Alterssoziologie

Der Mythos vom erfolgreichen Altern

sf
Vereinsamte und Zurückgelassene. Auch heute noch ein verbreitetes Bild von alten Menschen. Diese bereits in der Historie verfälschte Darstellung übertrug sich nahezu ungebrochen in die Moderne, sodass sich die heutige Soziale Gerontologie dazu berufen sah, mit ihren Leitbildern des „aktiven“, „erfolgreichen“ und „produktiven Alterns“ ein konzeptionelles Gegengewicht zu den defizitären Vorstellungen von Alter und Altsein vorzulegen – Fakt oder Fiktion?

Die moderne Gesellschaft ist eine somatische Kultur [Boltanski, 1976], in der die Symbolhaftigkeit des Körpers zunehmend an Bedeutung gewinnt, als Medium der Selbstvergewisserung sowie als mediale Größe der Selbstdarstellung. Insofern spielt der Körper eine nicht unerhebliche Rolle bei der Vorstellung von einem erfolgreichen Altern. Er ist so etwas wie ein soziales Layout, das auch Auskunft über die „richtige“ und „erfolgreiche“ Lebensführung (im Alter) erteilt. In der somatischen Gesellschaft erscheint der Körper als Projekt und Aufgabe. Unter der Norm des aktiven, produktiven und erfolgreichen Alterns herrscht geradezu eine Pflicht, den Körper im Sinne von Gesundheit und Fitness zu regulieren und zu bearbeiten, aber auch im Sinne von Wellness zu konsumieren und zu genießen [Schroeter, 2006]. Der fitte Körper gilt als Ausweis des flexiblen Menschen und als korporales Kapital [Schroeter, 2005a, 2007, 2008a], das man einsetzt, um sich in einer „ungeduldigen Gesellschaft“ [Sennett, 2009] zu behaupten. Und so wird in den Körper Zeit und Arbeit investiert: Etwa durch Training, Ernährung, Kosmetik oder Pflege um auch im Alter das eigene Attraktivitäts- und „Beachtungskapital“ [Koppetsch, 2000] zu erhalten – oder vielleicht auch noch zu steigern. Damit rückt der Körper auch im Alter als konsumierende Größe verstärkt ins Blickfeld. Flankiert wird diese Körperarbeit nicht nur von Mode und Werbung, sondern auch von Lebenshilfe und Gesundheitsförderung, die auf eine erfolgreiche Korrektur der erschlaffenden Körper zielen. Insofern sind auch die zahlreichen Programme der Diäten, Schlankheitskuren und kosmetischen Chirurgie, die sportiven Trends, die Angebote der Beauty-Farms und Wellness-Oasen als Offerten an den Körper zu verstehen, seinen Symbolwert in der Gesellschaft zu steigern.

Wohlgeformte Körper als Statussymbol im Alter

In der Folge entwickelt sich geradezu eine Pflicht, den Körper nach den gesellschaftlich präferierten Normvorstellungen zu modellieren, was eine massenhafte Standardisierung und Uniformierung der Körper nach sich zieht [Schroeter, 2009].

Die Formel des „aktiven, produktiven und erfolgreichen Alterns“ lässt sich den „Dispositiven der Macht“ [Foucault, 1978] zuordnen, die bestimmte Sicht- und Verhaltensweisen auf das Alter fordern, fixieren und kontrollieren. Diese normalisierende Macht zielt darauf, sich bis ins hohe Alter different und optional zu verhalten, flexibel und mobil, aktiv und produktiv auf die Herausforderungen des modernen Lebens zu reagieren. Die damit verbundenen Programme lassen sich als sozialgerontologische Antwort auf das Unbehagen an dem weitgehend negativ gefärbten Altersbild vergangener Zeiten lesen. Beide Begriffe evozieren zwar einen positiven Bezug zum Altern, dennoch sind sie nicht identisch, aber auch nicht eindeutig voneinander getrennt. Die Grenzen verlaufen unscharf. So gibt es begriffliche Überlappungen zwischen den Vorstellungen von erfolgreichem, produktivem oder gutem Altern, wenn sich etwa das Modell der „Optimierung durch Selektion und Kompensation“ [Baltes; Baltes, 1989] als ein Interventionsmodell versteht, das dem alten Menschen erlaubt, „trotz Verlusten aktiv, erfolgreich und produktiv zu altern“ [Baltes, 1996] oder wenn produktive Tätigkeiten als ein Kriterium für erfolgreiches Altern herangezogen werden [Herzog et al., 1996].

