Gesundheitsreform

Das pauschale Problem

Seit der Griechenlandpleite taumelt der Euro – die Gesundheitsreform interessiert allenfalls noch peripher. Auch sonst arbeitet Schwarz-Gelb unter erschwerten Bedingungen: Die Kassen sind leer, die Mehrheiten dahin. Kann Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) seine kleine Kopfpauschale retten?

Eine gute Reform hat immer eine Chance“, beteuerte Rösler auf dem Deutschen Ärztetag in Dresden. Und nein, die Reform ist nicht gefährdet – trotz der nun fehlenden Mehrheit in der Länderkammer. Keine Frage: Der Minister hält auch nach der Wahlschlappe von CDU und FDP in NRW demonstrativ an seinen Plänen zum Umbau des Gesundheitswesens fest. Spricht sich Mut zu. Drückt aufs Tempo. 

Denn die kleine Kopfpauschale steht auf der Kippe. Seit dem Düsseldorfdebakel mehr denn je.

Das Düsseldorfdebakel

Aber auch für Rösler könnte es eng werden. Schließlich hatte er sein Amt von Anfang an ultimativ an die erfolgreiche Einführung der Gesundheitsprämie geknüpft – sie ist für ihn also weit mehr als ein Prestigeprojekt. Gedacht als schrittweises Einstiegsszenario in das Prämienmodell soll Röslers Minipauschale die Löhne zunächst nur teilweise von den Gesundheitsausgaben entkoppeln. Kosten: monatlich 29 Euro für alle – zusätzlich zu dem weiterhin einkommensabhän-gigen Beitragssatz von 14,9 Prozent. Im Gegenzug bliebe den Arbeitnehmern der bisherige Sonderbeitrag von 0,9 Prozent erspart, der Arbeitgeberanteil vorerst weiter eingefroren. Zusatzbeiträge entfielen und die beitragsfreie Familienmitversicherung will Rösler nicht antasten. Ein sozialer Ausgleich via Steuern ist zwar geplant; er soll Geringverdienern helfen, die sich die Prämie nicht leisten können. Wie hoch dieser Zuschuss ausfällt, ist indes offen. Die Rede ist von 20 bis 35 Milliarden Euro jährlich. Also doch Steuererhöhungen?! Nein, nicht notwendig, beruhigt der Minister.

Das sieht nicht nur der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums anders. Der hatte zuvor generell für die Einführung einkommensunabhängiger Gesundheitsprämien mit Sozialausgleich gestimmt. Mit der Begründung, dass die Einkommen dann stärker über das gerechtere Steuersystem umverteilt würden. Vorstellbar seien gleich mehrere Varianten, unter anderem eine, die auf eine Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge hinausläuft. Dabei, so die Ökonomen, könne der allgemeine Beitragssatz so festgesetzt werden, dass die kostengünstigsten Kassen ohne Extrabeitrag auskommen. Was Röslers Pläne betrifft, gehen die Professoren jedoch von einer prämienbedingten Steuermehrlast zwischen 18 und gut und gerne 28 Milliarden Euro jährlich aus. Mit anderen Worten: Steuererhöhungen sind unvermeidbar.

Last Exit Griechenland

Dennoch bleibt Rösler hart: Werde nicht gehandelt, müssten die gesetzlich Versicherten im Laufe des nächsten Jahres das GKV-Defizit über Zusatzbeiträge alleine abfangen. Ohne sozialen Ausgleich. Der GKV drohe 2011 nämlich ein Minus „in der Spannbreite zwischen sechs bis 15 Milliarden Euro“. Deshalb müssten sich alle, die im Bundesrat über die Reform zu entscheiden haben, „die Frage stellen, ob man den Menschen einem Solidarausgleich verweigern will oder nicht“.

Die Verweigerungshaltung im Bundesrat beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Grünen und die SPD, die per definitionem pro Bürgerversicherung sind. Auch die CSU hat die Prämie, weil aus ihrer Sicht unsolidarisch, stets gebrandmarkt. Jetzt – nach der NRW-Pleite – schlägt Rösler erneut geballter Widerstand entgegen: So warf Grünen-Chefin Claudia Roth Rösler beispielsweise vor, er habe „die rote Karte aus NRW offenbar nicht verstanden“. Sie forderte ihn auf, die Pläne endlich fallen zu lassen. Nachgekartet wird auch von der SPD. Die sammelte nach eigenem Dafürhalten bereits 100 000 Unterschriften gegen die Kopfpauschale. „Und jeden Tag wächst die Zahl der Unterstützer“ – trommelte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Fazit von SPD und Grünen: „Die Kopfpauschale ist tot!“ Auch die CSU scheint sich plötzlich wieder verstärkt gegen die Pauschale zu formieren: „Statt uns in weiteren Debatten über die Gesundheitsprämie zu verzetteln, müssen wir uns jetzt vorrangig darum kümmern, wie wir das riesige Defizit verhindern, das den Krankenkassen im nächsten Jahr droht“, sagte Unionsfraktionsvize Johannes Singhammer (CSU) dem Handelsblatt. „Dazu hat die Politik genau noch siebeneinhalb Monate Zeit. Sollten wir hier nicht erfolgreich sein“, warnte er, „heißt die nächste Ausfahrt für das System der gesetzlichen Krankenkassen Griechenland.“ Weil es dann eine „Kaskade von Insolvenzen“ bei den Kassen geben werde.

