und konservierender Zahnheilkunde gelten. Nicht selten müssen auch komplizierte prothetische Probleme angegangen werden.

Begleitend wird immer der Pädiater hinzutreten. In einigen Fällen bedarf es schließlich der Hilfe des Kinderpsychologen und eventuell des Humangenetikers (Abbildung 1). Das chirurgische Konzept beruht auf den Prinzipien von Delaire, der bereits 1977 auf die Notwendigkeit zur sehr subtilen Wiederherstellung der perioralen und perinasalen sowie velaren Muskulatur hingewiesen hat [Delaire, 1978].

Prinzipien des Lippenspaltverschlusses

Im Alter von etwa vier Monaten (einseitige Spaltbildung) bis sechs Monaten (bilaterale Spalten) werden der Verschluss der Lippe, einschließlich der Nasenbodenbildung, einer primären Rhinoplastik sowie der vollständigen Wiederherstellung der perioralen und perinasalen Muskelschlingen in Angriff genommen. Das Kind sollte dabei wenigstens fünf Kilogramm wiegen und gesund sein.

Gemäß der Philosophie von Delaire wird dabei die gesamte funktionelle Matrix (Weichteilbedeckung des Gesichtsschädels) durch streng subperiostale Präparation bis zur Sutura zygomaticomaxillaris und zum Os nasale hin angehoben (Abbildung 2 a,2 b). Auf diese Weise ist es möglich, eine problemlose Medialrotation des Weichgewebes vorzunehmen und somit eine spannungsarme Vereinigung der gesamten perioralen und perinasalen Muskulatur unter Anheftung am knorpeligen Septum zu erzielen. Es wird somit die natürliche Verbindung zwischen dem primären Wachstumszentrum in der knorpeligen Nasenkapsel und dem sekundären Wachstumszentrum, der Sutura zygomaticomaxillaris, hergestellt und ein natürlicher Impuls für ein normales Mittelgesichtswachstum gesetzt (Abbildung 3). Zusätzlich erfolgt das supraperichondrale Abheben der Haut im Bereich der knorpeligen Nase, so dass die seit der Embryonalzeit bestehende Fehlposition der Flügelknorpel verbessert werden kann, ohne diese vollständig herauspräparieren zu müssen .

Verschluss des harten und des weichen Gaumens

Dieser Eingriff sollte vor dem Ende des ersten Lebensjahres vorgenommen werden. Hier gibt es zum Teil widerstreitende Angaben in der Literatur, wo Empfehlungen vom einzeitigen Verschluss im achten Lebensmonat bis zu zweizeitigen Eingriffen (Hart- und Weichgaumen getrennt mit mehr als zwei bis drei Jahren) angegeben werden.

Sicherlich plädieren viele Kieferorthopäden hier für einen späteren Verschluss, insbesondere des Hartgaumens, da sie dann weniger transversale Wachstumseinengungen sehen [Grabowsky et. al. 2006]. Hier darf die Lautund Sprachentwicklung jedoch keinesfalls außer Acht gelassen werden, die von einem Verschluss von Hart- und Weichgaumen und somit der Wiederherstellung einer normalen Anatomie zu Beginn des Spracherwerbs um das erste Lebensjahr herum sehr profitiert.

Gemäß dem Leipziger Spaltbehandlungskonzept werden in aller Regel von Langenbeck´sche Brückenlappen meist in Kombination mit einem Veau´schen Stiellappen verwendet. In jedem Falle wird größter Wert auf die intravelare Muskelplastik mit vollständiger Wiederherstellung des kranialen (Musculus tensor und levator veli palatini) und des kaudalen Muskelrings (Musculus palatopharyngeus und palatoglossus) gelegt (Abbildung 4 ) [von Langenbeck 1862, Veau, 1931; Kriens, 1969]. Durch diese Technik hat sich die Notwendigkeit zur Velopharynxplastik von über 30 Prozent Anfang der 80er-Jahre auf nunmehr etwa sechs Prozent reduzieren lassen. Sogenannte „pushback-Operationen“ haben keine signifikante Verbesserung erbringen können, solange die intravelare Muskelplastik vollständig durchgeführt wurde [Hemprich et al., 1988].