Wenngleich beide Begriffe auch vordergründig positiv besetzt sind, so werfen sie doch ihr Licht aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Alter(n). Während der Begriff des erfolgreichen Alterns seinen Spiegel eher auf die physiologischen, psychologischen und sozialen Ressourcen und Kompetenzen älterer Menschen richtet, zielt der Begriff des produktiven Alterns eher auf die soziale Rolle und auf die gesellschaftliche Nutzbarkeit älterer Menschen, etwa im Rahmen familialer und sozialer Unterstützungsleistungen oder im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements und ehrenamtlicher Tätigkeiten [Caro et al., 1993].

Erfolgreiches Altern wurde zunächst an der Lebenszufriedenheit [Havighurst, 1961], am subjektiven Wohlergehen [George, 1978, 1981] sowie an der kompetenten Bewältigung von Lebensaufgaben und schwierigen sozialen Situationen [Havighurst, 1972; Kuypers, Bengtson, 1973] bemessen. Heute wird der „Erfolg“ bzw. neuerdings auch die „Produktivität“ und „Optimierung“ des (psychologischen) Alterns stärker an der „adaptiven Kompetenz“ [Featherman, 1989] beziehungsweise der aktiv gestaltenden Umweltaneignung [Schäffter, 1989a+b], an der Selbstentfaltung [Staudinger, 1996] und am Ausmaß vorhandener Kompetenzen auszumachen versucht [Jopp, 2003; Depp, Jeste, 2006].

Krankes, nicht-krankes und erfolgreiches Altern

Die vielleicht populärste Vorstellung eines erfolgreichen Alterns stammt von Rowe und Kahn, die damit all jene Faktoren bezeichnen, die es dem Menschen erlauben, sich im Alter physisch und mental effektiv zu betätigen [Rowe, Kahn, 1999].

Sie unterscheiden zwischen krankem und nicht-krankem Altern und differenzieren das nicht durch Krankheiten geprägte Altern noch einmal in normales und erfolgreiches Altern. Der Begriff des normalen Alterns wird von ihnen benutzt, um diejenigen Älteren zu beschreiben, die noch funktionstüchtig, aber zugleich substanziellen Krankheitsrisiken ausgesetzt sind [Rowe, Kahn, 1999]. Diesem, mit einem hohen Risiko behafteten, jedoch krankheitsfreien Altern stellen sie das erfolgreiche Altern gegenüber, das sich aus einer Kombination von drei Faktoren ergibt [Rowe, Kahn, 1997]:

• geringe Risiken für Krankheiten, krankheitsbedingte Einschränkungen oder Behinderungen

• hohe physische und mentale Kapazitäten

• aktives Engagement im sozialen Leben, inklusive interpersonaler Beziehungen und produktiver Aktivitäten.

Die Vorstellung von einem erfolgreichen Altern gilt heute in weiten Teilen der Altersforschung als ein grundlegendes Credo [Schroeter 2002, 2004], sodass auch längst Gerontologen Erfolg und Produktivität als neue Leitbilder des Alterns propagieren. Dahinter verbirgt sich kein einheitliches und in sich geschlossenes Theorieprogramm, sondern eher eine diffuse Vorstellung des Wünschenswerten, die aus dem Unbehagen an dem lange Zeit verbreiteten und negativ gefärbten gesellschaftlichen Altersbild erwuchs.

