Gastkommentar

Politisches Erdbeben

Vorwiegend die Angst, ein Reaktorunfall wie in Japan könnte auch hierzulande passieren, entschied die Wahl in Baden-Württemberg. Darüber ging so manch Besonnenheit verloren, meint Klaus Heinemann, freier Journalist.

Es ist nahezu unmöglich, sich heute zu politischen oder gesellschaftlichen Angelegenheiten zu äußern, ohne Bezug auf die schrecklichen Ereignisse in Japan zu nehmen. Und wieder einmal ist in der deutschen Reaktion eine deutliche Tendenz hin zur Hysterie zu konstatieren; ein Unglück in Japan entscheidet hierzulande Parlamentswahlen.

Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe im viele Tausend Kilometer entfernten Nippon haben inzwischen das politische Koordinatensystem in der Bundesrepublik gehörig verschoben. Eine nach Tschernobyl argumentativ mühsam beruhigte Überreaktion brach sich, mit voller Unterstützung einschlägiger elektronischer und Printmedien, nahezu brutal Bahn. Die nach den Verheerungen vereinzelt wahrzunehmenden, zur Vernunft ratenden Stimmen versanken umgehend in einem politisch erzeugten Strudel. Galt es doch, den durch diese tektonischen Erschütterungen erzeugten Orkan umzuleiten auf die Mühlen derer, die damit Wahlkampf zu machen gedachten.

Es ging und geht notabene in der seit Langem anhaltenden Debatte um die Kernkraft nicht darum, die Augen vor der Problematik dieser Energiequelle zu verschließen. Vor allem deshalb nicht, weil die Frage der Endlagerung abgebrannter Stäbe weder bei uns noch in den meisten Nachbarländern gelöst ist. Es ist jedoch nicht seriös und wird einer nüchternen Betrachtung nicht standhalten, nun den sofortigen Ausstieg aus der Stromerzeugung durch Atomkraftwerke zu fordern.

In diesem Fall müsste zunächst die Frage beantwortet werden, durch welche Energieform die dann entstehende Lücke gefüllt werden soll. Oder ob wir uns – was die Energieversorgung anbelangt – in noch größere Abhängigkeit von Lieferungen aus dem Ausland begeben wollen. Zum Beispiel aus Frankreich, wo der Strom in weit höherem Maße aus Kernenergie gewonnen wird. Mit dem Schüren von Angst – „German Angst“ – können Emotionen vielfältigster Art geweckt und unmittelbar in politische Vorteilsnahme umgemünzt werden. Das ist passiert. Der Preis ist hoch. Zugleich wurde die ebenso rasche wie besonnene Reaktion der Bundesregierung (Moratorium, Überprüfung der Sicherheitsstandards, Abschaltung, Verkürzung des Ausstiegsszenarios) geradezu wütend denunziert. Das wird den Preis weiter erhöhen, politisch wie ökonomisch.

Wer sich den Tort angetan und die diversen TV-Sendungen zum Thema mitvollzogen hat, musste sich wiederholt die Frage vorlegen, über welches Land die Moderatoren, Kommentatoren und Autoren eigentlich räsonierten. Da wurde vielfältig ein Zustand beschrieben, als stünden auch wir unmittelbar vor einem GAU, als ginge es nun darum, endlich den Startknopf für den Einstieg in sogenannte erneuerbare Energien zu drücken. Die Tatsache, dass deren Anteil an der Energieerzeugung bereits im zweistelligen Bereich liegt, dass Deutschland in dieser Hinsicht wahrlich nicht die rote Laterne in Europa trägt, fiel weitgehend aus der Betrachtung. Dieselben Leute, die heute den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie fordern, sind morgen wieder auf der Straße zu finden, wenn es darum geht, den Bau neuer Überlandleitungen, moderner Kohlekraftwerke oder die Errichtung eines Windrads in der Nähe zum Eigenheim zu verhindern. Sie gehen gleichfalls heute auf die Straße, um gegen die massenhafte Verwertung von Grundnahrungsmitteln zur Erzeugung von Biosprit zu demonstrieren, dessen Einführung sie gestern vehement gefordert haben. Derartige gesellschaftliche Beben verändern die politische Landschaft, den Politikstil und – vor allem – verlagern Entscheidungen zunehmend aus den Parlamenten heraus auf die Straße. Das sollte allen jenen zu denken geben, die darüber entscheiden, ob der Weg von der repräsentativen zur direkten Demokratie eingeschlagen werden soll.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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