Fortbildungsteil 1/2010

Rechtliche Aspekte komplexer Fälle mit psychosomatischem Hintergrund

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Anne Wolowski, Ludger Figgener

„Problempatienten“ neigen nicht nur zu Ärztehopping. Nicht selten versuchen sie auch, ihre Unzufriedenheit mit erfolgter Zahnbehandlung respektive Zahnersatz juristisch klären zu lassen. Die vorliegende Arbeit stellt derartige Situationen vor, erläutert eventuell zugrunde liegende psychosomatische Ursachen und bietet eine juristische Einordnung anhand einzelner Fälle.

Ziel zahnmedizinischen Handelns sind die Aufrechterhaltung beziehungsweise Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Kauorgans und ein damit einhergehendes Wohlbefinden. Das entspricht der Definition der WHO zur Gesundheit. „Health is the state of the complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“

Im Sinne der Gesundheitsförderung [Ottawa Charta WHO, 1986] gehören zum Erreichen dieses Zustands unter anderem die Wahrnehmung und Verwirklichung von Wünschen und Hoffnungen. Dem letztgenannten Aspekt wird im Rahmen zahnmedizinischer Behandlung vielfach eine zu geringe Beachtung geschenkt, was gerade angesichts sogenannter „Wahlleistungen“ zu erheblichen Missverständnissen mit juristischen Folgen führen kann.

