Pausenbrot-Initiative in Berlin

Die dicken Kinder aus Deutschland

Ungesunde und unregelmäßige Ernährung ist neben mangelnder Bewegung immer noch eines der Kernprobleme übergewichtiger Kinder und Jugendlicher. Neben den Allgemeinmedizinern haben auch die Zahnärzte tagtäglich mit den „Schwergewichten“ und den damit verbundenen Schwierigkeiten zu kämpfen.

Inzwischen ist etwa jedes fünfte Kind in Deutschland übergewichtig, bei steigender Tendenz – Fachleute sprechen bereits von einer Epidemie. „Generation Pommes“ wurde sie vom Stern genannt, die Generation der dicken Kinder in Deutschland. Bei sieben bis acht Prozent aller Kinder und Jugendlichen liegt bereits eine manifeste Adipositas vor. Diese Zahlen sind wirklich schwer zu verdauen. Man stelle sich nur vor: Das sind zwei Millionen moppelige Minderjährige! Diese jungen Dicken hängen lieber vor der Glotze oder sitzen stundenlang vor dem Computer – anstatt sich zu bewegen. Dazu stopfen sie oft ungebremst fettige Chips, „Snacks“, Fast-Food-Gerichte und klebrige Süßigkeiten in sich hinein. Eine weitere nicht zu unterschätzende Kalorienquelle sind gesüßte Getränke wie Cola, Limo, Apfelsaft. Das natürliche Hungergefühl ist schlichtweg abhanden gekommen.

Es droht Übergewicht, mit dem die betroffenen Kinder meist auch noch als Erwachsene zu kämpfen haben. Dabei sind Kinder aus sozial schwachen Gegenden häufiger übergewichtig als andere. In diesen Fällen verdreifacht beziehungsweise verdoppelt sich je nach Altersgruppe die Wahrscheinlichkeit, ein „gewichtiges“ Leben zu führen. Übergewichtige Eltern haben eher übergewichtige Kinder. Dies sind Ergebnisse der bundesweit ersten Längsschnittuntersuchung zum Thema Übergewicht bei Kindern, die seit 2006 in Dortmund läuft. Andere Faktoren wie etwa ein Migrationshintergrund spielen dabei erstaunlicherweise kaum eine Rolle.

Dick ist kein Schicksal

Doch zu viel Pfunde sind kein Schicksal – neben den Genen beeinflusst vor allem die Erziehung das Gewicht. Auch die Drüsen, die gerne als Entschuldigung angeführt werden, reduzieren sich in den meisten Fällen auf die Speicheldrüsen.

Kein Kind kommt übergewichtig auf die Welt. Erst in der Schule und in den Jahren der Pubertät nehmen viele Kinder und Jugendliche häufig zu. Selten treffen sie sich mit Freunden, um draußen zum Beispiel Fußball zu spielen oder sich auszutoben. Computer und Fernseher bestimmen zunehmend das Freizeitverhalten. Oft liegt es daran, dass die Eltern den Kindern diese Verhaltensweisen vorleben. Sie setzen sich mit den Kindern vor den Fernseher oder lassen sie an den Computer, um sie außerhalb der Mahlzeiten „ruhig zu stellen“.

Das erkennt auch Martin Wabitsch, Kinderarzt und Adipositas-Spezialist der Uniklinik Ulm: „Fernsehen und Computer sind die schlimmsten Dickmacher. Die Kinder geraten schnell in einen Teufelskreis: Weil sie sich wenig bewegen, nehmen sie zu. Und weil sie zugenommen haben, bewegen sie sich noch weniger.“

Lehrerverbandspräsident Josef Kraus geht noch einen Schritt weiter: „Gesundheitliche Vernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung ist ein Vergehen. Wenn sich Eltern nicht um gesunde Ernährung und genügend Bewegung ihrer Kinder kümmern, ist das im Extremfall der Einstieg in Kindesmisshandlung“. Ein Auslöser für das Übergewicht der Kinder ist also häufig schon in der Erziehung der Eltern zu finden. Der Alltag in jungen Familien ist immer weniger durch Regeln, Rituale und feste Essenszeiten geprägt. Die Eltern machen ihren Kindern wenige Vorgaben und setzen kaum noch Grenzen. Kieler Wissenschaftler fanden heraus, dass das Ernährungsverhalten der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf das Körpergewicht der Kinder hat. „Die nehmen nämlich ihre Eltern als Vorbild und orientieren sich an deren Essverhalten.“ Deswegen, so die Wissenschaftler, müssen Eltern zusammen mit ihren Kindern umdenken lernen.

Das klassische, nicht immer geliebte Pausenbrot gehört schon lange der Vergangenheit an. „Hier hast Du fünf Euro, kauf Dir was!“ – mit diesen Worten werden heute immer mehr Kinder in die Schule geschickt. Davon lebt dann nicht nur die Bäckerei schräg gegenüber der Schule, sondern auch der Verkauf von Schokoriegeln und Ähnlichem sowie zuckerhaltigen Getränken innerhalb der Schulen steigt immer weiter an. Ein scheinbar probates Mittel gegen den kleinen Hunger zwischendurch, anstatt eines gesunden Pausenbrotes. Eine geschickte Werbung setzt zu allem Überfluss genau hier an und liefert den überforderten Eltern auch noch die nötige Argumentation.

