Deutsche Zahnärzte 1933 bis 1945

Gräber ohne Namen

pr
Die Geschichte der vertriebenen und ermordeten deutschen Zahnärzte zwischen 1933 und 1945 gleicht einem vergessenen Friedhof mit Gräbern ohne Namen. Eine Gesamtdarstellung der Opferschicksale und der Aktionen der Täter ist seit Langem ein Desiderat. Dieser Beitrag ist die Kurzfassung eines Vortrags vor dem Interdisziplinären Arbeitskreis für Forensische Odonto-Stomatologie der DGZMK in Mainz. Der Autor Dr. Ekkhard Häussermann, langjähriger stellvertretender Chefredakteur der zm, fasst die neuesten Forschungsergebnisse zu der 1998 veröffentlichten zm-Dokumentation zum Thema („Deutsche Zahnärzte 1933 bis 1945 – Verfolger und Verfolgte“) zusammen.

Dr. Hans Moral, Professor für Zahnheilkunde, Universität Rostock, als „Nicht-Arier“ vom Regierungskommissariat in Schwerin aufgefordert, seinen Lehrstuhl zu räumen, von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes angepöbelt, schrieb am 8. März 1933 an die Medizinische Fakultät folgenden Brief:

„Ich werde freiwillig gehen, dahin, wo Ruhe und Frieden ist, die Ruhe, die mir Elemente nicht gönnen, die meinen, dass ein Jude ein minderwertiger Mensch ist.“ In der Nacht vom 4. auf den 5. August 1933 griff Moral zu Veronal und Zyankali und starb am 6. August, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Diese Zeilen widerspiegeln das Drama der deutschen Zahnärzte, der „nichtarischen“ wie der „arischen“, wobei letztere fast alle tatenlos zusahen, wie ihre jüdischen Kollegen aus deren Praxen vertrieben und teils durch die Straßen gejagt wurden, wie sie emigrieren und im keinesfalls gastfreundlich gesinnten Ausland unter demütigenden Umständen – oft schon im gesetzten Alter – ihre Examina wiederholen mussten.

Es regierten, abgestützt durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, die Nürnberger Gesetze, Terror, Feigheit und Verblendung. Der Riss ging oft mitten durch die Familien, wie zum Beispiel der ehemalige BDZ-Präsident Erich Müller-Altona in einem erschütternden Bericht von der erzwungenen Auflösung der Ehe seines jüdischen Freundes Ernst Wiegelmesser in Hamburg erzählt.

 „Arische“ Zahnärzte waren meistens gerne bereit, die frei gewordenen Praxen ihrer „nichtarischen“ Kollegen zu übernehmen. Die genaue Zahl der Zwangs-Emigranten, Verfolgten, Untergetauchten und Ermordeten ist nicht bekannt – sie wird auf 1 500 bis 1 800 geschätzt. Noch niemand bemühte sich um zusammenfassende Recherchen.

Intrigantentum

Es herrschte Intrigantentum. „Reichsdentistenführer“ Fritz Blumenstein zeigte seinen mit einer jüdischen Frau verheirateten Kol-legen August Siebecke wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen an. Siebecke, der zusammen mit Fritz Linnert und Erich Müller-Altona zu den Neugründern der zahnärztlichen Selbstverwaltung nach 1945 gehört, entging nur knapp dem Fallbeil.

Der neue Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“, Eduard Schrickel, deformierte zusammen mit dem „Reichszahnärzteführer“ Erich Stuck die Zeitschrift zu einem der übelsten Hetzblätter, das sich in seinem ideologischen Terrorismus gegen die verfemte Minderheit ohne Weiteres mit Goebbels „Angriff“ und Julius Streichers „Stürmer“ messen konnte und dem Leser heute noch die Schamröte ins Gesicht treibt. Schrickel forderte nach 1945 von der neuen Standesführung ein Ruhegehalt. Entgegen dem Protest des KZBV-Vorsitzenden und BDZ-Präsidenten Dr. Erich Müller-Altona wird nach mehreren Prozessen Schrickel aufgrund des Paragraphen 131 Grundgesetz eine monatliche Pension von 1 800 DM zugestanden. Sie muss teilweise von den zahnärztlichen Bundesorganisationen gezahlt werden.