Bislang ist es trotz intensiver Forschung nicht gelungen, einen Konsens darüber zu erzielen, wie erfolgreiches Altern definiert werden soll [Jopp, 2003].

Während das erfolgreiche und produktive Altern in der psychologischen Alternsforschung noch vordergründig unter individuellen Kompetenz- und Resilienzaspekten behandelt wird, ist der soziologische Diskurs eher auf einen utilitaristischen Verwendungszusammenhang gerichtet.

Eine solche Position wird vor allem von Tews [Tews,1996] vertreten. Darin unterscheidet er folgende Formen:

• individuelle Produktivität (im Sinne der Aufrechterhaltung einer selbstständigen Lebensführung)

• intergenerative Produktivität (der innerund außerfamiliären Austauschbeziehungen zwischen Älteren und Jüngeren mehrerer Altersgenerationen)

• intragenerative Produktivität von Engagement, Hilfe und Unterstützung im Alter

• „Umfeld“-Produktivität der freiwilligen und ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie

• gesellschaftliche Produktivität der Selbstorganisation der Älteren und deren politischer und kultureller Einfluss.

In Weiterführung dieser Überlegungen wird auch zwischen interner (Autoproduktivität) und externer Nutzenstiftung (Heteroproduktivität) differenziert, die jedoch nie einseitig, sondern immer gemischt vorkommen, sodass die Handlungen, die einen individuellen Nutzen haben, in der Regel auch nutzbringend für andere sind und umgekehrt.

So bezeichnet Autoproduktivität eine Produktivität, bei der ein unmittelbarer Nutzen für die handelnde Person entsteht, die aber schwer zu messen und in Zahlen auszudrücken sind. Darunter fallen alle Aktivitäten, die zur Aufrechterhaltung der eigenen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit dienen, beispielsweise Selbstfindung und Selbstreflexion, Lernen und Weiterbilden, körperliche Aktivität oder Gesundheitsverhalten.

Heteroproduktivität bezeichnet hingegen jene Tätigkeiten, die einen Nutzen für andere bewirken und zumeist auch ökonomisch fassbar sind. Dazu zählen: Erwerbstätigkeit, ehrenamtliche Tätigkeiten und bürgerschaftliches Engagement, Hausarbeit, Kinder- und Enkelbetreuung sowie Weitergabe von Wissen und Erfahrung [Amann, 2007].

Beim Altern denkt man (oftmals immer noch) zunächst an Verlust, Abbau und nahenden Tod. Erfolg hingegen suggeriert vor allem Gewinn und positive Bilanz. Wie also passen Altern und Erfolg zusammen?

Als Indikatoren des erfolgreichen Alterns gelten unter anderem Lebensdauer, Lebenszufriedenheit, körperliche und geistige Gesundheit, persönliche und soziale Kompetenzen, soziale und gesellschaftliche Produktivität. Das setzt eine Reihe von Fähigkeiten und Kompetenzen voraus, die erhalten, wiederhergestellt oder auch neu erworben werden müssen - Einfallstor für geragogische oder allgemein (sozial-)gerontologische Maßnahmen, um all die Kräfte zu stärken beziehungsweise zu erwecken, die den älter werdenden Menschen dazu befähigen, seinen Lebensplan und seinen Lebensalltag mit einem großen Anteil an Eigenregie möglichst optimal zu gestalten. Dieses Bestreben ist gewiss aller Ehren wert, doch darf dabei nicht übersehen werden, dass Eigenverantwortlichkeit im aktivierenden Staat immer auch bedeutet, „dass Misserfolge jenen zugerechnet werden, denen es nicht gelingt, erfolgreich im Sinne des Aktivierungsimperativs zu handeln“ [Kocyba, 2004].

