Der besondere Fall

Plattenepithelkarzinom auf dem Boden eines Lichen ruber

227202-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
Der vorliegende Fall stellt eine besonders interessante Situation dar und ist auch für den niedergelassenen Zahnarzt von großem Interesse, um das Auge zur Differentialdiagnose zu schulen.

Eine 58-jährige Patientin wurde aufgrund einer Mundschleimhautveränderung in unsere Klinik überwiesen. Die Patientin stellte sich zunächst bei vordiagnostiziertem Lichen ruber mucosae mit zunehmenden Schmerzen bei ihrem Hauszahnarzt vor, der eine lokale Schmerztherapie mit der Applikation von schmerzstillenden Haftsalben durchführte. Bei ausbleibender Besserung und zunehmender Sorge wurde die Patientin in unsere Klinik überwiesen.

Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich das für einen Lichen ruber mucosae typische Bild der Wickham-Streifen im Planum buccale beidseits sowie an der Zunge. Im Bereich des vorderen Mundbodens mit Übergang zur Zungenunterseite stellte sich eine größerflächige erosive Veränderung der Mundschleimhaut dar (Abbildung 1). Die restliche Mundschleimhaut wies zwar die bereits erwähnte Wickham-Streifung auf, erosive Läsionen zeigten sich jedoch nicht weiter.

Die Patientin hatte die aktuell bestehende erosive Veränderung bereits vor zwei Monaten bemerkt, diese sei jedoch im letzten Jahr im Mundbodenbereich häufiger aufgetreten. Nun zeigte sich die Erosion zwar wie üblich leicht schmerzhaft, persistierte aber und wies keine Besserungstendenz auf, so dass sie nach drei Wochen den Zahnarzt aufsuchte. Ein Zusammenhang zur Nahrungsaufnahme oder der Hinweis auf einen anderweitig assoziierten Zusammenhang mit chemischen oder physikalischen Noxen, die die Erosion ausgelöst haben könnten, bestand nicht. Klinisch zeigte sich keine regionäre Lymphknotenvergrößerung. Ein Nikotinabusus lag bei der Patientin anamnestisch nicht vor. Lediglich ein bis zwei Gläser Wein konsumiere die Patientin gelegentlich. In der durchgeführten CT des Kopfes/Halses stellte sich die erosive Veränderung im Bereich des Mundbodens beziehungsweise der Zunge aufgrund von Zahnartefakten nur geringfügig als Kontrastmittelanreicherung in der Region dar, kleinere, jedoch nicht vergrößerte Lymphknoten zeigten sich im Halsbereich beidseitig (Abbildung 2).

In Lokalanästhesie wurde im Randbereich eine Probebiopsie entnommen. Der korrespondierende histopathologische Befundbericht zeigte ein invasives Plattenepithelkarzinom im Bereich des Mundbodens und der Zunge sowie eine lymphoplasmazelluläre Entzündungszellreaktion korrelierend mit der klinischen Diagnose eines Lichen ruber mucosae im linken Randbereich der Zungen- und Mundbodenschleimhaut. Anschließend erfolgte ein präoperatives Staging der Patientin, das einen unauffälligen Status in den durchgeführten Untersuchungen aufwies.

In Intubationsnarkose wurde der Befund von intraoral dargestellt. Die klinisch sichtbare Erosion wurde radikal mit einem Sicherheitsabstand von > 0,5 cm reseziert, zudem eine elektive supraomohyoidale Lymphknotenexstirpation beidseits durchgeführt. Nach erfolgter radikaler Resektion zeigte sich ein Gewebedefekt von 5 cm x 4,5 cm x 0,7 cm Größe, so dass die Versorgung der Defektregion mittels eines mikrochirurgisch reanastomosierten Radialistransplantats erfolgte (Abbildung 3). Postoperativ bestätigte sich die histologische Diagnose eines invasiven Plattenepithelkarzinoms, die postoperative Tumorformel lautete pT1, pN0, pMX, G2, R0. Die Patientin zeigte eine gute Rekonvaleszenz mit intakter Schluck- und Sprachfunktion und fühlt sich aktuell nicht durch den operativen Eingriff eingeschränkt.

Diskussion

Der Lichen ruber mucosae ist eine chronische und nichtinfektiöse Erkrankung der Haut und der Schleimhäute, sowie der Hautanhangsgebilde. Die Erkrankung kann mit charakteristischen hyperkeratotischen Papeln mit gräulich bis weißlich feiner, nicht abwischbarer Netzstreifung einhergehen, die in der Mundhöhle als klinisch typische Wickham-Streifen bekannt sind. Das Krankheitsbild wurde erstmalig 1869 von Erasmus Wilson beschrieben und besteht bei den Patienten häufig mehrere Monate bis jahrelang. Die Abheilung erfolgt zumeist spontan, die Therapie besteht in der symptomatischen Behandlung der selten fremdartig trockenen oder brennenden Läsionen. Die Ätiologie der Erkrankung ist bisher weitestgehend unklar, Vermutungen über autoimmunulogische Zusammenhänge konnten bisher nicht sicher bestätigt werden [Biocina-Lukenda et al., 1998]. Das lokale Auftreten von lichenoiden Veränderungen im Bereich von Zahnersatz aus Amalgam- oder Goldlegierungen wird regelmäßig beobachtet. Diese Legierungen werden als Triggerfaktoren für das Auftreten eines Lichen ruber mucosae der Mundschleimhaut betrachtet. Die Beseitigung beziehungsweise der Austausch der Restaurationen führt meist zum prompten Abklingen der Symptome und wird deshalb von einigen Autoren befürwortet [Dunsche et al., 2003; Kato et al., 2003]. Beobachtungen über eine spontane Abheilung ohne zahnärztliche Intervention sind jedoch ebenfalls beschrieben [Bork et al., 2008]. Als weitere Besonderheit ist auch die erhöhte Verletzbarkeit der Mundschleimhaut bei vorliegendem Lichen ruber zu betrachten. So können bei Prothesenträgern erosive Schleimhautveränderungen auftreten, die als Antwort auf die mechanische Irritation zu sehen sind. Da bei den Patienten bei Prothesenkarenz die Läsionen abheilen, werden diese in einigen Fällen fälschlicherweise als allergische Reaktionen, bezogen auf den Prothesenkunststoff, fehlgedeutet [Bork et al., 2008; Xue et al., 2005].