Unser Verständnis von Krankheit, aber auch von Gesundheit und Wohlbefinden ist – ausgehend von der Einführung naturwissenschaftlicher Fächer in die Medizin etwa Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute – traditionell biomedizinisch geprägt. Von Uexküll beschreibt diese Biomedizin einerseits als segensreichen Wegbegleiter für Fortschritte, andererseits aber auch als Wegbegleiter in die Sackgasse einer dualistischen Medizin für Körper ohne Seelen und Seelen ohne Körper. Bezogen auf die Zahnmedizin bedeutet das, dass wir dazu tendieren, Zähne ohne Ansehung des Menschen zu behandeln. Ausgehend von diesem mechanistischunidirektionalen Verständnis von Zahnärzten wie auch deren Patienten werden Behandlungsverträge geschlossen. Dieser Vertragsabschluss ist aufseiten des Patienten geleitet von dem Wunsch nach Beschwerdefreiheit oder einem „besseren“ Versorgungszustand, ohne dass akute oder chronische somatische Beschwerden bestehen müssen. So motiviert verwundert es also gar nicht, wenn Patienten uns idealisieren in dem Sinne „Sie sind der/die Einzige, der/die mir noch helfen kann“, unabhängig davon, ob es um die Behandlung von körperlichen Beschwerden geht oder um eine aufwändige, möglicherweise gar nicht zwingend notwendige Neuversorgung. Geschmeichelt von so viel Lob und Anerkennung, nehmen wir den Auftrag wahrscheinlich gerne an. Wir sind davon überzeugt, dieses leisten zu können, zumal wir es durch erfolgreiche Behandlungen ähnlicher Situationen tagtäglich unter Beweis stellen. Latente Erwartungshaltungen des Patienten werden nicht nachgefragt und bleiben damit unausgesprochen – und unkorrigiert. Ursachen für Beschwerden und Wünsche, die außerhalb des Somatischen liegen, werden in der Regel nicht in die Betrachtung und in die Indikationsstellung einbezogen. Wenn diese aber eine Rolle – möglicherweise gar die entscheidende – spielen, kann es zur Symptompersistenz, -entstehung oder -verschiebung von einem anderen Zielorgan in den Kiefergesichtsbereich trotz lokal angemessener Behandlung kommen. Der Patient wird dann aufgrund der persistierenden beziehungsweise neu hinzugekommenen Symptomatik zunehmend ungeduldig, und es offenbaren sich durch vergebliche Behandlungsversuche die Grenzen somatischer Behandlung. Darauf reagieren wir vielleicht mit hilflosen Bemerkungen wie „So etwas habe ich in meiner langjährigen Erfahrung noch nicht erlebt“. Das führt zu Hoffnungslosigkeit aufseiten des Patienten. Er fühlt sich möglicherweise auch als Simulant missverstanden und fürchtet, nicht mehr ernst genommen zu werden. Es entwickelt sich zunehmend eine Diskrepanz der initial gemeinsamen somatischen Ursachenüberzeugung, da der Zahnarzt aufgrund des aus seiner Sicht nun ausgeschlossenen Vorhandenseins einer organischen Ursache psychische Zusammenhänge vermutet. Eine Äußerung in diese Richtung dem Patienten gegenüber wird zu diesem Zeitpunkt von diesem allerdings als Bestrafung und Schuldzuweisung erlebt werden. Der Patient vermutet eher einen Behandlungsfehler und/oder ein Übersehen von organischen Befunden. Gegenseitige Kränkungen und Entwertungen sind leider häufig die Folge [Wolowski et al., 2009]. Der Patient will sich beziehungsweise seinen Ruf als nichtpsychosomatisch Kranker in einer solchen Situation behaupten und dem Zahnarzt vielmehr beweisen, dass dessen Behandlung die Ursache seines Leidens ist. Crasselt et al., 2004 konnten in einer Studie nachweisen, dass in der juristischen Auseinandersetzung überwiegend der Patient aufgrund seiner Unzufriedenheit in Bezug auf eine zahnärztliche Behandlung als Kläger auftritt. Die Autoren vermuten, dass Patienten heutzutage – im Unterschied zu früher, als sie durch Honorarverweigerung eine eher passive Rolle einnahmen – prozessfreudiger geworden sind. Diese offensive oder gar aggressive aktive Haltung der Patienten führen die Autoren zurück auf ein Absinken der „Hemmschwelle“, hervorgerufen durch die Presse, durch den nachlassenden Eindruck der „Unangreifbarkeit“ des Arztes, durch überspannte Erwartungshaltungen und durch mangelnde Akzeptanz dafür, dass ein körperlicher Schaden vielfach nicht im Sinne einer „restitutio ad integrum“ in Gänze reparabel ist. Um nun dieser Situation zu entkommen, werden wider besseres Wissen weitere Maßnahmen an der eigenen Arbeit vorgenommen, was in der Regel zu einer „Verschlimmbesserung“ führt. Als weiterer Notausgang aus dieser prekären Situation werden den Patienten Verdachtsdiagnosen angeboten, die (verständlicherweise) somatischer Natur sind und außerhalb der Verantwortung der Zahnmedizin liegen. Eine daraus resultierende, wiederholte, beschwerdegesteuerte Diagnostik hat dann aber erst recht eine Chronifizierung der Beschwerden zur Folge, die – wie wir aus der Schmerzforschung wissen – bereits nach drei bis sechs Monaten eintritt. Dann verliert der Schmerz seine Warnsignalfunktion und gilt als zwar gutartiges, aber zunehmend therapieresistentes Symptom [Egle et al., 2003]. Die Beschwerden nehmen immer breiteren Raum im Leben der Betroffenen ein, und über die Aufmerksamkeit, die beschwerdegebunden den Betroffenen geschenkt wird, erleben diese einen sekundären Krankheitsgewinn und knüpfen daran sozusagen ihre sozialen Netze. Mit zunehmender Dauer wird es für den Patienten schwerer, all dieses wieder aufzugeben, denn eine „Heilung“ hätte nun erhebliche psychosoziale Folgen. Es stellt sich somit die Frage, wie man mit derart schwierigen Situationen, die natürlich meist unerwartet auftreten, im ärztlich-ethischen, aber auch im juristischen Sinn angemessen umgeht. Dieses soll im Folgenden anhand einiger typischer Beispiele aus der täglichen Praxis diskutiert werden.