Die Begriffe des erfolgreichen und produktiven Alterns leuchten in einem utilitaristischen Licht. An welchen Kriterien man auch im Einzelnen den Erfolg oder die Produktivität im Alter festmachen will, sie werden stets in irgendeiner Form mit vorausgegangenen Anstrengungen und Leistungen in Verbindung zu setzen sein. Denn Erfolg ist in der Grundbedeutung des Wortes ein durch Bemühung erzieltes positives Ergebnis. Und die Grundlage von Produktion ist Arbeit. Der aus dem lateinischen producere (hervorbringen, vorführen) beziehungsweise productum (Erzeugnis, Ertrag) abgeleitete Begriff der Produktivität setzt immer eine Handlung voraus. Und Handlungen werden gesellschaftlich bewertet. Das Alter selbst aber kann nicht handeln und keine Produktivität erzielen und insofern auch nicht produktiv oder erfolgreich sein, wohl aber der alte Mensch, respektive all jene Menschen, Institutionen und Dienste, die sich mit dem Alter oder älteren Menschen befassen.

Biologisches Altern – ein irreversibler Prozess

Damit können zwar die Interventionen in den Alterungsprozess durchaus erfolgreich sein, nicht aber das (biologische) Altern selber. Das biologische Altern bleibt ein Involutionsprozess, der zwar sozial überformt ist und durch geeignete Interventionen, durch präventive und rehabilitative Maßnahmen, erfolgreich gehemmt, aber letztlich doch nicht gestoppt werden kann. Am Ende des Alterns stehen das Sterben und der Tod. Spätestens hier klänge es zynisch und paradox, von einem Erfolg zu sprechen. Von Erfolg gekrönt oder durch Misserfolg gezeichnet können nur die in den Alterungsprozess eingreifenden Interventionsmechanismen sein. Insofern ist der Begriff des erfolgreichen Alterns irreführend. Er ist eine semantische Falle.

Um den negativen gesellschaftlichen Altersbildern etwas Positives entgegenzustellen, wurde der Alterungsprozess als potenziell mit Erfolg beschieden gedacht.

Gestützt auf die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen wurde den in der öffentlichen Meinung fest verankerten Überzeugungen von einem passiven und defizitären Altern die Vorstellung eines aktiven und prinzipiell erfolgreichen Alterns gegenübergestellt. Insofern wurde der Begriff des erfolgreichen Alterns einst als Heterodoxie, also als bewusster Gegenentwurf zur damaligen Vorstellung eines allgemein defizitären Alterns eingeführt. Seither gilt er – zumindest in weiten Teilen der Sozialen Gerontologie – mittlerweile selber als Orthodoxie, als gängige Lehrmeinung.

Erfolgreiches Altern als bewusste Konstruktion

Doch angesichts der – wenngleich auch erfolgreich hemmbaren, so doch realiter nicht aufhebbaren – biologischen Abbauprozesse erscheint diese orthodoxe Vorstellung als eine fehlerhafte Repräsentation, als eine Allodoxie des Alterns, weil nicht das Altern selber, sondern nur die intervenierenden Steuerungsprozesse erfolgreich, aber eben auch nicht erfolgreich sein können [Schroeter, 2002, 2004].

Der Glaube an ein – zumindest potenziell – erfolgreiches Altern gilt in großen Teilen der Sozialen Gerontologie als selbstverständlich. Dabei liegt die Gefahr des unteroder hintergründigen Verständnisses von einem erfolgreichen Altern doch sichtbar auf der Hand: Es bleibt immer ein Unbehagen, weil auch immer das Nichterreichen des beabsichtigten Interventionserfolges mitgedacht werden muss.

Dann stehen den „erfolgreich Gealterten“ die „nicht erfolgreich Gealterten“ gegenüber. Wer aber soll dann zu den „erfolglosen“ oder „gescheiterten Alten“ gehören? Die kranken und schwerstpflegebedürftigen Alten, die Verwirrten und demenziell Erkrankten? Wer von einem „erfolgreichen und produktiven Alter“ spricht, muss dieses wohl oder übel von einem „gescheiterten“ und „unproduktiven Alter“ abgrenzen. – Und das wäre eine diabolische Aufgabe. Aber der Teufel steckt nicht nur im individuell erlebten Detail, sondern auch im gesellschaftlich verantworteten Allgemeinen. Das zeigt sich auch bei der Frage, ob durch die vermehrt auftretenden individuell verfügten Wünsche nach Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen im Falle todbringender und schmerzleidender Krankheiten nicht durch die Hintertür der Gesellschaft normative Standards eingeführt werden, um dem „nicht mehr erfolgreichen Altern“ ein „erfolgreiches Ende“ zu setzen [Schroeter, 2005b].