Dass es bei der Gesundheitsreform nicht allein nur um die Finanzen gehen kann, verdeutlichte Ärztepräsident Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe auf dem Ärztetag. Ohnehin sei in der Gesundheitsversorgung kein weiteres Einsparpotenzial vorhanden. Der Anteil der gesetzlichen Krankenversicherung an den Gesundheitsausgaben liege in Deutschland seit Jahrzehnten bei etwas über sechs Prozent, im Vergleich zu anderen OECD-Staaten mit mindestens acht Prozent.

Signal aus der Mitte

Gefordert sei deshalb ein neues Signal aus der Mitte der Gesellschaft – ein Sozialpakt für die Zukunft. „Gesundheit kann die große Frage des 21. Jahrhunderts werden, und die Antwort liegt gewiss nicht allein bei den Ärzten und Pflegern“, führte er aus. „Die Schere zwischen dem, was wir leisten können, und dem, was wir bezahlen können, klafft immer weiter auseinander.“ Deshalb müsse man darüber reden, wie trotz begrenzter Ressourcen eine gerechte Versorgung garantiert werden könne. „Die Rahmenbedingungen in der Gesundheitspolitik müssen so gestaltet werden, dass jeder Patient eine gute Medizin erhält. Es muss wieder um den Menschen und nicht um Macht, es muss wieder um den Patienten und nicht nur um Politik gehen“, konkretisierte er. Das Soziale drohe in einer wachsenden Singlegesellschaft verloren zu gehen. Dies könnten weder Ärzte kompensieren, noch könnten Politiker das Problem durch Gesetze auflösen. „Wir können unsere Zukunft nur menschenwürdig gestalten, wenn wir uns rückbesinnen auf den Menschen als soziales Wesen“, betonte Hoppe. „Dass es zu Rationierung in der medizinischen Versorgung kommt, ist mittlerweile wohl unbestritten. Längst ist die heimliche Rationierung öffentlich geworden.“

Im derzeitigen System gebe es darum nur einen Weg aus der Rationierung: die Diskussion um die Priorisierung. Dazu habe die Ärzteschaft vorgeschlagen, einen Gesundheitsrat aus Philosophen, Theologen, Juristen, Patientenvertretern, Ärzten und Vertretern der Gesundheitsberufe einzurichten. Ein neues Denken für die Organisation ärztlicher Arbeit werde gebraucht, erläuterte Hoppe in dem Zusammenhang. Er sprach sich dafür aus, das Medizinstudium durchzulüften und „endlich praxistauglich“ zu machen. Hoppe: „Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Lebenswelt der jungen Ärzte und vor allem der jungen Ärztinnen anpassen!“

Ehrlich diskutieren

Der Meinung ist auch KBV-Chef Dr. Andreas Köhler: „Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche, offene und ehrliche Diskussion darüber, was die solidarisch finanzierte Krankenversicherung in Zukunft noch leisten kann und soll“, sagte er auf der KBV-Vertreterversammlung in Dresden. Der enorme Ausgabendruck auf die niedergelassenen Ärzte seitens der Krankenkassen führe laut Köhler zu einer impliziten Rationierung – ihm zufolge einer der Gründe für die zunehmende Unzufriedenheit unter den Ärzten und ihre nachlassende Bereitschaft, nach dem Studium überhaupt noch eine Praxis zu gründen oder zu übernehmen. Landarztquote, mehr Medizinstudienplätze oder veränderte Zulassungskriterien reichten nicht aus, um dem drohenden Ärztemangel zu begegnen. „Worauf es vor allem ankommt, sind bessere Arbeitsbedingungen für Ärzte. Das heißt vor allem: Abbau von Bürokratie“, sagte Köhler. Von Plänen, Ärzte in überversorgten Gebieten mit niedrigeren Preisen für ihre Leistungen zu bezahlen und in unterversorgten Regionen Zuschläge zu gewähren, hält er nichts. Köhler: „Das würde bedeuten, dass gerade einmal 51 Vertragsärzte in den Genuss höherer Punktwerte kämen, während 77 228 Ärzte geringer vergütet würden.“ Die KBV hat unlängst neun Prozent mehr Honorar für 2011 gefordert – 2,6 Milliarden Euro. Eine Unsumme. Und doch ist es das Geld, was die Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten benötigen, um die seit Jahren steigenden Kosten in den Praxen und den vermehrten Aufwand für die Behandlung älterer und multimorbider Patienten bezahlt zu bekommen. Berücksichtigt werden müssten laut Köhler außerdem die Leistungverlagerungen von stationär nach ambulant.