Behandlung mit fraglicher Indikationsstellung

Ein Patient klagte über massive Schmerzen an einem endständigen Brückenpfeiler. Die Versorgung war etwa fünf Jahre alt. Die Brücke entsprach allen Qualitätskriterien bezogen auf Randschluss, technische Ausführung, okklusale Gestaltung sowie Gestaltung des Approximalraums und des Brückenzwischenglieds. Pathologische parodontale Befunde konnten nicht festgestellt werden. Beim Kältetest reagierte der Zahn sensibel, eine fragliche Klopfempfindlichkeit konnte aber nicht eindeutig auf den Zahn lokalisiert werden. Weder lindernde noch verstärkende Faktoren, noch typische Verlaufsphasen der Schmerzen ließen sich anamnestisch identifizieren. Eine Lockerung des Brückenankers konnte ebenso ausgeschlossen werden. Auch röntgenologisch konnten trotz einer bereits seit über drei Monaten geklagten Schmerzdauer keine Auffälligkeiten nachgewiesen werden. Die benachbarten sowie die antagonistischen Strukturen waren ebenso unauffällig wie der nach RDC-TMD (Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders) [John et al., 2006] erhobene Funktionsbefund. Eine zahnmedizinische Verdachts diagnose konnte auf Basis der Befundlage demnach nicht erhoben werden (Abbildung 1).

Der Patient stellte sich mit den geklagten Beschwerden immer wieder in der Praxis vor. Auch am Wochenende suchte er mehrfach aufgrund akut erlebter Schmerzen den Notdienst auf. Der Patient selbst sah einen Zusammenhang zur Eingliederung der Brückenversorgung, da es nach seinen Angaben direkt nach der Neuversorgung erhebliche Schwierigkeiten gab, die er jedoch nicht näher beschreiben konnte. Er drängte auf Abnahme der Brücke. Eine objektive Indikation dazu war aus zahnmedizinischer Sicht nicht greifbar. Die in solchen Situationen immer verbleibende Restunsicherheit konnte indes nur durch Abnahme der Brücke geklärt werden. In einem solchen Fall ist es ausgesprochen schwierig, nichts zu tun, da der Patient die Schmerzen tatsächlich erlebt und – solange noch Unsicherheiten bestehen – kaum bereit ist, seine Überzeugung, dass die prothetische Versorgung die Ursache seiner Beschwerden ist, aufzugeben. Daher sollte das weitere Vorgehen von der Frage geleitet sein, ob durch die Behandlung ein organischer Schaden gesetzt wird, der sonst nicht entstanden wäre. In diesem Fall kann diese Frage recht eindeutig mit nein beantwortet werden. Die Abnahme der Brücke hat allenfalls die Notwendigkeit einer Neuversorgung zur Folge. Anders müsste beispielsweise die Situation vor Trepanation eines kariesfreien Zahnes beurteilt werden, da hier jede nicht streng indizierte invasive Maßnahme einen organisch irreversiblen Schaden hinter lassen würde. Aus psychosomatischer Sicht stellt sich aber im Falle der Abnahme der Versorgung immer noch das Problem, dass damit möglicherweise ein Polypragmatismus und damit eine somatische Fixierung mit der Folge der Chronifizierung in Gang gesetzt wird. Daher muss der Patient im Vorfeld eingehend darüber aufgeklärt werden, dass die Abnahme der Brücke eine diagnostische Maßnahme ist mit der Folge einer wahrscheinlich für ihn kostenpflichtigen Neuanfertigung der Brücke. Bereits zu diesem Zeitpunkt ist es wichtig, den Patienten darüber aufzuklären, dass auch die Möglichkeit besteht, dass kein somatisch-pathologischer Befund und somit keine somatische Schmerzursache festgestellt werden kann. Sollte dieses eintreten, dann muss es dem Patienten auch in dieser Form klar und ehrlich kommuniziert werden. Versucht man sich in einer solchen Situation dennoch eines somatischen Erklärungsmodells zu bedienen, wird der Patient für die Zukunft lernen: „Bei mir ist es immer untypisch. Man kann in der Regel keine Befunde feststellen, aber wenn der fragliche Zahn dann gezogen wird, dann hat noch jeder Zahnarzt gesagt, dass da ein starker Entzündungsprozess vorlag.“ Solche Lernprozesse sind vielfach der Beginn eines unheilvollen Exodontismus.