Beschönigt

In der bis jetzt einzigen offiziösen Darstellung, „Die Geschichte des deutschen Zahnärzte-Standes“ von Kurt Maretzky und Robert Venter (Köln, 1974), werden diese Jahre verfälscht und beschönigt. An der „Gleichschaltung“ waren die Zahnärzte zu einem gerüttelten Maß selbst beteiligt. Wie Walter Hoffmann-Axthelm in seiner „Chronik zwischen Ost und West“ schildert, erschienen in den entscheidenden Monaten seine Kollegen in den Versammlungen scharenweise in SA-Uniform. Die letzte freie Versammlung der Berliner Zahnärzte wurde von einer NSChaotenclique unter Anführung eines Zahnarztes zusammengeprügelt.

Am schlimmsten betroffen sind Berlin und die vom Regime besonders ins propagandistische Blickfeld gestellten „Grenzland“-Universitäten Bonn, Breslau und Freiburg/Breisgau. Die „Säuberungen“ werfen die deutsche Zahnheilkunde um Jahrzehnte zurück. Nach dem jetzigen Forschungsstand kann nur eine Reihe von Einzelschicksalen ergründet werden. In einer Dissertation heißt es resigniert: „Weiteres konnte nicht ermittelt werden, […] vergessen, verschollen.“

Die zahnärztlichen NS-Publizisten haben vertuscht, gelogen, unter den Teppich gekehrt. So heißt es etwa in der „Zahnärztlichen Rundschau“ vom 13. August 1933 knapp: Professor Moral sei am 6. August „einem plötzlichen Herzanfall erlegen, zwei Tage verstorben vor Antritt einer Reise nach Belgrad, wo er gerne einem Ruf an die dortige Universität gefolgt wäre“. Solche Unterschleifungen und bewusst geschlagenen Breschen in das Standesgedächtnis durchziehen die gesamte Berufspresse. Zentrale Dokumentenschätze der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Deutschlands (KZVD) in Berlin wurden „entsorgt“. Für maßgebliche, dem Regime hörige Autoren wie Professor Hermann Euler ging nach der „Machtergreifung“ das wissenschaftliche Leben „ungehemmt“ (Zitat) weiter. Kein einziges Wort in diesen „Erinnerungen eines Lehrers der Zahnheilkunde“ über seine Kollegen, die scharenweise Koffer packen, um ein Visum betteln und sehen mussten, wo sie und ihre Familien hingehen und bleiben konnten.

Zucht und Ordnung

Einpeitscher in diesem propagandistischen Trommelfeuer waren zum Beispiel Professor Dr. Otto Loos, Direktor der Freiherr Carl von Rothschild’schen Stiftung Carolinum in Frankfurt/Main, der in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ nach „Ausmerzung“ schlecht begabter und unwilliger Studenten aus den Hörsälen und Seminaren drängte und forderte, die universitäre Ausbildung der „Zucht und Ordnung“ dem prägenden Dienst in der nationalsozialistischen „Sturmabteilung“ (SA) zu unterwerfen.

Man wollte Zucht und Ordnung haben, brave Studenten und vor allem seine Ruhe. Der Spurensucher nach den Lebensschicksalen der jüdischen Professoren der Zahnheilkunde in der NS-Zeit forscht vergeblich nach den Protestschreien und Solidaritätsbekundungen ihrer „arisch“ privilegierten Kollegen. Die deutsche Hochschullehrer-, Professoren- und Dozentenschaft an den höheren Bildungsstätten, die bei allen Jubiläen, Senats- und anderen akademischen Feierlichkeiten in phrasengeladenen Ansprachen Solidarität, Fairness und europäischen Humanismus beschwört, versagt fast restlos. Kaum eine Hand regt sich für ihre von der völkisch-rassistischen Hetze betroffenen Kollegen, die den Pressionen der Studentengruppen und der Willkür der NS-Bürokraten ausgesetzt sind.

