100. Todestag von Florence Nightingale

Die Lady mit der Lampe

Heftarchiv Gesellschaft
pr
Pionierin der Krankenpflege, Nationalheldin und ein bisschen Rebellin – Florence Nightingales Leben verlief ereignisreicher als in der Viktorianischen Gesellschaft bei einer Tochter aus gutem Hause üblich. Ihr großer Verdienst: Aus dem anrüchigen Beruf der Krankenschwester machte sie eine angesehene Profession. Am 13. August 2010 ist ihr 100. Todestag.

Florence Nightingale wirkt nach. Ihr Buch „Notes on Nursing“ (1860) über die Prinzipien der Krankenpflege wird noch heute in vielen Ländern in die Krankenpflegeausbildung miteinbezogen. In Düsseldorf erinnert das Florence-Nightingale-Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie an die Engländerin, die vor hundert Jahren, am 13. August 1910, in London starb. Ein Grund dafür ist, dass Nightingale an der 1836 von Pfarrer Theodor Fliedner gegründeten Diakonie eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Als 1970 ein Name für das Krankenhaus gesucht wurde, spielten aber noch andere Motive eine Rolle, weiß Dr. Norbert Friedrich von der Fliedner Kulturstiftung Kaiserswerth: „Damals gab es einen neuen theologischen Leiter, der sehr auf ökumenische Öffnung bedacht war. Florence Nightingale signalisiert diese Offenheit – und Internationalität. Im Krankenhaus legt man außerdem großen Wert auf patientenorientierte Betreuung. Auch dafür steht sie.“

Viele ihrer Theorien wirkten heute „stellenweise skurril“, sagt Friedrich. „Das liegt einfach daran, dass das medizinische und pflegerische Wissen vorangeschritten ist.“ Der entscheidende Aspekt an Nightingales fortdauernder Aktualität sei ein anderer: „Sie hat immer wieder betont, dass Patienten soziale Wesen sind. Pflege war für sie mehr als Verbände wechseln und Spritzen setzen. Nightingale wusste: Es geht um Beziehungen. Pfleger und Krankenschwestern treten mit den Patienten nicht nur als Dienstleister in Kontakt, sondern auch als Menschen.“

Im England des 19. Jahrhunderts fehlte dieses Bewusstsein in der Öffentlichkeit noch völlig – Florence Nightingale änderte das. Mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der sie auch den Weg ablehnte, der Frauen ihrer Generation und ihres Standes vorgezeichnet war.

William Edward Nightingale, Florences Vater, hatte von einem Onkel ein beträchtliches Vermögen geerbt und ging, bis auf politische Aktivitäten für die liberale Whig-Partei, vor allem seinen kulturellen Interessen nach. Der Cambridge-Absolvent ließ seinen beiden Töchtern Parthenope und der am 12. Mai 1820 in Florenz geborenen Florence eine breite Schulbildung zukommen. Weil er dafür keine geeigneten Hauslehrer finden konnte, übernahm er die Aufgabe selbst. Auf dem Lehrplan standen Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Geschichte und Philosophie.

Auf Sinnsuche

Mutter Fanny ging ganz in ihrer Rolle als Society Lady auf und hatte für die Zukunft ihrer Töchter eher traditionelle Vorstellungen. Das bedeutete vor allen Dingen eine standesgemäße Heirat. Florence langweilte das Leben als Gesellschaftsdame, sie wollte lieber lernen und äußerte mit 20 Jahren den Wunsch nach Mathematikunterricht. Das überschritt allerdings auch für den Vater eine Grenze – Mathematik war absolut nicht ladylike. Aber: Nach vielen Streitereien konnte Florence sich durchsetzen und bewies großes Talent für das Fach.

Auf Bildungsreisen nach Frankreich, Italien, Deutschland und in die Schweiz lernte Florence Nightingale viele Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik kennen. In Italien traf sie Angehörige der nationalen Freiheitsbewegung „Risorgimento“, in Paris Mary Anne Clarke, die dort einen literarischen Zirkel führte. Über sie kam die junge Reisende mit der berühmten französischen Salondame Julie Récamier in Kontakt. Der Austausch mit diesen beiden Frauen mag Nightingale veranlasst haben, über die Frage nachzudenken, inwieweit Frauen ein Anrecht auf Bildung und Selbstverwirklichung haben.

