Aufsuchende Medizin

Ärztliches Engagement im niederschwelligen Bereich

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Mehr als 12 Millionen Menschen gelten derzeit in Deutschland als arm oder von Armut bedroht. Dazu kommen mindestens 250000 Obdachlose. Besonders bei Letzteren greifen die Komm-Strukturen des Gesundheitswesens aufgrund von Scham und Unwissenheit nicht. Aufsuchende Mediziner und Zahnmediziner leisten daher einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag, damit arme und vor allem ärmste Menschen ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung erhalten.

Armut sei das größte Gesundheitsrisiko für Kinder, zitierte die Süddeutsche Zeitung kürzlich Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung des Robert Koch-Instituts. Auch der 3. Armuts- und Reichtumsbericht belegt, dass in einem hoch entwickelten Sozialstaat wie der Bundesrepublik Deutschland ein Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Zugang zu Gesundheitsleistungen erkennbar ist.  

Sozialstatus beeinflusst Gesundheitszustand

So haben Männer mit niedriger Schulbildung zu 34 Prozent einen sehr guten oder guten Gesundheitszustand im Vergleich zu 51 Prozent mit mittlerer und zu 57 Prozent mit hoher Schulbildung. Bei Frauen lauten die Relationen: 30 Prozent in der niedrigen, 47 Prozent in der mittleren und 53 Prozent in der hohen Bildungsgruppe verfügen über einen sehr guten oder guten Gesundheitszustand (siehe Tabelle). Zudem belegt der Bericht, dass Männer und Frauen mit niedrigem Bildungsniveau häufiger rauchen, weniger Sport treiben und zu einem höheren Anteil übergewichtig sind. Auch bei Kindern aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus lässt sich ein schlechterer Gesundheitszustand nachweisen. Besonders dramatisch: Gesundheitsbezogene Verhaltensweisen erweisen sich im Lebenslauf als überaus stabil, so der Tenor des 3. Armuts- und Reichtumsberichts.

Armut „hat viele Gesichter“, ist somit vielschichtig und muss differenziert betrachtet werden. In der Literatur wird absolute Armut von relativer Armut unterschieden (siehe Kasten). In Deutschland wird das soziokulturelle Existenzminimum durch Sozialhilfe beziehungsweise Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II (Hartz IV) sichergestellt. Theoretisch müsste also kein deutscher Bürger in absoluter Armut leben. Trotzdem tritt sie auf. Vor allem dann, wenn Menschen Ansprüche auf staatliche Hilfe, etwa aus Scham, Unkenntnis (Analphabeten) oder Unvermögen nicht geltend machen.

In Deutschland gilt als sehr gefährdet, in die Armut abzurutschen, wem weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Die Schwelle lag im Jahr 2007 bei 764 Euro pro Monat für Alleinstehende, bei 1 835 Euro für ein Paar mit zwei Kindern und bei 994 Euro für Alleinstehende mit einem Kind. Alters- armut droht Personengruppen, die längere Phasen selbstständiger Tätigkeit mit geringem Einkommen, geringfügiger Beschäftigung, Arbeitslosigkeit oder familienbedingter Erwerbsunterbrechungen in ihren Erwerbsbiografien aufweisen.

Deutschlandweit gelten momentan mehr als 12 Millionen als arm oder von Armut bedroht – mehr als jeder 10. Bürger. Sie sind häufig mehrfach von sozialen Problemen – wie Sucht, Straffälligkeit, Wohnungslosigkeit und Überschuldung – betroffen. Hinzu kommt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine fünf Jahre niedrigere Lebenserwartung als bei Bessergestellten. Risikogruppen sind alleinerziehende Mütter, Migranten, Personen mit niedrigem Bildungsabschluss, Langzeitarbeitslose, aber auch junge Menschen vom Kindesalter bis 24 Jahre. Zudem leben nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 250 000 Obdachlose in Deutschland, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Im Zusammenhang mit zunehmender Erwerbslosigkeit sind auch Bessergestellte von Armut bedroht. Armut ist somit ein integraler Bestandteil der Gesellschaft geworden. Dieses Schicksal bedeutet auch ein hohes Maß an sozialer Ausgrenzung, deren Folgen sich besonders in den Bereichen Bildung und Gesundheit manifestiert. Einmal an den Rand der Gesellschaft gedrängt, fallen viele aus allen Bezügen, auch aus der medizinischen und zahnmedizinischen Regelversorgung.