Beispielhaft für das Lebens- und Forscher-Schicksal eines „nichtarischen“ Hochschullehrers ist die Karriere von Professor Alfred Kantorowicz, Universität Bonn. Der Feldzahnarzt im Ersten Weltkrieg – gut genug, als jüdischer Kriegsteilnehmer mit seinem Leben einzustehen, aber dienstrechtlich Soldat zweiter Klasse – ist, wie seine Biographen übereinstimmend konstatieren, in der zahnärztlichen Wissenschaftsgeschichte der Initiator und Popularisator von Prophylaxe und Frühbehandlung, des Generalkonzepts, auf dem die gesamte moderne Zahnheilkunde basiert.

Ende September 1933 erreicht ihn die Nachricht: „[Sie werden] hiermit aus dem Staatsdienst entlassen. Bis Ende Dezember 1933 erhalten Sie noch Ihre bisherigen Bezüge. Ein Anspruch auf Ruhegeld oder Hinterbliebenenversorgung und auf Weiterführung der Amtsbezeichnung steht Ihnen nicht zu.“ Als Absender zeichnet der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.

Abgefertigt

Er wird eiskalt abgefertigt und als Staatsgefangener in das berüchtigte Konzentrationslager Börgermoor bei Meppen im Münsterland eingeliefert. Eine Weltkapazität der Zahnheilkunde, Verfasser vieler wissenschaftlicher Werke, muss unter den Augen von SS-Bewachern im Moor schuften, ist Zielscheibe der Demütigungen und reagiert mit Schock, Weinkrampf und Depression. Zweite Station seines Leidenswegs ist das Konzentrationslager Lichtenstein in Sachsen, wo ihn jedoch die NS-Behörden nach einer Intervention des schwedischen Königshauses entlassen. Mit knapper Not gelingt ihm die Flucht nach Istanbul.

Ein Beispiel, wie berufspolitisch und wissenschaftlich unantastbare Größen durch entlarvende Dokumentenfunde in abgelegenen Archiven dem Verdikt der Standesgeschichte zum Opfer fallen, bietet die Stück für Stück erhellte Vita des Breslauer Dekans der Medizinischen Fakultät Professor Dr. Hermann Euler, Ordinarius für Zahnheilkunde, während der gesamten NS-Zeit Präsident der dem „Reichszahnärzteführer“ untergeordneten Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Der Autor einer 1996 in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ veröffentlichten Serie „Deutsche Zahnärzte 1933 bis 1945“ hatte die Erinnerungen der zahnärztlichen Protagonisten dieser Zeit ausgewertet und stieß in den 1985 veröffentlichen Memoiren des 1997 verstorbenen ehemaligen Rektors der Düsseldorfer Universität und Euler-Schülers Professor Carl-Heinz Fischer auf die Bemerkung, seinem Mentor seien in den Jahren 1933/34 „die unerfreulichen Säuberungsaufgaben“ zugefallen.

Kenner stellten weitere Recherchen an, an deren Ende nach enger Kooperation mit der polnischen Zahnärztin B. Miklaszewska die beiden Autoren Hans-Jörg Staehle und Wolfgang U. Eckart in der „Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift“ 12/05 nach Aktenstudium in Breslauer Archiven schlichtweg aufdeckten, dass Euler bei seinen „Säuberungen“ – klar ausgedrückt – 16 jüdische Kollegen ans Messer der Verfolger geliefert hat. Anderen Arbeiten zufolge „stand die Universität Breslau innerhalb der deutschen Universitäten an der Spitze der Entlassungen, was das prozentuale Verhältnis der Mediziner zum Gesamtlehrkörper betrifft. Von 51 entlassenen Wissenschaftlern waren allein 17 Mediziner“ (zitiert nach Staehle/Eckart).