Florence Nightingales Werk ist tief in ihrer Religiosität verwurzelt. Bereits als Kind spürte sie den „Wunsch, kranke Menschen zu pflegen. All meine Gedanken kreisten um Krankenhäuser, und ich ließ keine Gelegenheit aus, eines zu besuchen. Das erzählte ich natürlich niemandem; man hätte mich nur ausgelacht. Dennoch war ich davon überzeugt, Gott habe mich berufen, Ihm auf diese Weise zu dienen.“

Mit 25 Jahren teilte Florence Nightingale ihrer Familie schließlich mit, dass sie Krankenschwester werden wolle. Eltern und Schwester reagierten schockiert: Krankenhäuser – inklusive Personal – hatten Mitte des 19. Jahrhunderts einen ausgesprochen schlechten Ruf. Hospitale waren keine Orte der Heilung, vielmehr wurden Menschen dort bis zu ihrem Tod „verwahrt“. Eine Ausbildung für das Personal gab es nicht. Als Krankenschwestern arbeiteten fast ausschließlich Frauen aus unteren Schichten, die nach landläufiger Meinung Diebinnen, Alkoholikerinnen, Prostituierte und überhaupt moralisch fragwürdig waren.

Es war aber nicht nur das Berufsfeld, das bei Nightingales Familie auf Ablehnung stieß. Im Viktorianischen England galt das Streben nach einer Aufgabe außerhalb von Ehe und Familie generell als unschicklich für eine Frau ihres Ranges. Es kostete Nightingale weitere sechs Jahre, bis sie ihren Willen – nach wie vor gegen den der Eltern – durchsetzen konnte. 1851 brach sie zu einer dreimonatigen Krankenpflegerausbildung nach Kaiserswerth auf. Sie hatte die Diakonie schon im Vorjahr für einige Tage besucht und in der Zeit davor über die Einrichtung gelesen. So schrieb sie 1846 in ihr Tagebuch: „Wenn ich Erfrischung brauche, greife ich zu den Jahresberichten über die Diakonissenanstalt Kaiserswerth. Dort ist meine Heimat, dort sind all meine Brüder und Schwestern im Dienst. Dort ist mein Herz, und eines Tages, davon bin ich überzeugt, wird auch mein Leib dort bei ihnen sein.“

Ein wilder Schwan

Mit ihrer Entscheidung stellte Nightingale sich gegen die Rollenerwartung, die Frauen ihrer Zeit auferlegt wurde – eine private Rebellion. In einem Brief an die Eltern fand die „verlorene“ Tochter folgende Worte, um die Motivation für ihr Handeln zu beschreiben: „Um mich herum sehe ich so viele Frauen, die verrückt werden auf der Suche nach einer echten Aufgabe.“ Fanny Nightingale soll dazu folgendes Fazit gezogen haben: „Wir sind die Enten, die einen wilden Schwan ausgebrütet haben.“

In Kaiserswerth fühlte die 31-jährige Schülerin sich wohl. Dr. Norbert Friedrich: „Hier erlebte Florence Nightingale ein Pflegemodell, das für die damalige Zeit sehr innovativ war. Die Schwestern lebten in einer beruflichspirituellen Gemeinschaft, das heißt, sie erhielten neben der Krankenpflegeauch eine religiöse Ausbildung.“ Nightingale, die selbst sehr fromm war, wusste das zu schätzen. Im Oktober verließ sie Kaiserswerth und setzte ihre Lehre in Paris bei den Barmherzigen Schwestern, einem Vinzentinerinnen-Orden, fort.

Ihr nächster beruflicher Schritt führte die mittlerweile 33-Jährige zurück nach England. Hilfe bekam sie dabei von dem mit ihr befreundeten Politiker Sidney Herbert und dessen Frau Liz, die sich beide sehr für das britische Gesundheits- und Krankenhauswesen engagierten. Liz Herbert verschaffte Florence einen Posten als Leiterin eines Sanatoriums für Gouvernanten in London. Sie nahm den Job an und strukturierte das Haus unter Einsatz ihres eigenen Vermögens um. Aber: Nach etwas mehr als einem Jahr kündigte sie die Stellung. Begründung: Die Arbeit war ihr zu einseitig, die Krankheitsbilder zu ähnlich. Das reichte Nightingale nicht auf Dauer, sie brauchte eine größere Herausforderung – und musste nicht lange darauf warten.

Heldin des Krimkriegs

1853 zog Großbritannien an der Seite des Osmanischen Reiches und Frankreichs auf der Krim-Halbinsel in den Krieg gegen Russland. Bald erschienen in der englischen Presse Berichte über die katastrophalen Zustände im englischen Lazarett in Skutari. Das Hospital sei schlecht ausgestattet, die Krankenpfleger nicht ausgebildet. Der Vergleich mit den französischen Lazaretten verschärfte den Skandal: Dort kümmerten sich gut ausgebildete Nonnen um die Verwundeten. Die britische Öffentlichkeit reagierte mit Entsetzen auf die schlechte Versorgung der Soldaten. Florence Nightingale bot ihre Hilfe an. Nach Vermittlung durch Sidney Herbert – mittlerweile Kriegsminister – stach sie im Oktober 1854 mit 38 Krankenschwestern Richtung Krim in See.

