Der Mensch im Tier
Viele Jahrhunderte lieferte die Kirche den Menschen für die Vielfalt der Natur eine einfache Erklärung: In einem einmaligen Schöpfungsakt erschuf Gott die Arten und bildete damit eine unveränderliche Lebensgemeinschaft von Pflanzen, Tieren und Menschen. Erst mit Charles Darwins Evolutionstheorie kam dieses Art-Konzept ins Wanken, der Artbegriff verlor immer mehr an Klarheit und bringt Biologen bis heute in Erklärungsnot. Denn Merkmale wie Aussehen, Verhalten und genetische Ausstattung legen oft andere verwandtschaftliche Verhältnisse nahe, als es durch die klassische Zuordnung gegeben ist. Vereinfacht gilt jedoch weiterhin die Regel: Nur wenn zwei Tiere fruchtbare Nachkommen miteinander zeugen können, gehören sie zu einer Art. Ein gutes Beispiel dafür sind Pferd und Esel, deren gemeinsame Nachkommen Maultier beziehungsweise Maulesel in der Regel nicht zur Reproduktion fähig sind.
Chimären in der Mythologie
Diese naturgegebene Artgrenze fasziniert den Menschen seit Jahrtausenden. In ihrer Fantasie erschufen schon die alten Ägypter und später auch die Griechen mystische Mischwesen wie die Sphinx, einen Löwen mit einem Menschenkopf. Auch die Chimäre, die heute bestimmten Mischwesen ihren Namen verleiht, ist ein Wesen der griechischen Mythologie. Als feuerspeiendes Ungeheuer mit den Köpfen eines Löwen, einer Ziege und einer Schlange sorgte sie für Angst und Schrecken. Zentaur, Satyr, Faun, Pan oder Meerjungfrauen – die Liste absonderlicher Mensch-Tier-Kombinationen in den Köpfen unserer Vorfahren ist lang. Und so mag es anfangs in der genetischen Forschung auch nur wenig Bedenkenträger gegeben haben, die beim Überschreiten der Artgrenze Skrupel entwickelten. Das Aushebeln der naturgegebenen Barrieren begann als schleichender Prozess. Mit der Erkenntnis, dass bestimmte DNA-Abschnitte den Bauplan für bestimmte Proteine liefern, startete auch eine Ära des Gentransfers – für die Forschung interessante Gensequenzen wurden in sogenannte Modellorganismen übertragen, die mit ihrer neuen Erbinformation nun zusätzlich ganz artfremde Proteine produzierten. Oft waren dies menschliche Gene, von deren erfolgreicher Verpflanzung sich sowohl die medizinische Forschung als auch die Pharmaindustrie große Fortschritte versprachen.
Kaum Widerstand gegen Gentransfer
Mitte der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es dann Schafe, Kaninchen und Schweine, die mit fremden Genen unter anderem menschliche Wachstumshormone produzierten. Einen großen Aufschrei in der Bevölkerung lösten diese Tabubrüche der biologischen Forschung nicht aus. Denn der Transfer einzelner Gensequenzen erscheint zwar wie ein Griff in die Trickkiste biotechnologischer Möglichkeiten, wirkt aber nach außen nicht wie ein Angriff auf die Integrität der Weltordnung. Und so gibt es heute Mäuse mit menschlichen Genen für Blutzellen, Kühe, die menschliche Sexualhormone produzieren, und – wie jüngst wieder berichtet – Kühe, die mit vielen menschlichen Proteinen versetzten Muttermilchersatz erzeugen. Mit wenig Rücksicht auf den Tierschutz und im Dienste der Menschheit sind solche Errungenschaften der Wissenschaft weitestgehend akzeptiert.