Nicht erfüllte Erwartungshaltung

Eine mittlerweile 81-jährige Patientin stellte sich nach Einbringung von sechs Implantaten im Oberkiefer und vier Implantaten im Unterkiefer sowie mehrfachen Versuchen, die Suprakonstruktionen einzugliedern, vor (Abbildung 2). Die Patientin berichtet, dass sie mit der Situation „nicht leben und nicht sterben“ könne. Sie wünschte die Explantation, weil ausgehend von den Implantaten die Schmerzen so intensiv seien, dass sie damit nicht zur Ruhe komme. Im Gespräch erfuhr man, dass die Patientin im Alter von 60 Jahren eine ähnliche Odyssee erlebt hatte. Ihr waren aufgrund einer parodontalen Problematik sämtliche Zähne entfernt worden. Sie habe mit den gelockerten Zähnen zwar keine Schwierigkeiten gehabt, sei aber dennoch froh gewesen, dass die Zähne entfernt wurden. Nur ungern berichtete sie, dass sie sich damals weiße, kleinere Zähne gewünscht habe. Mit der dann angefertigten Totalprothese sei sie gar nicht zurechtgekommen. Man erfuhr, dass sie sich den Zahnersatz so, wie er eingegliedert worden sei, nicht vorgestellt hatte. Ihr sei das Ausmaß der Veränderung auch nicht erklärt worden. Sie habe sich doch nur ein schöneres Aussehen gewünscht, nachdem sie aufgrund familiärer Verpflichtungen viele Jahre kaum Zeit für sich selbst gehabt habe. Sie habe sich dann entschlossen, zur Stabilisierung der Prothese Implantate eingliedern zu lassen. Damit habe sie solche extremen Beschwerden erlitten, dass diese schließlich nach zwei Jahren herausgenommen worden seien. Nachdem sie nun viele Jahre versucht habe, sich an die Prothese, die nachweislich gut ausgeführt war, zu gewöhnen, habe sie sich erneut entschlossen, Implantate eingliedern zu lassen. Die Technik sei ja auch besser geworden. Weder röntgenologisch noch klinisch konnte eine Schmerzursache festgestellt werden. Dennoch wurde die Patientin nicht müde, den Behandler zu finden, der alles wieder explantierte. Erklärungen im Sinne des biopsychosozialen Krankheitsmodells hörte sie sich zwar geduldig an, wehrte aber einen entsprechend ausgerichteten Therapieansatz vehement mit den Worten ab, das habe sie ja auch schon alles versucht. Retrospektiv betrachtet muss man in diesem Fall davon ausgehen, dass bereits bei der Extraktion der Zähne zu wenig Wert gelegt wurde auf eine ausreichende Kommunikation mit der Patientin. Offensichtlich wurde die Erwartungshaltung der Patientin nicht abgefragt, weil davon ausgegangen wurde, dass die Behandlung im Sinne der Zahnentfernung und prothetischen Versorgung ihren Wünschen entsprach. Dass, abgesehen vom Wunsch nach besserer Optik, die eigentliche Befundsituation sie jedoch zu keinem Zeitpunkt belastet hatte und sie daher die geplante Maßnahme unter diesem Aspekt nicht als Entlastung würde empfinden können, wurde nicht berücksichtigt. Aus Sicht der Psychosomatik wäre es zu diesem Zeitpunkt wünschenswert gewesen, wenn dem behandelnden Kollegen aufgefallen wäre, dass die Patientin, die sich eigentlich nur zu einer Routinekontrolluntersuchung vorgestellt hatte und keinen herausnehmbaren Zahnersatz trug, über die Tatsache, dass sämtliche Zähne entfernt werden sollten, überhaupt nicht erschrocken war, sondern dieser Maßnahme eher freudig zustimmte. Die Frage, was sie sich denn von einer prothetischen Versorgung versprach, hätte die Möglichkeit eröffnet, die Problematik der Erwartungshaltung zu diskutieren.

Gleiches gilt für die Indikationsstellung im Rahmen der ersten implantologischen Behandlung.

Die gesamte Vorgeschichte hätte natürlich auch vom zweiten Implantologen eruiert werden müssen, um gegebenenfalls die von ihm gestellte lokale Indikation zu überdenken und eine interdisziplinäre Diagnostik und Therapie einzuleiten, zumindest aber um die Patientin davor zu schützen, dass sie ein zweites Mal ein solches Desaster erlebt.

Bewertung aus juristischer Sicht

Abschließend stellt sich natürlich auch noch die Frage, wie die Maßnahmen der drei Behandlungsabschnitte aus juristischer Sicht zu bewerten sind.