Die Kieferspaltosteoplastik

Gemäß der internationalen Nomenklatur unterscheidet man die primäre (im Milchgebiss) von der sekundären (im Wechselgebiss) und der tertiären (im permanenten Gebiss) Osteoplastik. Wenn auch verschiedene Arten der Osteoplastik bekannt sind und Empfehlungen zur frühzeitigen Osteoplastik gegeben wurden, so hat sich das Verfahren nach Boyne und Sands [1972] bisher am besten bewährt. Dabei wird von einem Zahnfleischrandschnitt ausgehend die attached gingiva mehr von lateral als von medial über die Kieferspalte hinweg bewegt und Beckenkammspongiosa darunter eingelagert. Bei guter kieferorthopädischer Vorbereitung der Zahnbögen und präoperativ guter Mundhygiene ist der Eingriff in den meisten Fällen sehr erfolgreich (Abbildung 5).

Der beste Zeitpunkt für die Operation ist dann gegeben, wenn der seitliche Schneidezahn voll durchgebrochen und damit die endgültige Höhe des Alveolarfortsatzes in der Oberkieferfront definiert ist. Der Eckzahn sollte zwei Drittel des Wurzelwachstums vollendet haben, damit er spätestens 18 Monate nach der Osteoplastik durch den transplantierten Knochen durchgebrochen sein kann. Gelingt dies nicht, so muss eine Freilegung des Eckzahnes mit aktiver kieferorthopädischer Einordnung erfolgen.

Mit der (sekundären) Osteoplastik erhält der Kieferkamm eine gute Stabilität. Der Zahnbogen wird mit dem natürlichen Eckzahn vervollständigt. Im Falle eines fehlenden Schneidezahnes kann der Eckzahn auch kieferorthopädisch mesialisiert werden.

Ergeht aus Sicht des Kieferorthopäden die Entscheidung zum Offenhalten der Lücke des fehlenden seitlichen Schneidezahnes muss allerdings damit gerechnet werden, dass vor dem endgültigen Setzen eines Implantates frühestens ab dem 16. Lebensjahr möglicherweise noch eine tertiäre Osteoplastik zur Wiederauffüllung des Knochens im Alveolarkamm vorgenommen werden muss, da der ursprünglich transplantierte Knochen wieder schrumpfen wird, wenn er nicht physiologisch durch Kaukräfte belastet wird.

Ein wesentlicher Effekt der Osteoplastik ist jedoch die Unterstützung des Nasenflügels und damit eine natürliche Nasenposition.

Sekundärkorrekturen

Auch wenn es heute möglich erscheint, vollständige durchgängige Spaltbildungen mit deutlich unter zehn Eingriffen für den Patienten gut zu korrigieren, ergibt sich nach wie vor in dem ein oder anderen Fall die Notwendigkeit zu Korrekturoperationen, die im Wesentlichen folgende Bereiche umfassen:

• sekundäre Muskelplastik (Re-Operation der Spalte)

• Restlochverschluss am Gaumen

• sprachverbessernde Operationen

• Lagekorrekturen des Oberkiefers

• Septorhinoplastiken

• Lückenschluss mit Implantaten

Für alle oben genannten Eingriffe gilt, dass sie den Operateur aufgrund der anatomischen Besonderheiten der Fehlbildungen und der vorangegangenen Eingriffe oftmals vor nicht geringe Probleme stellen. Insbesondere die Korrektur des Oberlippen-Nasen-Komplexes sollte unbedingt durch einen sehr erfahrenen Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen durchgeführt werden, da dieser die häufig erforderliche komplette Re-Operation der Lippenspalte in Kombination mit der Rhinoplastik ausführen kann.

Bei den sprachverbessernden Operationen, hat sich nach wie vor das Verfahren des kranial gestielten Velopharynxlappens nach Sanvenero-Roselli am besten bewährt. Alle anderen Methoden, insbesondere unter Verwendung von Muskeln des Rachens und des Halses, kommen eher in Einzelfällen in Betracht.