Manipulationen mit größeren Effekten
Doch neuere Erkenntnisse der Genetik und der Entwicklungsbiologie erlauben heute noch weiter gehende Eingriffe in die Prozesse der Embryonalentwicklung. Bestimmte Forschungszweige haben ein Interesse daran, Mischwesen zu generieren, die den Kreaturen der griechischen Mythologie näher kommen als Tiere mit einzelnen, unscheinbaren menschlichen Genen. So versuchen Transplantationsmediziner menschliche Organe in Tieren zu züchten und Aids-Forscher experimentieren mit „humanisierten“ Mäusen, die ein menschliches Immunsystem besitzen. Besonders die Verbesserung von Klonierungsverfahren eröffnet Reproduktionswissenschaftlern Möglichkeiten, die mancher Kritiker als modernes Frankenstein- Szenario infrage stellt. Vor rund zehn Jahren übertrugen Forscher in der chinesischen Provinz Kanton die Zellkerne eines siebenjährigen Jungen in die Eizellen von Kaninchen. Hintergrund der Versuche ist vor allem die Absicht, auf einfache Weise und ohne den Einsatz menschlicher Eizellen an menschliche embryonale Stammzellen zu gelangen – Zellen also, die sich noch in jeden beliebigen Zelltyp wandeln können und von denen man sich künftig zahlreiche therapeutische Anwendungen erhofft.
Menschen-DNA in Tiereizellen
Im Jahr 2003 teilte sich eine derart behandelte Eizelle immerhin bis zum Blastocysten-Stadium, so dass eine Gewinnung von Stammzellen möglich gewesen wäre. Dass auf diese Weise die Reifung eines Mischwesens initiiert wurde, ist nur ein unbeabsichtigter Teil des Experiments. Denn auch wenn der menschliche Zellkern nahezu das gesamte Erbmaterial an alle Folgezellen weitergibt, befindet sich in der entkernten tierischen Eizelle noch ein Rest DNA des Kaninchens – etwa 0,1 Prozent. Die DNA liegt nicht in Form eines Chromosoms vor, sondern befindet sich in den Mitochondrien der Eizelle. Auch diese teilen sich im Verlauf der Reifung und versorgen alle neu entstandenen Zellen mit Energie. Da die Vermischung des Erbmaterials nur im Zellsaft, dem Cytoplasma stattfindet, sprechen Experten in diesem Fall auch eher von Cybriden als von echten Hybriden. Im Jahr 2007 sorgte ein ähnliches Experiment mit einer Kuh-Eizelle für viel Furore: Erstmals stellten britische Forscher einen Antrag, menschliche DNA in die Spenderzelle einer Kuh zu übertragen.
Briten wagen umstrittene Experimente
2008 genehmigte die britische Aufsichtsbehörde den Versuch und wenige Monate später gelang Lyle Armstrong und seinen Mitarbeitern der Transfer eines menschlichen Hautzellkerns in eine Kuh-Eizelle. Das sich daraus entwickelnde Leben wurde nach drei Tagen vernichtet. Die Wissenschaftler feierten dieses Experiment als Erfolg, doch in der öffentlichen Wahrnehmung stieß es – vor allem hierzulande – auf Ablehnung. In Großbritannien hingegen war man der Embryonenforschung gegenüber eher aufgeschlossen: In einer Abstimmung votierten mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für entsprechende Hybrid-Experimente. Ende 2008 verabschiedete daraufhin die britische Regierung ein Gesetz zur Stammzellenforschung, das derartige Experimente generell zulässt. Für die Kritiker der Gentechnologie oder der Reproduktionsmedizin war dies der Anlass, eine öffentliche Debatte über die ethischen Grenzen der modernen Biologie anzustoßen.
Die Deutschen haben ethische Bedenken
Dass mittlerweile auch in Europa mit menschlicher DNA fragwürdige Züchtungsversuche unternommen wurden, nötigte in Deutschland nicht nur Kirchenvertreter zu einer klaren Positionierung. So nannte auch der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, die Versuche „ethisch verwerflich“ und erklärte in einer Chemnitzer Tageszeitung: „Forschung braucht Grenzen, damit sie nicht in Allmachtsfantasien abgleitet.“ Bundesforschungsministerin Annette Schavan bewertete die Entscheidung des britischen Parlaments als falsch und betonte, dass eine solche Forschung für Deutschland „überhaupt kein Thema“ sei. Doch welche Hürden derartige Projekte in deutschen Laboren zu überwinden hätten, bleibt juristisch fraglich. Denn streng genommen sind die Zellexperimente durch das Embryonenschutzgesetz bislang nicht klar geregelt. Eine Überarbeitung bestehender Gesetze und entsprechende Ergänzungen könnten somit in naher Zukunft nötig werden. Damit Parlamentarier im Bundestag bei ethisch komplizierten Entscheidungen eine fundierte Orientierungshilfe haben, befasst sich der nationale Ethikrat intensiv mit gesellschaftlich umstrittenen Themen und erarbeitet entsprechende Empfehlungen. Präimplantationsdiagnostik, Kosten im Gesundheitswesen oder Babyklappen stehen dabei auf dem Programm der Ratsmitglieder, die allesamt nicht dem Bundestag angehören.