Wie viele Lebensjahre muss man erreichen, welchen Grad an körperlicher und geistiger Gesundheit erlangen, welches Ausmaß an persönlicher und sozialer Handlungskompetenz erzielen, wie viel Lebenszufriedenheit muss man zeigen, um als „erfolgreich“ gealtert zu gelten?

Oder in Umkehrung der Fragestellung: Wie jung muss man sterben, welche geistigen und körperlichen Krankheiten muss man erleiden, wie viel Inkompetenz muss man zeigen, und wie unzufrieden muss man sein, um als „gescheitert“ und „unproduktiv“ gebrandmarkt zu werden? Derartige Antagonismen polarisieren in unnötiger Weise und laufen zudem Gefahr, durch die „Aufwertung des produktiven Alters (...) das nicht mehr produktive Alter – indirekt zumindest – zu einem unnützen zu machen“ [Lenz et al., 1999]. Eine solche Zuspitzung findet sich zwar nicht in den Modellen des „erfolgreichen“ oder „produktiven“ Alterns, eine derartige normative Zielsetzung ist aber die unausgesprochene implizite Folgerung solcher Überlegungen.

Selbst wenn man die Begriffe des erfolgreichen und produktiven Alterns von Leistung und Arbeit zu entkoppeln versucht und sie auf nahezu alle menschlichen Tätigkeiten und Regungen ausdehnt, sodass selbst das Klagen und Äußern von Ängsten angesichts des nahen Todes als produktive Entlastung angesehen wird [Montada, 1996], bleibt Unbehagen. Denn so verkommen erfolgreiches und produktives Altern zu aussagelosen Allerweltsbegriffen, die für Alles und Nichts herhalten [Schroeter, 2005b].

Mit dem Rücken zur Ethik

Wer vom erfolgreichen und produktiven Altern spricht und damit unweigerlich Kriterien zur Erreichung eines solchen formuliert, der läuft Gefahr, normative Maßstäbe zu setzen, die über Erfolg oder Misserfolg, über Produktivität oder Unproduktivität richten. Man mag das erfolgreiche oder produktive Altern an verschiedenen Kriterien bemessen, etwa an Lebensdauer oder Lebenszufriedenheit, an körperlicher und mentaler Gesundheit, an persönlichen oder sozialen Kompetenzen oder an Teilhabechancen und Partizipationsquoten in Gemeinschaft und Gesellschaft. All das lässt sich gewiss auch quantifizieren, mit Prozentpunkten und Skalenwerten ins statistische Maß setzen. Mit Fantasie und Rechenkunst wird man auch individuelle und gesellschaftliche Erfolgsund Produktivitätsquoten sowie Gewinn-Verlust-Bilanzierungen aufstellen und gegebenenfalls sogar monetär hochrechnen können. Damit freilich werden zugleich auch immer Durchschnittswerte ermittelt, die dazu verführen, als Normalmaße oder Richtwerte missdeutet zu werden. Und dann stellt sich die Frage, was mit denen geschieht, die diesen Richtwerten nicht entsprechen und den Normalitätsansprüchen nicht gerecht werden.

Unter dem Schlachtruf der modernen Selbstkontrolle – „Ressourcen erkennen, Ressourcen erweitern, Ressourcen nutzen!“ – hat sich ein Menschenbild entwickelt, das dem eines Unternehmers gleicht.

Der moderne Mensch, ob jung oder alt, krank oder gesund, wird zum „Unternehmer seiner selbst“ [Foucault, 2004; Bröckling, 2007], der in sein eigenes Lebensprojekt investiert, indem er Kompetenzen langsam und stetig entwickelt, Adaptionstechniken und Strategien der Stressbewältigung aufbaut und sich durch mentales und physisches Training „fit“ hält.