Für die Dysgnathiechirurgie beim Spaltpatienten gilt, dass eine Vorverlagerung des Oberkiefers über acht bis maximal zehn Millimeter bei guter Bezahnung im Rahmen einer konventionellen Le-Fort-I-Osteotomie gut vorgenommen werden kann. Bei größeren monomaxillären Bewegungen ist der Distraktionsosteogenese der Vorzug zu geben.

Aufgaben des Zahnarztes bei der Spalt-Behandlung

Aufgrund der sehr häufig bestehenden Zahnfehlstellung, insbesondere im Oberkiefer, des Spaltpatienten kommt der akribischen Überwachung der Mundhygiene unter Anwendung der Individualprophylaxe ein sehr hoher Stellenwert zu. So fanden Kirchberg et al. 2001 eine stark erhöhte Kariesprävalenz im Milchgebiss von Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei gleichzeitig vorliegendem deutlich geringerem Sanierungsgrad. Streptococcus mutans und Lactobakterien waren bei Spaltträgern deutlich erhöht.

Interessanterweise ergaben sich im bleibenden Gebiss gegenüber einer gesunden Kontrollgruppe keine signifikanten Unterschiede mehr.

Im weiteren Verlauf muss der Zahnarzt dann frühzeitig die Weichen stellen, um in Zusammenarbeit mit dem entsprechenden Spaltzentrum rechtzeitig eine kieferorthopädische Behandlung zu veranlassen. Abschließend bleiben aller Voraussicht nach noch einige prothetische Probleme bestehen, die sich jedoch in den meisten Fällen mit den Mitteln der Zahnarztpraxis durchaus lösen lassen.

Vor der Eingliederung einer konventionellen Brückenkonstruktion muss der behandelnde Zahnarzt sicherstellen, dass eine Kieferspaltosteoplastik zur Stabilisierung des Alveolarfortsatzes durchgeführt worden ist.

Nach übereinstimmender Auffassung der wissenschaftlichen Gesellschaften für Prothetik, für Kieferorthopädie und für Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie stellt jedoch bei kariesfreien oder wenigstens gut versorgten Nachbarzähnen das enossale Implantat für den Ersatz des zweiten fehlenden Schneidezahnes im Oberkiefer das Mittel der Wahl dar (Stellungnahme der DGZMK).

Häufig finden sich nicht unerhebliche Schädigungen des Parodonts im Bereich der seitlichen Pfeilerzähne für eine mögliche Brücke. Darüber hinaus wird der in den Alveolarfortsatzbereich hineintransplantierte Knochen ohne physiologische Belastung ganz sicher schrumpfen, was nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Ästhetik, sondern unter Umständen auch der Lautbildung des Patienten führen kann. Das enossale Implantat im Kieferspaltbereich unterscheidet sich in der Langzeitüberlebenswahrscheinlichkeit nur noch unwesentlich von in örtlich gewachsenen Knochen gesetzten Implantaten, so dass dieser Lösung die absolute Priorität eingeräumt wird.

Zusammenfassung

Mithilfe funktionsorientierter Operationsverfahren gelingt es heutzutage, im Kontext eines interdisziplinär orientierten Behandlungskonzeptes in aller Regel auch schwerwiegende Formen von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten vollständig zu rehabilitieren. Dabei ist es mittlerweile möglich, die früher von vielen Patienten angegebene, zumeist zweistellige Anzahl von Eingriffen sehr signifikant zu reduzieren bei mindestens gleich guten Ergebnissen (Abbildungen 6 a-c). Der Hauszahnarzt eines Spaltpatienten ist schon früh gefordert, möglichst jeden Zahn durch Individualprophylaxe und konservierende Maßnahmen solange wie möglich zu erhalten, damit dem Patienten nicht durch frühzeitigen Zahnverlust ein erhebliches Defizit im Mittelgesichtswachstum entsteht. Moderne Spaltzentren sehen sich als Organisatoren des interdisziplinären Behandlungskonzeptes, in das alle behandelnden Ärzte und Zahnärzte des jeweiligen Patienten am Heimatort sehr gern als Partner eingebunden werden.

Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- undPlastische GesichtschirurgieZentrum für Zahn-, Mund- und KieferheilkundeUniversitätsklinikum Leipzig AöRNürnberger Straße 5704103 Leipzigalexander.hemprich@medizin.uni-leipzig.de

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