Die Mundschleimhaut ist in 15 bis 70 Prozent der Fälle isoliert durch den Lichen ruber mucosae befallen, in 25 bis 35 Prozent der Fälle liegt ein synchroner Befall mit der Haut vor. Die Hauptlokalisation dieser Veränderung in der Mundhöhle liegt am Planum buccale (~80 Prozent), an der Zunge (~50 Prozent), am Lippenrot (~20 Prozent), am Gaumen (~15 Prozent) und an der Gingiva (~10 Prozent). Auch die Tonsillen oder der Pharynxbereich können befallen sein, dies stellt jedoch eine Rarität dar [Bork et al., 2008; Xue et al., 2005]. Die Plaque-Form des Lichen ruber mucosae ist besonders häufig an der Zunge lokalisiert. Der Befall ist meist symmetrisch, kann jedoch auch einseitig auftreten.

Eine weitere Unterform stellt der Lichen ruber erosivus dar, bei der kleinere oder auch größere Areale erodiert oder ulzeriert sind. Sie sind Zeichen einer ausgeprägteren Form und bestehen meist längere Zeit, imponieren mit einer Fibrinschicht auf der Oberfläche und treten bei etwa sieben Prozent aller Patienten mit Lichen ruber mucosae der Mundhöhle auf. Neben den klinisch bestehenden Schmerzen oder dem Brennen im Bereich der Läsionen, die die Patienten meist zum Zahnarzt führen, können sich im Bereich dieser Herde, wie auch bei der vorliegenden Patientin, in seltenen Fällen Plattenepithelkarzinome entwickeln [Carbone et al., 2009; Fang et al., 2009; Rajentheran et al., 1999]. Das Auftreten eines Plattenepithelkarzinoms wird fast ausschließlich bei erosiven oder ulzerösen Läsionen beobachtet und tritt zwischen 0,8 bis fünf Prozent der Fälle mit oralem Lichen ruber mucosae auf [Carbone et al., 2009; Fang et al., 2009; Rajentheran et al., 1999; Cribier, 1999]. Zusätzlich bestehen als weitere Risikofaktoren meist ein Nikotin- und ein Alkoholabusus.

Aufgrund der malignen Entartungsmöglichkeit ist bei Patienten mit erosiven oder ulzerösen Läsionen eine Lokaltherapie notwendig. Diese besteht entweder aus topisch applizierten Medikamenten wie 0,1 Prozent Betamethason-haltiger oder Triamcinolonhaltiger Haftpaste. Weitere Therapeutika wie Tacrolimus, Azathioprin, Retinoide, Ciclosporin, Dapson und Thalidomid sind häufig nicht ausreichend wirksam und/oder wegen der erheblichen unerwünschten Nebenwirkungen streng zu prüfen [Cribier, 1999; Dereure et al., 1996; Eisen et al., 1990]. Als weitere Therapiemöglichkeit wird neben der extrakorporalen Photopherese [Becherel et al., 1998] auch die Anwendung des CO 2-Lasers [Deppe et al., 2007] als etablierte Methode betrachtet (Abbildung 4).

Trotz lokaler Therapie sollten die Patienten langfristig und sorgfältig überwacht werden, um zum einen erosive oder ulzeröse Läsionen als prämaligne Läsionen frühzeitig zu therapieren, aber auch um auftretende Plattenepithelkarzinome bei diesen Patienten – wie im vorliegenden Fall verzögert diagnostiziert – rechtzeitig zu erkennen und zu therapieren. Die sorgfältige Inspektion und Palpation der Mundhöhle, insbesondere auch des Zungengrundes, sollte standardisiert bei diesen Patienten alle drei Monate durchgeführt werden. Ist dies nicht sicher möglich, so sollte eine Spiegelung durch den HNO-Arzt erfolgen. Über bestehende Risikofaktoren wie Nikotin- und Alkoholgenuss sollten die Patienten ebenfalls (regelmäßig) aufgeklärt werden. Die Erkennung und Behandlung von Vor- und Frühstadien scheinen die einzigen Möglichkeiten für eine Prognoseverbesserung bei oralen Plattenepithelkarzinomen zu sein. Daher kommt dem Zahnarzt eine besondere Verantwortung in der Früherkennung prämaligner Läsionen zu. Jede suspekte Läsion, die nicht innerhalb von zehn Tagen eine Ausheilung zeigt, ist als tumorverdächtig zu werten, bis zum Beweis des Gegenteils. Eine weitere fachzahnärztliche beziehungsweise fachärztliche Konsultation ist hier dringend zu empfehlen. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass eine regelmäßige Kontrolle prämaligner Läsionen dringend angezeigt ist, um frühzeitig bei einer malignen Entartung adäquat therapieren zu können.

Dr. Thomas MückePriv.-Doz. Dr. Dr. Frank HölzleUniv.-Prof. Dr. Dr. med habil. Herbert DeppeKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieTechnische Universität MünchenKlinikum Rechts der IsarIsmaninger Str. 2281675 Münchenth.mucke@gmx.de

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