 Diese Angaben werden gestützt durch ein kürzlich in einem englischen Archiv entdecktes Verzeichnis von 330 Ärzten und Zahnärzten, die Unterkommen in England suchten und abgewiesen wurden. 23 davon waren Breslauer. Das Schicksal von fast allen dort aufgeführten Flüchtlingen, die ins United Kingdom kommen wollten, ist unbekannt. Nur hinter dem Namen Curt Ehrlich heißt es „Deported Auschwitz“. Hinter anderen steht „died in prison“, „Suicide“ …

Ein Euler-Schüler namens Viktor Scholz spekuliert in seiner Dissertation mit dem Titel „Über die Möglichkeit der Wiederverwendung des Goldes im Munde der Toten“, wie „durch Aufklärung die Rettung von herausnehmbarem Gold in größerem Umfang herbeigeführt werden könnte“ und hofft auf „endgültige Lösung“.

Zahngold

Wohin die „endgültige Lösung“ in der Frage der Sicherung des Goldes im Mund der Toten führte, offenbarte sich in der Geschichte der NS-Konzentrationslager, wo Zahnärzte im Dienst der Waffen-SS durch „Leichenjuden“ das begehrte Edelmetall aus dem Mund der lebenden und toten Häftlinge brachen, sich bereicherten, es ihren Dienststellen zur Verfügung stellten, es an die Reichsbank weiterleiteten, es zu Schmuckstücken verarbeiteten und ihre Damen damit beschenkten. Es ist ein Kapitel der zahnärztlichen Standesschande.

Der französische Medizinhistoriker Xavier Riaud schätzt, dass etwa 100 deutsche Zahnärzte sich für den „Dienst“ in den Lagern hergaben, wo die „endgültige Lösung“ auf grausamste Weise praktiziert wurde. „Experimentiert“ wurde etwa mit den abgeschnittenen Köpfen junger Zigeuner, mit hilflosen Häftlingen, denen man zur „Erforschung“ von Herdkrankheiten sämtliche Zähne entfernte.

Am schlimmsten war es in den letzten Kriegsjahren, als Mangelkrankheiten wüteten, Mundhöhlenkrebs, Hungerödeme, stomatitis ulcerosa und zu Gewebszerfall führende Krankheiten der Mundhöhle, denen die einfach ausgerüsteten Praxen nicht mehr gewachsen waren. Zahngold und der aus Verzweiflung in der Mundhöhle versteckte Schmuck waren das Edelwild der Leichenräuber. Das Raubgold ging von der Sammelstelle zur Reichsbank, zur Deutschen und zur Dresdener Bank, zur Degussa und schließlich zur Schweizer Nationalbank und war Zahlungsmittel der deutschen Rüstungsindustrie, mit dem Erz aus Schweden, Chrom aus der Türkei und Wolfram aus Portugal für die Luft- und Panzerwaffe finanziert wurden.

Zivilcourage

Es sollen in dieser düsteren Chronik nicht vergessen werden: die zahnärztlichen Widerständler mit Zivilcourage wie Ewald Fabian, Helmut Himpel und manche andere, die nicht schwiegen und ihren Mut mit Vertreibung, Tod in der Fremde und Hinrichtung bezahlten und deren Leidensweg Wolfgang Kirchhoff herausstellte. Es gab deutsche „arische Zahnärzte“, die – wie einige kürzlich veröffentlichte Praxischroniken berichten – für untergetauchte jüdische Patienten nächtliche Praxisstunden einrichteten und sie – ständig unter Gefahr der Denunziation – behandelten. Es sollen nicht vergessen werden die unbekannten Zahnärzte, die unter den eingeschränkten Kriegsverhältnissen gewissenhaft ihre Praxen versorgten. Aber der Pöbel bestimmte die Standes-Geschichte und maßgebliche Hochschullehrer wie gesundheitspolitische NS-Prominenz waren Helfershelfer durch ideologische Aufmunterung, personelle Disqualifizierung und Schweigen.