Dass ein ganzes Maßnahmenbündel notwendig sei, um die ambulante Versorgung zu sichern, bestätigte auch KBV-Vorstand Dr. Carl-Heinz Müller. Aufgrund des steigenden Bedarfs setzt er darüber hinaus auf verstärkte Kooperationen zwischen Vertragsärzten und Pflegeberufen. „Unzufriedene Ärzte, Ärztemangel, steigender Behandlungsbedarf trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen, noch unzufriedenere Ärzte, noch mehr Ärztemangel“, beschrieb Müller die drohende Spirale: „Ein Teufelskreis zeichnet sich ab in der ambulanten ärztlichen Versorgung – und nicht nur da –, wenn es uns nicht mit vereinten Kräften gelingt, ihn zu durchbrechen.“ Die KBV führe bereits Kooperationsgespräche mit den Pflegeverbänden.

Lösungen sind nun gefragt. Lösungen, die die Strukturen verändern. Beispiel Bedarfe. Die KBV spricht sich seit Langem für eine kleinräumigere Bedarfsplanung aus. Zurzeit arbeitet sie an einem Konzept, mit dem der Versorgungsbedarf auch sektorübergreifend ermittelt werden kann. Auch die Koalition denkt inzwischen darüber nach, die Grenzen der Planungsbezirke wieder zu verkleinern, um die Versorgung besser steuern und den unterschiedlichen Anforderungen in Stadt und Land gerecht werden zu können.

Fragen wir Rösler. Das deutsche Gesundheitswesen, in das jährlich 170 Milliarden Euro strömen, sei „eines der besten Versorgungssysteme weltweit“, lobt er. Priorisierungen lehnt der Minister, der auf dem Ärztetag frenetisch gefeiert wurde, gleichsam kategorisch ab. Damit würde nur der Mangel festgeschrieben. Dagegen verteidigte er die von den Medizinern kritisierte Landarztquote. Sein Argument: Es werde kein Zwang ausgeübt, vielmehr könnten die Länder über einen Teil der Medizinstudienplätze selbst verfügen. Gleichwohl versprach er den Ärzten, das Medizinstudium nicht per Modularisierung zu verflachen – also keine Bachelorisierung mit Rösler. Er will sich auch für höhere Honorare für Hausärzte stark machen, um den Beruf für junge Mediziner attraktiver zu gestalten. Besser honoriert werden sollen dabei die Grundleistungen, wie zum Beispiel Gespräche mit Patienten und Hausbesuche: Viele Mediziner hätten nur deswegen ihr Auskommen, weil sie ihren Patienten zusätzliche Programme anbieten. Ebenfalls weiterhin auf Röslers Agenda: die Kostenerstattung. Denn: „Anders werden sich Patienten nicht kostenbewusster verhalten.“

Mehr Geld gibt es nicht

Insgesamt sicherte er ihnen ein faires System zu, in dem sie sich nicht mit dem Ausfüllen von Formularen herumschlagen müssen, sondern sich voll und ganz dem Patienten widmen können. Wie das gehen soll, verriet er allerdings nicht. Nur eins sagte er unmissverständlich: „Mehr Geld gibt es nicht.“

Voran geht es freilich erst Anfang Juni. Dann will der Gesundheitsminister entgegen früherer Pläne sein Konzept präsentieren. Wie es aussieht, macht die Koalition die Reform nämlich zur Chefsache: Das heißt, Rösler soll seine Vorschläge zum Einstieg in die Kopfpauschale jetzt doch erst mit Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle abstimmen, wie der Pressesprecher des Bundesgesundheitsministeriums, Christian Lipicki, erklärte. „Die Arbeiten an dem Konzept seien wider Erwarten so gut vorangekommen, dass man die Gespräche nun „auf eine höhere Ebene ziehen“ müsse, meinte Lipicki. Anschließend soll das Konzept in der Regierungskommission konsentiert und präsentiert werden. Schon jetzt enthalte es jedoch schon viele Aspekte, die die Kommission erarbeitet hat. Ist das Modell intern abgestimmt, will Rösler auch mit den Oppositionsparteien über seine Ideen von einer Umgestaltung der GKV-Finanzierung sprechen.

Schon melden sich die altbekannten Krakeeler zu Wort. So der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Er nannte die Regierungskommission „kläglich gescheitert“. Rösler habe trotz davongaloppierender Kosten bisher keinen einzigen Sparvorschlag umsetzen können und kein Finanzierungskonzept. Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Biggi Bender, sieht Rösler isoliert und „allein zu Haus“. Die Großen – Merkel und Westerwelle – hätten keine Zeit für das Projekt.

Bambus bricht nicht

Röslers Sprecher Lipicki wies die Mutmaßungen dagegen als haltlose „Spekulationen, die jeder Grundlage entbehren“, zurück. „Die Dinge sind bereits so konkret, dass nun zunächst eine Abstimmung mit den Parteispitzen stattfinden muss.“. Was sagte Rösler auf dem Ärztetag? „Der Bambus wiegt sich im Wind, aber er bricht nicht.“

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.