Ethikrat bildet sich eine Meinung
Auch die Schaffung von Mischwesen beschäftigt seit 2009 den Rat, der dazu Anfang 2010 eine große Anhörung veranstaltet hat. In der öffentlichen Sitzung erläuterten Vertreter unterschiedlicher Institutionen ihre Positionen – und brachten so den langwierigen Lernprozess des Rates weiter voran. Vermutlich wird bis Ende des Jahres eine Stellungnahme zum Thema Mischwesen dem Bundestag übergeben werden. Darin werden neben der oben erwähnten Cybrid-Forschung und der Arbeit mit transgenen Versuchstieren auch Chimären-Experimente mit Affen beleuchtet werden. „Aufgrund der nahen Verwandtschaft mit dem Menschen, sind Affen für die Forschung zwar attraktiv, ethisch sind solche Versuche aber höchst umstritten“, erklärt Wolf-Michael Catenhusen, Sprecher der Arbeitsgruppe des Rates. Die nahe Verwandtschaft zum Affen ist es auch, die vielen Menschen beim Thema Zell- oder Gentransfer ein mulmiges Bauchgefühl bereitet. Seit dem Ende der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als unter Stalin der Biologe Ilja Iwanow aus Menschen und Schimpansen durch Kreuzung den Urmenschen rekonstruieren wollte, sind derartige Tabubrüche nicht mehr ernsthaft verfolgt worden. Doch neue Therapieoptionen machen es fast zwangsläufig nötig, fragwürdige Grenzen zu überschreiten. So ist die Injektion von Stammzellen in bestimmte Hirnregionen seit geraumer Zeit ein Hoffnungsschimmer für Parkinson-Patienten. Doch zur Erforschung der Wirksamkeit der Methode sind Affen ein wichtiges Tiermodell. Und so berichteten US-Forscher 2007 von einer kurzzeitigen Besserung von Parkinson-Symptomen bei Meerkatzen nach der Injektion menschlicher Stammzellen in deren Basalganglien.
Affen-Experimente werfen Fragen auf
Vor dem Hintergrund, dass die Verpflanzung von Hirnzellen auch Verhaltensänderungen nach sich ziehen kann, lässt einen der experimentelle Ansatz schon erschaudern. Denn auch wenn ähnliche Effekte im Mensch-Affen-Experiment kaum zu erwarten sind: Versuche, bei denen Wachtelhirnzellen in einen Hühnerembryo transferiert wurden, brachten Hühner mit glucksenden Wachtellauten hervor. Doch welche Veränderungen erfährt ein Affe mit menschlichen Hirnzellen, mit welchen neuen Fähigkeiten wird er ausgestattet und wie lange kann man ihm noch die menschliche Würde absprechen?
Möglicherweise zeigt sich hier, in welchem Dilemma der Mensch ethisch und moralisch ohnehin schon steckt. Denn der große moralische Abstand der seit Jahrhunderten zwischen Mensch und Tier gelebt wird, scheint sich zu verringern. Mehr und mehr sieht sich der Mensch in der Verpflichtung auch für das Wohl und die Würde der Tiere einzutreten. Schon jetzt ist die Tierwürde in der Schweizer Verfassung verankert, die Zahl der Vegetarier steigt stetig und die neueste Tierschutzrichtlinie der EU ist weit strenger als viele Gesetze zuvor. Der Trend zu größerer Verantwortung gegenüber dem tierischen Leben ist unverkennbar und wird sich auch in politischen Programmen niederschlagen. Neuere Erkenntnisse über die Leidensfähigkeit von Primaten und die Ähnlichkeit vieler physiologischer und emotionaler Prozesse bei Mensch und Affe werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Ethikrat beeinflussen, wenn er in diesem Sommer seine Empfehlung für den Bundestag verfasst.
Dr. Mario B. LipsWissenschaftsjournalistDudenstr. 3410965 Berlin