Die Europäische Kommission hat ein wichtiges Signal gesetzt, um Armut und Ungleichheit in Europa mit gezielten Konzepten nachhaltig zu dezimieren. So wurde das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung („EJ 2010“) erklärt. Die damit verbundenen Ziele lauten: Das öffentliche Bewusstsein für die Ursachen, Auswirkungen und Risiken von Armut und sozialer Ausgrenzung soll geschärft werden. Es sei noch mehr politisches Engagement in Form von zielgerichte ten Konzepten erforderlich, um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und vor allem Kinder vor Armutsrisiken zu schützen.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, erklärte auf der nationalen Auftaktveranstaltung für das „EJ 2010“ am 25. Februar in Berlin: „In diesem Land leben 2,4 Millionen Kinder mit einem Armutsrisiko. Diese Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine Arbeit haben. Die große Mehrheit dieser Eltern  will raus aus der Arbeitslosigkeit, aber sie können nicht, weil sie kein Arbeitsangebot haben. [...] Wir müssen uns um diese Menschen kümmern, ihnen in den Jobcentern reelle, ehrlich gemeinte, zugewandte Angebote machen.“ Es gelte daher, einen sensibleren Umgang von Politik und Medien mit den betroffenen Menschen zu erreichen.

Dabei soll Vorurteilen und möglichen Diskriminierungen im Alltag gegenüber von Armutsrisiken und Ausgrenzung Betroffenen begegnet und sollen Ansätze zu deren Überwindung aufgezeigt werden. Übergeord-netes Ziel des „EJ 2010“ ist es, mehr gemeinsame Verantwortung für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts zu generieren.

Ehrenamtliche Projekte im Gesundheitswesen

In Deutschland gibt es seit Langem aufsuchende medizinische Angebote für mittellose Menschen. Vereinzelt, informell, gemeinsam in Gruppen oder organisiert in Verbänden und Initiativen freier Träger fängt ein starkes Netz von ehrenamtlichen Helfern Menschen auf, die sich in den Komm-Strukturen des Gesundheitswesens nicht zurechtfinden oder finanziell nicht in der Lage sind, anfallende Kosten zu stemmen. Jürgen Matzat, Diplompsychologe und Leiter der Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen in Gießen unterscheidet drei Grundtypen von ehrenamtlichem Engagement im Gesundheits-wesen, dabei gibt es aber auch Mischformen und Überschneidungen:

• Individuelle Hilfeleistung auf dem Boden sozialer und moralischer Einstellungen; Beispiele: Deutsches Rotes Kreuz, Malteser Hilfsdienst, Johanniter-Unfallhilfe

• Gesellschaftspolitisches Engagement, getragen von kritischen Einstellungen gegenüber Institutionen und Versorgungsstrukturen; Beispiel: die Gesundheitsbewegung der 80er-Jahre

• Engagement aus unmittelbarer persön- licher Betroffenheit (Selbsthilfe); Beispiele: AIDS-Hilfe, Behinderten-Verbände

Charakteristisch: Die Angebote sind niederschwellig. In der jeweiligen Anlaufstelle wird den Bedürftigen unvoreingenommen geholfen, ohne dass sie als „Problemfälle“ behandelt werden. Bei Bedarf erfolgt eine Weitervermittlung zu den anderen Beratungs- und Betreuungsangeboten.

Auch der Zahnarzt steht im Zentrum sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Konfliktlagen und Einflüsse. Zum zahnärztlichen Selbstverständnis als Freiberufler zählt auch die sozial-gesellschaftliche Verpflichtung. Diese findet ihren Ausdruck in diversen ehrenamtlichen Projekten, an denen die Zahnärzteschaft beteiligt ist.

In einer zm-Umfrage wurde eruiert, ob es in den einzelnen Kammerbezirken der Zahnärzteschaft niederschwellige medizinische Angebote, speziell aber Obdachlosenpraxen gibt. Fest steht: Jeder Kammerbezirk geht aufgrund seiner Situation anders vor.