In Skutari angekommen, fand Nightingale schlimme Zustände vor: Die Verwundeten waren in stickigen und schmutzigen Räumen untergebracht und meistens nicht einmal mit dem Nötigsten versorgt. Obwohl die männlichen Pfleger mit der Situation heillos überfordert waren, freute sich die militärische Führung nicht über die Ankunft des Hilfstrupps. Für sie stellten die Frauen eine Einmischung von Zivilisten in militärische Angelegenheiten dar. Florence Nightingale hielt sich deshalb anfangs aus den medizinischen Angelegenheiten heraus und unterstellte die Krankenschwestern den Weisungen der Ärzte. Die ignorierten die Pflegerinnen zunächst, knickten dann angesichts der Patientenflut aber ein und kooperierten.

Florence Nightingale konzentrierte sich während ihres Aufenthalts auf administrative Aufgaben und stellte ihr erstklassiges Organisationstalent unter Beweis. Innerhalb kürzester Zeit verbesserte sie die Hygiene im Lazarett, brachte die Wäscherei wieder in Gang und sorgte für gesunde Ernährung der Soldaten. Sie schrieb Briefe für die Patienten, schickte deren Sold an die Familien zuhause und bestand darauf, dass keiner der Männer alleine starb. Nachts ging sie mit einer Lampe durch die Korridore, um nach dem Rechten zu sehen. Aus dieser Zeit stammt ihr Spitzname: „Lady mit der Lampe“.

An der Heimatfront

Von den Soldaten wurde Nightingale verehrt. Ein Patient schrieb an seine Familie: „Wenn die Lady mit der Lampe in der Nacht durch die Krankensäle geht, dann drehen wir uns zur Wand und küssen die Mauerstelle, auf die ihr Schatten fiel.“ Solche Sätze sind der Stoff, aus dem Legenden gemacht werden. In zahlreichen Briefen gelangten sie nach England, wo die Lady bald als Nationalheldin gefeiert wurde.

1857 musste sie allerdings schwer fiebererkrankt nach England zurückkehren. Vermutet wird, dass sie an der Infektionskrankheit Brucellose litt. Ihr Gesundheitszustand blieb die folgenden zehn Jahre schlecht. Nightingale zeigte sich in dieser Zeit selten in der Öffentlichkeit – verharrte aber keinesfalls untätig im Bett. Immer noch entrüstet darüber, dass der Großteil der Soldaten nicht auf dem Schlachtfeld, sondern aufgrund des Missmanagements in den Lazaretten gestorben waren, setzte sie in England zusammen mit ihrem Freund Sidney Herbert eine königliche Kommission zur Untersuchung des Gesundheitszustands der britischen Armee durch.

Sie selbst trug dazu bei, indem sie 1848 die Statistik „Notes on Matters Affecting the Health of the British Army“ veröffentlichte – für die sie später als erste Frau in die „Royal Statistical Society“ aufgenommen werden sollte. Darin verglich sie die Zahl der gefallenen Soldaten mit den Verlusten aufgrund der schlechten Versorgung. Das Ergebnis: Von den 16.000 toten Soldaten waren 4.000 im Kampf gefallen und 12.000 in den Lazaretten gestorben. Nightingales Einsatz hatte Erfolg: Die Kommission beschloss medizinische Reformen, unter anderem eine geregelte Ausbildung für Militärärzte. 1860 wurde die erste Army Medical School in Chatham eröffnet.

Schools of Nursing

Aus Dankbarkeit für Nightingales Arbeit war im Jahr 1855 eine Spendenaktion in ganz England gestartet worden. Nach ihrer Rückkehr erhielt die Kriegsheldin so eine großzügige Geldspende über 50.000 Pfund, die sie gleich in den Florence Nightingale Trust steckte. Mit seiner Hilfe konnte sie einen lang gehegten Plan in die Tat umsetzen: die Gründung einer Krankenpflegeschule. 1860 war es soweit und die erste „Nightingale School of Nursing“ öffnete für 15 Schwesternschülerinnen ihre Tore am Londonder St. Thomas Hospital. Ihre Krankheit hatte Nightingale so geschwächt, dass sie die Leitung der Schule nicht selbst übernehmen konnte. Manche Historiker vermuten, dass sie nach den großen Strapazen möglicherweise einen Burnout hatte oder die Öffentlichkeit wegen ihrer Popularität mied. Denn: Nach dem Krimkrieg war Nightingale neben Königin Viktoria die bekannteste Frau Englands. Von ihrem Leben als Privatperson musste sie Abschied nehmen.