Der Apfel der Verjüngung bleibt ein Mythos

Mit unternehmerischem Kalkül wird dem „Risiko“ Krankheit oder Alter vorzubeugen versucht. Doch im so genannten „Vierten“ oder „Fünften Alter“ stößt diese imperative Grammatik an ihre Grenzen. Noch ist „die Krankheit (…) nicht abgeschafft, aber ihr Ende, der Tod, ist verblüffend zurückgedrängt.“

Entgegen aller Fitness-Philosophien hängt der „utopische Apfel der Verjüngung (…) noch in ziemlicher Ferne“ [Bloch, 1982].

Die Antwort auf die anfangs ausgewiesene Frage „Erfolgreiches Altern – Fakt oder Fiktion?“ erweist sich als janusköpfig. Auf der einen Seite ist das erfolgreiche ebenso wie das produktive Altern weder Fakt noch Fiktion, sondern zunächst einmal eine irreführende Bezeichnung. Denn das Altern selbst kann weder erfolgreich noch produktiv sein, sondern stellt zunächst einmal eine „irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion der Zeit“ [Bürger, 1960] dar.

Aus einer humanbiologischen Perspektive ist das Altern „eine bei allen Menschen mit zunehmendem Lebensalter (…) sich schleichend entwickelnde, progressiv verlaufende und nicht umkehrbare Verminderung der Leistungsfähigkeit von Geweben und Organen des Organismus“ [Schachtschabel, 2005].

Auf der anderen Seite werden die biologischen Abläufe stets gesellschaftlich überformt [Schroeter, Künemund, 2010], sodass die individuellen und kollektiven Interventionsprozesse in den Alterungsprozess durchaus erfolgreich sein, aber eben auch scheitern können. Ganz abgesehen davon ist es unzweifelhaft, dass auch ältere Menschen Erfolge erzielen und produktiv sein können. Nur sind Erfolg und Produktivität im Alter eben etwas anderes, als erfolgreiches und produktives Altern. Unabhängig davon wirkt die Vorstellung von einem – wie auch immer definierten – wünschenswerten Erfolg, beziehungsweise von einer angestrebten Produktivität im Alter mächtig in die Lebenswelten der alternden Akteure hinein. Diese durch wissenschaftliche Expertisen legitimierten Altersbilder sind zugleich auch immer „Alterserwartungscodes“, die als Deutungen und Konzepte „vor allem als Positivoder Negativ-Vorbilder die sozialen Beziehungen orientieren und beeinflussen wollen“ [Göckenjan, 2000]. Doch damit nicht genug. Denn „Altersbilder sind nicht nur Bilder von der Wirklichkeit, sie sind selbst Wirklichkeit. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmungen, prägen mit Nachdruck unser Handeln und senken ihre vielfältigen Keime ins Altwerden jedes einzelnen Menschen selbst“ [Amann, 2004].

Fiktionen werden Fakten

Die Vorstellungen von einem erfolgreichen und produktiven Altern werden als objektive und unveränderliche Tatbestände suggeriert. Durch das begrifflich Fixierte, empirisch Gemessene wird zwar etwas für den (wissenschaftlichen) Beobachter Bedeutungsvolles erfasst, doch es bleibt stets ein Bedeutungsüberschuss. Und schon Husserl [1985] wusste, dass das aktuell Wahrgenommene „von einem dunkel bewussten Horizont unbestimmter Wirklichkeit“ durchsetzt und umgeben ist.

Prof. Dr. Klaus R. SchroeterInstitut für SozialwissenschaftenChristian-Albrechts-Universität KielWestring 400, 24098 Kielkschroet@soziologie.uni-kiel.de

Der Artikel basiert auf einem Referat, das der Autor auf der Jahrestagung 2010 der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin in Kiel gehalten hat.

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