Soziales Engagement in der Zahnärzteschaft

In Sachsen etwa gibt es bisher keine ausgewiesene Obdachlosenpraxis. Gundula Feuker von der Pressestelle der Landeszahnärztekammer Sachsen erklärt: „Die Kontakte oder auch die Besuche von Obdachlosen in Zahnarztpraxen werden eher von Streetworkern organisiert, die mit Obdachlosenheimen oder anderen karitativen Verbänden zusammenarbeiten.“ „Auch in Brandenburg besuchen Obdachlose die normalen Praxen“, so die Aussage von Jana Zadow von der Pressestelle der Landeszahnärztekammer Brandenburg. Dr. Wolfgang Carl, Öffentlichkeitsreferent der Ärztekammer des Saarlands, Abteilung Zahnärzte schildert die Situation aus seiner Sicht: „Im Saarland ist mir keine derart spezialisierte Praxis bekannt. Ich bin mir aber sicher, dass die Kollegen und Kolleginnen sich ihrer sozialen Verpflichtung bewusst sind und bei Behandlungen nicht zurückstehen. Möglicherweise ist das Problem im Saarland auch nicht ganz so ausgeprägt wie in Großstädten.“ Andrea Mader von der Abteilung Öffentlichkeits- arbeit der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg berichtet, dass es dort keine Obdachlosenpraxen gebe. Mader: „Somit wäre unser geplantes Projekt für Mannheim „Zahnärzte für Obdachlose“ die einzige Initiative in dieser Hinsicht.“ Das Gemeinschaftsprojekt sei eine Idee der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Man wolle unbürokratisch, niederschwellig, leistbar und maßgeschneidert den zahnmedizinischen Grundbedürfnissen der geschätzten 600 bis 1 000 obdach- und wohnungslosen Menschen in Mannheim nachkommen. Mit dem Projekt soll eine Versorgungslücke geschlossen werden. Einen konkreten Termin für die Umsetzung gebe es aber noch nicht.

Hamburg

Im Kammerbereich Hamburg ist seit März 2008 das Zahnmobil der Caritas unterwegs. Zahnarzt Dr. Hans-Heinrich Wienemann schildert seine Erfahrungen: „Für uns Zahnärzte ist die Aufgabe, Obdachlose und Bedürftige zu behandeln, nicht allzu schwierig, die Diagnosen liegen meist auf der Hand, und fast immer können wir unseren Patienten – viel mehr Männer als Frauen – mit einfachen Maßnahmen viel Hilfe bringen und dabei enorme Dankbarkeit erfahren.“ Das Spektrum reiche vom ganz kaputten Junkie bis zum gepflegten, in Not geratenen Pechvogel, der für seine Arbeitssuche die abgebrochene Frontzahnecke wieder angesetzt haben möchte. Die Mehrzahl der Patienten bemühe sich, „so gut es geht“, um Körperpflege, so Wiedemann. Die Arbeit mache Freude und gebe dem Team am Ende des Tages das Gefühl, doch wieder einigen Menschen geholfen zu haben, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Die Bilanz des Zahnmobils von März 2008 bis Februar 2010: 1 121 Patienten, 758 Füllungen und 462 gezogene Zähne beziehungsweise Zahnwurzeln.

Bestandteil des zahnärztlichen Berufsbildes ist auch, zielgruppenspezifische Präventions- und Versorgungskonzepte aus dem Berufsstand heraus zu entwickeln, um Tendenzen von Unter- oder Überversorgung (in diesem Artikel geht es um Ersteres) entgegenzuwirken.

Berlin

Ein gutes Beispiel: In Berlin konzipierte die MUT Gesellschaft für Gesundheit mbH 1994 ein Projekt zur „niederschwelligen medizi-nischen und sozialpflegerischen Betreuung Obdachloser“. Eine Initiative mit bundesweitem Modellcharakter. Die Berliner Zahnärztin Dr. Kirsten Falk ist Mitbegründerin des Projekts und erhielt für ihre ehrenamtliche Arbeit für die MUT Gesellschaft für Gesundheit sowie für die Mitwirkung bei der Grün dung der beiden Zahnarztpraxen für Obdachlose bereits mehrere Auszeichnungen, darunter die Bundesverdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland sowie den Stiftungspreis der Apolloniastiftung zu Münster.