Man könnte sich gut vorstellen, dass die Patientin – angesichts des desaströsen weiteren Verlaufs ihrer zahnärztlichen Krankengeschichte – bereits die Extraktion ihrer Zähne hätte monieren können, weil diese nicht indiziert gewesen sei, sie aber zumindest nicht ausreichend aufgeklärt und in die Entscheidungsfindung einbezogen worden sei. Dem stünde durchaus nicht entgegen, dass sie seinerzeit – möglicherweise in laienhaftem Unverstand – mit der Extraktion formal einverstanden gewesen sein mag. Im Falle einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme durch die Patientin wäre dem seinerzeit behandelnden Kollegen zu wünschen, dass er vor Extraktion einen aussagekräftigen sowohl röntgenologischen wie auch klinisch-parodontologischen Befund erhoben und dokumentiert hat, aus dem sich eindeutig zumindest die fachliche Vertretbarkeit der Extraktionen ergibt. Weiterhin sollte sich der Dokumentation entnehmen lassen, dass mit der Patientin die Problematik besprochen wurde und sie im Bewusstsein der dann notwendigen totalprothetischen Versorgung mit der Gesamtbehandlung einverstanden war.

Dem nächsten Behandler, der die ersten Implantate setzte, wird man juristischerseits abverlangen, dass er sich im Zuge seiner Implantatberatung ein Bild davon gemacht hat, welche Beschwerden die Patientin konkret hatte und insbesondere natürlich, ob Implantate geeignet waren, diesen Beschwerden entgegenzuwirken. Implantate sind – auch im zahnlosen Kiefer – kein Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck. Das muss dem Zahnarzt und dem Patienten bei der Indikationsstellung bewusst sein. Das Einverständnis des Patienten muss sich mithin erkennbar auf diesen wichtigen Aspekt beziehen.

Gleiches gilt selbstredend für den dritten Kollegen, der die zweite Implantation durchführte. Es ist schwer vorstellbar, dass ihm bei ausreichend sorgfältiger Erhebung der Vorgeschichte die mehrdimensionale Problematik dieses Falles verborgen geblieben wäre.

Sorgfaltspflicht, Aufklärungspflicht und Dokumentationspflicht sind eben nicht lästige Formalismen, sondern integrale Bestandteile des Behandlungsvertrags.

„Somatopsychische“ Erkrankung

Eine 42-jährige Patientin stand vor der Entscheidung, sich im Unterkiefer nach Verlust eines endständigen Pfeilerzahnes eine herausnehmbare Konstruktion eingliedern zu lassen oder eine festsitzende, implantatgetragene Konstruktion durchführen zu lassen. Da sie sich mit Anfang 40 zu jung fühlte für eine herausnehmbare Konstruktion, entschied sie sich für die deutlich teurere implantologische Lösung. Die Einheilung der Implantate erfolgte komplikationslos. Die erste Überraschung erlebte die Patientin, als sie vor der prothetischen Versorgung einen weiteren Heil- und Kostenplan bekam. Sie war davon ausgegangen, dass der erste Plan alle Kosten enthalten hatte, sah sich aber trotz angespannter finanzieller Verhältnisse gezwungen, die Behandlung fortzusetzen.