In der (zahn)medizinischen Forschung, Literatur und Publizistik herrschte platter Biologismus und Rassismus, eine Entwicklung, Jahrzehnte vorher angetrieben, mit Namen wie Arthur de Gobineau, Alfred Ploetz, Gustav Carus und anderen Autoren verbunden. „Minderwertige, Schwächlinge und Krüppel“ hatten nichts zu sagen, „Wehrhaftigkeit, Ehre, Blutreinheit“, nach braunem Weihrauch dunstende Anbetungsriten der Wehrhaftigkeit und gesundheitliche Kraftprotzerei stellten sich in Dienst des germanischen Imperialismus, auch die „Zahnärztlichen Mitteilungen“ an vorderster Stelle.

Die unter der Ägide von Hans-Jörg Staehle und Wolfgang U. Eckart erarbeitete Dissertation von Bettina Wündrich (2000) ist eine verdienstvolle, überfällige Darstellung dieser „Neuen Deutschen Zahnheilkunde“, in deren menschenverachtende Diktion sich eine irrationale schwärmerische Naturphilosophie und Phraseologie mengte, die gegen das „zersetzende Judentum“ polemisierte und gleichzeitig von Kräutertee, Luft-, Lichtund Sonnenbaden und Taulaufen schwärmte. Auch Hermann Euler kommentierte die Vorteile des Vollkornbrotes und machte sich Gedanken über die Schädigung des Gebisses durch Vermischung der Rassen, „auch wenn ein abschließendes Urteil noch nicht möglich sei“.

Traktate

Ein ganzer Wust von Broschüren, Fachzeitschriften und Traktaten befasste sich mit dem „Gebissverfall als Ausdruck einer unorganischen Lebensordnung“; die Anwälte der „ganzheitlichen Zahnheilkunde“ wie Erich Heinrich (noch 1971 mit der Euler-Medaille ausgezeichnet), Walther Klussmann, Otto Steiner und Paul Neuhäußer, im Bunde mit dem NS-Chef-Ideologen Alfred Rosenberg agierten und folgten dem Ausspruch von Hans Schemm: „Nationalsozialismus ist angewandte Biologie“.

Die Autoren beziehen sich ausdrücklich auf Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner: „Das Fundament der neuen deutschen Heilkunde kann nicht die exakte Naturwissenschaft sein, sondern allein die nationalsozialistische Weltanschauung von den natürlichen, den biologischen Grundgesetzen allen Geschehens.“ Autorin Wündrich schildert detailliert, wie hilflose Heimkinder brutalen „Maßnahmen zur Aufartung“ unterworfen wurden.

Martin Heidegger, Chef der Universität Freiburg/ Breisgau, postulierte in seiner Rektoratsrede am 27. Mai 1933 im ersten Satz: „Sich selbst das Gesetz geben, ist höchste Freiheit. […] Der Begriff der Freiheit des deutschen Studenten wird jetzt zu seiner Wahrheit zurückgebracht. Aus ihr entfalten sich künftig Bindung und Dienst der deutschen Studentenschaft.“ Heidegger, seit Veröffentlichung seines Hauptwerks „Sein und Zeit“ 1927 wichtigster Denker und unantastbares Vorbild der deutschen Bildungsund Universitätsjugend, offenbarte sich als Säulenheiliger des Regimes und legte so den Grund für Enthemmung und Verfolgung.

Wie Bernd Martin, Historiker für neuere Geschichte, Eduard Seidler, Historiker der Freiburger Universitätsgeschichte, die beiden Medizinhistoriker und Zahnärzte Ilan Golan und sein Berliner Kollege Michael Köhn nachwiesen, zeigte sich die Freiburger Studentenschaft besonders offen für antisemitische und rechtsradikale Tendenzen, im Gegensatz zum Schweigen der Medizinischen Fakultät, die Sympathien einem Regime gegenüber zeigte, das nach dem Versagen der Republik „auf drastische Weise kundtat, wie sehr es gewillt war, durchzugreifen“ (Seidler). Die Phrasen Heideggers und seiner Kalfaktoren gingen wie ein Lauffeuer durch die Seminare der medizinischen deutschen Akademien, Seminare und Studierstuben. Im Dokumentenund Literaturstudium schält sich immer deutlicher heraus, dass die im geistigen und politischen NSSold stehenden Zahnärzte wie in Breslau und Berlin für das Regime nicht nur ideologische, rhetorische und bürokratische Arbeit leisteten, sondern sich auch aktiv an der Verdrängung ihrer jüdischen Kollegen aus ihrer beruflichen und privaten Existenz beteiligten. Und in Freiburg und im südbadischen Bereich spielten sich die brutalsten, unmenschlichsten Übergriffe gegen die von den sogenannten Nürnberger Gesetzen betroffenen Zahnärzte ab.