Falk beschreibt die Selbstwahrnehmung der Mitarbeiter der Obdachlosen-Praxen: „Wir Mitarbeiter der MUT-Praxen verstehen uns als aufsuchende Mediziner. Wir gehen auf die Obdachlosen zu und bitten sie zu einem Besuch in die Praxis.“ Von sich aus würden die Bedürftigen nicht als erstes den Weg in die Zahnarztpraxis suchen, erklärt die Zahnärztin. Die MUT-Zahnarztpraxen befinden sich in einem Verbund. „Die betroffenen Personen wollen als Erstes etwas warmes Essen, also gehen sie in die Suppenküche. Dort stellen sie dann fest, dass es ja auch noch eine Kleiderkammer, einen Arzt und einen Zahnarzt gibt. „Wenn ein primär wichtiges Projekt für die Menschen wegfällt, etwa das Projekt Suppenküche, weil kein Anschlussprojekt durch den Senat finanziert wurde, dann kommen die Menschen nicht in die Tagesstätte. Und dann fällt ihnen auch nicht auf, dass sie auch kaputte Zähne haben“, schildert Falk vor dem Hintergrund stark begrenzter finanzieller Ressourcen der Städte und Kommunen. Für das Jahr 2010 sei die Finanzierung der Mut-Praxen jedoch abgesichert. Was die Grenzen der Mach-barkeit betrifft, erklärt Falk: „In aller Regel können die MUT-Praxen keinen ZE leisten – das gibt es, aber nur auf unterster Stufe. Damit man die Optik wieder hat und ein bisschen was kauen kann. Viele glauben, die MUT-Praxen seien eine Konkurrenz zu konventionellen Praxen. Das sind sie aber nicht und das sollen sie auch nicht sein. Die Schmerzbeseitigung steht in jedem Fall im Vordergrund.“ Nach gründlicher Anamnese und Vorbehandlung sei man stets bemüht, einen gewissen Grad der Durchsanierung zu erreichen. Bei den Diagnosen dominieren Abszesse und zerstörte Zähne, die gezogen werden müssen, berichtet Falk. Stichwort Compliance: „Wir versuchen bei unseren Patienten Nachhaltigkeit zu predigen. Die Optik gibt uns ja auch meist recht. Aber es ist auch nicht leicht, erwachsene Leute zu ändern und ihnen einen anderen Blick zu geben.“ Wichtig sei das richtige Umfeld. Dazu Falk: „Man versorgt diese Klientel am besten, wenn man eine Umgebung schafft, wo alle anderen Probleme mit behandelt werden können. Der Hunger, die Läuse, Sachen, die getauscht werden müssen, duschen, Haare schneiden. Ganz wichtig ist auch die soziale Betreuung. Viele wissen nicht, was ihnen zusteht oder wie man sich bewerben muss.“

Kindgerechte Gesundheitserziehung

Pastor Bernd Siggelkow ist der Gründer des Christlichen Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“ e.V. in Berlin. In seiner Funktion als einer von zehn bundesweit ausgewählten Botschaftern für das EJ 2010 sieht sich Siggelkow als Sprachrohr der Schwachen: „Die öffentliche Aufmerksamkeit der Kam-pagne muss genutzt werden, den weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber Armen zu begegnen, da die meisten von ihnen dennoch unverschuldet in ihre Lage geraten sind.“ Bildung müsse für arme Kinder kostenlos sein, fordert Siggelkow. So würde verhindert, dass sie in ihrer Entwicklung benachteiligt werden. „Ohne mehr zielgenaue Unterstützung wird die soziale Spaltung weiter zunehmen“, warnt der Pastor.

Paul Höltge, „Arche“-Pressesprecher erläutert, wie die Gesundheitserziehung in den einzelnen Einrichtungen gelebt wird: „In der „Arche“ gibt es regelmäßig Workshops zur richtigen Zahnpflege und entsprechend gesunder Ernährung. Gelegentlich kommt auch ein Zahnarztteam vorbei, um die Zähne der Kinder zu kontrollieren. Wenn nötig, erhalten sie eine Einladung in die Praxis.“ Grundsätzlich werde die Gesundheitsförderung bewusst auf spielerische und anschauliche Weise in verschiedenen Kinder- und Jugendprogrammen sowie in Kleingruppen und in Einzelgesprächen mit den Kindern zusammen erlernt. Themen wie „Gesunde Ernährung“, „Zahnpflege“, oder „Drogenprävention“ werden in den Workshops besprochen.