Die „Nightingale School of Nursing“ orientierte sich streng an den Vorgaben der Gründerin: Der theoretische Unterricht fand in Lehrsälen, der praktische direkt am Krankenbett statt. Nach Abschluss ihrer Ausbildung sollten die Absolventinnen fähig sein, an anderen Krankenhäusern eigene Schulen zu gründen und so das Nightingale’sche System in und außerhalb Englands zu verbreiten. Anders als von vielen Historikern beschrieben, lief nicht alles von Anfang an perfekt. Es stellte sich vor allem als schwierig heraus, kompetente Schülerinnen zu rekrutieren.

Monica Baly, Historikerin des Nightingale Fund, resümiert: „Die Reform kam nur langsam in Gang und was später als Nightingale’sches System bekannt wurde, entsprach nicht den Idealvorstellungen der Begründerin. Es war das Resultat vieler Experimente und erzwungener Kompromisse.“ Nach einem Jahrzehnt waren die Startschwierigkeiten allerdings überwunden und die Schulen trugen dazu bei, dass der Beruf der Krankenpflegerin weltweit eine Aufwertung erfuhr.

Interessant: Obwohl selbst tief religiös, schlug Nightingale bei der Organisation der Krankenpflegeschulen einen säkularen Weg ein. Zwar verstand sie die Pflege in erster Linie als Dienst am Nächsten, die Ausbildung hatte aber vor allem einen fachlichen Kern und orientierte sich nicht an der in Kaiserswerth erlebten Arbeits- und Glaubensgemeinschaft. Einiges übernahm sie aber von ihren ersten Lehrmeistern: Wie bei den Diakonissen erhielten die Schülerinnen während ihrer Ausbildung Wohnung, Verpflegung, Dienstkleidung und ein Taschengeld.

Verdienst und Irrtum

Florence Nightingale veröffentlichte im Lauf ihres Lebens über 200 Bücher und Aufsätze. Eines ihrer Hauptwerke ist das Lehrbuch „Notes on Nursing: What it is, and what it is not“, das 1860 erschien und in elf Sprachen übersetzt wurde. Darin schreibt sie: „Ich brauche das Wort „nursing“ mangels eines besseren. Es wurde bisher so eingeengt, dass es wenig mehr bedeutet als die Verabreichung von Medikamenten und die Anwendung von Umschlägen. Es sollte dagegen folgendes umfassen: Der nützliche Gebrauch von frischer Luft, Licht, Wärme, Sauberkeit und Ruhe sowie die geeignete Auswahl und Verabreichung von Speisen – all das mit möglichst geringem Kraftaufwand für den Patienten.“

Zusammenfassend kann man sagen, dass aus Nightingales Sicht gute Pflege auf zwei Pfeilern basiert: Hygiene und absolute Konzentration auf die Bedürnisse des Patienten. Sie schreibt: „Friert ein Patient oder hat er Fieber, fühlt er sich schwach, ist ihm nach dem Essen übel oder hat er wunde Stellen, so ist das nie die Schuld der Krankheit, sondern der Pflege.“

Florence Nightingales wissenschaftliche Überzeugungen – vor allem in Bezug auf die Entstehung von Krankheiten – sind heute überholt. Sie war Anhängerin der Miasma-Theorie, die besagt, dass sich Krankheiten spontan aufgrund schädlicher Dämpfe in schmutzigen, schlecht belüfteten und geschlossenen Räumen entwickeln – Nightingales Sauberkeits-Dogma für Räume und Luft rührt daher. Sie war darüber hinaus davon überzeugt, Gott habe das Miasma geschaffen. Indem der Mensch die Ursachen für die Entstehung der Dämpfe erforsche und verstehe, deutete sie Gottes Intention, könne er seine Umwelt anpassen und Krankheiten verhindern. Die Krankenpflege betrachtete Nightingale so als Möglichkeit, Gottes Gesetze der Gesundheit zu erkennen. Zur Emanzipation der Frauen hat Nightingale vor allem durch ihr Beispiel beigetragen und dadurch, dass sie die Ausbildung von Krankenschwestern sowie die Leitung der pflegerischen Arbeit in die Hände von Frauen legte.

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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