Regulierter Terror

Der systematisch regulierte Terror gegen die jüdischen Zahnärzte und Dentisten beginnt In der Ausgabe des NS-Boulevardblattes „Der Alemanne“ vom 31. März 1933. Unter den Schlagzeilen „Die Kriegserklärung Alljudas an Deutschland“ und „Boykottiert folgende Freiburger Juden“ werden Namen von Zahnärzten und Besitzer von Dentaldepots genannt. Drohend heißt es weiter: „Die jüdischen Lehrkräfte und Ärzte an den Universitätsinstituten und Kliniken werden noch besonders aufgeführt.“ Die „Aufgeführten“ wurden vertrieben, starben oder wurden ermordet in Auschwitz, kamen in das am Rande der Pyrenäen gelegene Lager Gurs, ließen sich in der Fremdenlegion anwerben oder schlugen sich wie viele andere im Ausland kärglich durch. Der alte standespolitische Gegensatz offenbarte sich wieder in widerwärtiger Weise. Ein Zahnarzt ließ seinen jüdischen dentistischen Kollegen von einem Rollkommando überfallen und stellte ihn vor ein „Femegericht“. Der israelische Zahnmedizinstudent Ilan Golan, der dem „Schicksal der jüdischen Zahnärzte und Dentisten aus Freiburg und Umgebung aus der Zeit des III. Reiches“ (Dissertation 1994) nachging und erschütternde Ergebnisse zutage förderte, berichtet, dass die Angst einiger Befragter und Nachkommen der Vertriebenen nach sechs Jahrzehnten noch so groß war, dass sie um die Geheimhaltung ihres Familiennamens baten.

Erbärmlich

Die Freiburger jüdischen Häftlinge, Ärzte, Zahnärzte und Bürger, lebten in Gurs unter erbärmlichen Umständen, die Winterwinde aus den nahen Bergen wehten eisig, in den primitiven Lagerstraßen versanken die Inhaftierten bis zum Knöchel im Morast. Für die Öfen fehlte Brennmaterial, die Bretterwände der Hütten waren morsch und undicht. Es fehlten Betten, Instrumente, Medikamente, es fehlte an den einfachsten medizinischen Vorrichtungen. Der französische Dichter Louis Aragon, aktives Mitglied der Résistance, schrieb: „Gurs, une drole de syllabe comme un sanglot qui ne sort pas de la gorge“ (Gurs, eine merkwürdige Silbe, wie ein Schluchzen, das einem in der Kehle steckenbleibt). Es zeigten sich dort – wie an so vielen Stätten – die Folgen, wenn man sich selbst das Gesetz gibt.

Die zahnmedizinhistorische Forschung deckt überall zwischen 1933 und 1945 die trübsten Kapitel auf. Michael Köhn, Autor der Geschichte der Berliner Zahnärzte: Von 591 „nichtarischen“ Berliner Zahnärzten (40 Prozent aller dortigen Zahnärzte) emigrierten 232, wurden 100 ermordet, das Schicksal von 199 ist unbekannt. Der englische Medizinhistoriker John Zamet fasst am Ende seiner Studie „Aliens or colleagues? Refugees from Nazi oppression 1933 – 1945“ (British Dental Journal, Volume 201, No. 6, Sep 23 2006) zusammen: „Between 1933 and 1939, 962 German and Austrian dentists attempted to migrate to Britain, of whom only 240 were successful.” Sie standen abgewiesen vor verschlossenen Toren und mussten sehen, wie sie zurechtkamen.

Dr. Ekkhard HäussermannGreifswalder Str. 950737 Köln

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