Direkt nach Eingliederung der Suprakonstruktion bemerkte sie, dass sie auf der linken, neu versorgten Seite gar keinen Zubiss hatte (Abbildung 3). Sie ließ sich mit dem Hinweis auf eine notwendige Eingewöhnungszeit jedoch beruhigen. Nach etwa zwei Wochen verspürte sie beim Versuch des Zubeißens derart intensive Schmerzen, dass sie ihren Zahnarzt erneut aufsuchte. Dieser kontrollierte nochmals den Zubiss und bestätigte, dass alles bestens sei. Sie wartete weitere drei Wochen ab, erlebte jedoch eine zunehmende Schmerzintensivierung. Hinzu kam eine morgendliche Einschränkung der Mundöffnung. Ihr Mann, der eine ähnliche Versorgung einige Jahre zuvor beim gleichen Zahnarzt bekommen hatte, habe ihr immer wieder gesagt, dass sie sich an die neue Situation gewöhnen müsse und es gar nicht so schlimm sein könne. Sie habe es schließlich nicht mehr aushalten können und erneut den Zahnarzt aufgesucht. Als dieser sie dann in Gegenwart ihres Mannes quasi ausgelacht habe, sei sie verzweifelt. Ohne weitere Maßnahme habe der Zahnarzt sie dann im Behandlungszimmer sitzen lassen. Er habe sich offensichtlich gekränkt gefühlt, weil sie immer wieder geklagt habe. Sie habe dann versucht, Hilfe bei einem anderen Kollegen zu bekommen. Als sie dort jedoch berichtete, dass sie es als Entlastung erlebe, wenn sie auf ein Taschentuch beiße, habe dieser ihr empfohlen, einen Neurologen oder Psychosomatiker aufzusuchen. Das habe sie auch befolgt und von einem Neurologen dann auch schmerzstillende und beruhigende Medikamente erhalten. Da sie sich zunehmend alleine gelassen gefühlt habe und es kaum mehr habe aushalten können, habe sie während der Weihnachtsfeiertage offensichtlich die Medikamente zu hoch dosiert. Die Patientin wurde mit dem Verdacht auf Suizid in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Nach Entlassung suchte sie nochmals einen anderen Zahnarzt auf, der ihren Beschwerden Glauben schenkte und die Beschwerden mithilfe funktionsdiagnostischer Maßnahmen objektivierte. Eine im Rahmen dieser Maßnahmen festgestellte deutliche Nonokklusion im Bereich der Neuversorgung (Abbildung 4) wurde zunächst mithilfe einer Aufbissschiene ausgeglichen.

Darauf reagierte die Patientin innerhalb kurzer Zeit mit starker Schmerzlinderung. Nach etwa drei Monaten war sie schmerzfrei. Die Patientin verklagte schließlich ihren Zahnarzt.

Juristische Epikrise

Das Landgericht verurteilte den Zahnarzt zur Zahlung der für die gesamte Neuversorgung entstandenen und noch entstehenden Kosten sowie zu 4 000 Euro Schmerzensgeld. Sachverständig beraten stellte es fest, dass die objektiv fehlerhaft gestaltete Okklusion auf einen fahrlässig verursachten Behandlungsfehler zurückzuführen war und es dem Zahnarzt trotz mehrfacher Nachbesserungsversuche nicht gelungen sei, eine physiologische Okklusion herzustellen, obwohl dies objektiv möglich war. Die fehlerhafte Behandlung habe zu einer Myoarthropathie sowie konsekutiv zu einer Anpassungsstörung mit anhaltender depressiver Reaktion geführt. Die Gesundheit der Patientin sei fahrlässig und rechtswidrig geschädigt worden. Eine psychische Störung der Patientin bereits vor Behandlungsbeginn sei angesichts des Gesamtzusammenhangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Vielmehr sei die psychische Mitbeteiligung eine Folge der behandlungsfehlerhaft herbeigeführten Körperverletzung, was um so augenscheinlicher sei, als nach Herstellung physiologischer Verhältnisse und Fortfall der somatischen Schmerzproblematik die Patientin auch psychisch wieder stabil geworden sei.

Angesichts der ohnehin großen Probleme und Frustration, die die Behandlung psychosomatisch kranker Patienten mit sich bringen kann, erscheint es aus ärztlicher Sicht um so beklemmender, wenn iatrogen ein psychisch gesunder Patient durch eine fahrlässige Fehlbehandlung, sozusagen somatopsychisch, in eine depressive Reaktion manövriert wird.

Fazit

Alle drei Beispiele zeigen die dringende Notwendigkeit für den Zahnarzt, sich eine psychosomatische Grundkompetenz anzueignen, um auch in dieser Hinsicht gerüstet zu sein.

PD Dr. Anne WolowskiUni.-Prof. Dr. Dr. Ludger FiggenerPoliklinik für Zahnärztliche Prothetik und WerkstoffkundeWestfälische Wilhelms Universität MünsterUniversitätsklinikum MünsterWaldeyerstr. 3048149 Münsterwolowski@uni-muenster.de

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