Die Berliner Zahnärzte Edris und Ramin Zahir waren mit ihrem Team mehrmals zu Besuch in der „Arche“ in Berlin-Hellersdorf. Bis zu 100 Kinder wurden pro Besuch auf Zahnstand und Mundhygiene untersucht. Die gewonnen Eindrücke waren mitunter sehr unerfreulich und lassen beunruhigende Rückschlüsse auf die mangelnde elterliche Fürsorge zu. Edris Zahir: „Ein Teil der Kinder hatte noch nicht mal eine Zahnbürste zu Hause.“ Auf die Frage, woher die Motivation komme, erklärt er: „Wir wollten uns karitativ engagieren und etwas zurückgeben. Dabei sind wir auf die Arche gestoßen. Mittler- weile habe sich eine Zielgruppe heraus- kristallisiert, für die sich Zahir besonders engagieren möchte: sozial schwache Jugendliche ab 18 Jahren. Das hat folgenden Grund: Wenn diese Klientel mit einem schlechten Zahnzustand etwa zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird, kann die Situation für beide Seiten sehr unangenehm sein. Aus der Sicht des Zahnarztes seien gesunde, schöne Zähne ein wichtiger Faktor für das Selbstbewusstsein der jungen Menschen. Im Moment baut Zahir eine Großraumpraxis mit bis zu zwölf Behandlungszimmern im Westen Berlins auf. Unter dem Motto „Spezialisierung unter einem Dach“ könnten dann zukünftig Zahnärzte unterschiedlicher Fachrichtungen „Hand in Hand“ arbeiten. Lange Wege würden somit wegfallen. Zum Leistungs-spektrum gehört unter anderem ein Fahrdienst, der die Patienten vor und nach umfangreichen chirurgischen Eingriffen in die Praxis, beziehungsweise nach Hause fährt. „Dienstleistung wird bei uns groß geschrieben. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten mache ich im Grunde für mein persönliches Ego“, erklärt Zahir.

Niedersachsen

Im Kammerbezirk Niedersachsen wurde am 17. Februar 2010 die Caritas-ZAHNUMZAHN-Praxis in Osnabrück durch Bischof Franz-Josef Bode eingesegnet. Das Projekt wurde vom Projektleiter Markus Liening und der Zahnärztin Dr. Elisabeth Unger ins Leben gerufen. Von Montag bis Donnerstag behandeln fünf ehrenamtlich tätige Zahnärzte im Wechsel. Zur Klientel gehören Obdachlose, Senioren mit schwacher Grundsicherung und jugendliche Drogenabhän-gige. Projektleiter Markus Liening: „Es geht nicht nur um eine zahnärztliche Grundversorgung, sondern darum, die Menschen zu reintegrieren. Wir bekämpfen die phobischen Ängste der Patienten.“ Das Projekt wurde von der Caritas vorfinanziert. Die Kosten belaufen sich bis jetzt auf 110 000 Euro, erklärt Liening. ZAHNZUMZAHN könne nur durch Spenden fortgeführt werden. Zahnärztin Dr. Brigitte Brunner-Strepp arbeitet im Team Zahngesundheit beim Gesundheitsdienst im Landkreis Osnabrück und beleuchtet das Projekt aus ihrer Sicht: „In meiner täglichen Arbeit beobachte ich immer wieder, dass Gesundheit und der Zugang zu den Strukturen des Gesundheitswesens im Zusammenhang mit dem Sozialstatus der Menschen stehen.“ ZAHNUMZAHN trage zu mehr Gesundheit und Lebensqualität der benachteiligten Menschen und zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit bei.

Best-Practice überführen

In Anlehnung an die aufgeführten Projekte – die nur einen Ausschnitt darstellen – er- geben sich neue Herausforderungen: Es sei wichtig, „Best-Practice-Modelle bundesweit strukturell zu überführen“, konstatierte Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer kürzlich bei der Frühjahrstagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde in Berlin. Angesichts der Lage der öffentlichen Haushalte wäre es unrealistisch, solitär auf ein verstärktes Engagement vonseiten des Staates zu setzen.

Dazu noch einmal Dr. Falk: „Ich war kürzlich bei der Preisvergabe des Förderpreises für Bürgerstiftungen. Dort hat die Bundeskanzlerin gesprochen. Die hat es ganz klar gesagt.“ Der Staat könne zukünftig nicht mehr alles leisten: Zwar könnten die Grundbedürfnisse befriedigt werden, aber der Staat könne nicht mehr für die Zufriedenheit der Gesamtgesellschaft aufkommen, habe Merkel erklärt. Es bleibt zu hoffen, das die Kampagne „EJ 2010“ auch langfristig einen effektiven Beitrag zur Überwindung von Armutsrisiken, zur Erhöhung der Teilhabe und zur Verbesserung der Entwicklungschancen von Kindern, die in Familien im Niedrigeinkommensbereich leben, leisten kann, um letztendlich das Band zu stärken, das eine demokratische Gesellschaft ausmacht. Das zahnärztliche Engagement in diesem Feld spricht jedenfalls für sich.

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