Das Ergebnis dieses alltäglichen Wahnsinns erleben, neben den Lehrern, vor allem die Kinderärzte als die wichtigste und am häufigsten aufgesuchte Vertrauensperson junger Eltern. Aber auch die Zahnärzte können ein Lied davon singen, wenn sie in die Münder ihrer übergewichtigen, jungen Patienten schauen. Die Karies- und Erosionsproblematik steht dabei an erster Stelle. Doch auch allgemeine Folgeerkrankungen, wie Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes, selbst Gallensteine, orthopädische Störungen und Bluthochdruck gehören schon fast zum medizinischen Alltag. Ganz besonders kritisch ist die rapide Zunahme des Diabetes vom Typ-2, dem eigentlichen Altersdiabetes, schon bei Jugendlichen. Vor allem aber leiden die Kinder unter erheblichen Störungen der psychosozialen Entwicklung und der Lebensqualität.

Pausen können gesund machen

Unter diesen Voraussetzungen startete die „Gut-drauf-Pausenbrot-Initiative“ ihre bundesweite Aktion mit TV-Moderator Johannes B. Kerner an der Wedding-Schule in Berlin. Bundesweit ruft „Gutfried“ Grundschulklassen bis zur Sekundarstufe II dazu auf, sich an der Aktion „Kreatives Pausenbrot“ zu beteiligen – und sich bis zum 31. Juli kreative und lustige Konzepte einfallen zu lassen, um Mitschüler von gesunden Pausenbroten zu überzeugen. Über den Wettbewerb wird auf speziellen Fanpages in den sozialen Netzwerken Facebook und SchülerVZ berichtet. Die zehn besten Klassen gewinnen je 1 000 Euro, die Bestplatzierten fahren zudem zur Preisverleihung nach Hamburg.

Eine begrüßenswerte Sache, doch vielleicht doch noch „zu kurz gesprungen“. Wie die Leiterin der Wedding-Grundschule, Angelika Suhr, richtig bemerkte, geht es vor allem darum, ein anderes Bewusstsein zu schaffen. Ob eine begrüßenswerte Initiative, ein bekanntes Zugpferd, eine verständnisvolle Lehrerschaft und ein großzügiger Sponsor ausreichen, um die geforderte Bewusstseinsänderung zu erreichen, wird die Zukunft zeigen – schön wär’s!

Das so einfach klingende: „Heraus aus den alten Gewohnheiten, auch wenn es schwer fällt.“ Das schreibt sich leichter, als es tatsächlich ist. Wer nur mal an seine eigene jährliche Frühjahrsdiät denkt, weiß was es heißt, seine lieb gewonnenen Essgewohnheiten für nur vier Wochen zu ändern.

Konzertierte Aktion gegen den Speck

Nur eine konzertierte Aktion scheint demnach Erfolg versprechend, eine Aktion, die alle prägenden Faktoren einschließt. Dazu gehören neben den Eltern mit ihren Kindern, Ärzte, Zahnärzte, Lehrer, Städte, staatliche Organisationen, Vereine, Bürgermeister, Schulen, Kantinen, Nahrungsmittelhersteller und nicht zuletzt die Medien, wenn es nach EPODE geht.

Dass es sich dabei nicht nur um theoretische Gedankenspiele, sondern um eine handfeste Praxis handelt , zeigt das „EPODE European Network“ (EPODE steht für „EnsemblePrévenons l’Obésité desEnfants“), das seinen Ursprung in Frankreich hat. Das Projekt wurde als ein positives, konkretes und schrittweises Lernprogramm, ohne Stigmatisierung einer Kultur, zur Verbesserung von Ernährungswissen und Ernährungsgewohnheiten von Kindern ins Leben gerufen. Neben Lehrern und Schulen, sind der private Bereich, der Handel, die Lebensmittelindustrie, aber auch die lokalen Ärzte und Ernährungsfachkräfte tatkräftig involviert. Mit einer Halbierung der Anzahl übergewichtiger Jugendlicher in Calais erscheint das Programm – auch ohne eine wissenschaftliche Veröffentlichung – wissenschaftlich akzeptiert. Doch Calais scheint das einzige erfolgreiche Projekt zu sein. Eine weitere nicht unumstrittene Seite des EPODE-Programms ist, dass es teilweise von der Industrie finanziert wird. Doch die „bösen“ Sponsoren ermöglichen erst, die enormen öffentlichen Kosten zu senken. Eine Ethik-Charta soll dafür sorgen, dass wirtschaftliche Interessen keine Auswirkungen auf das Programm haben. Wenn selbst europäische Universitäten sogenannte Drittmittel einwerben, entspricht dieses Verhalten einer gängigen Praxis heutzutage. Es stellt sich auch die generelle Frage, wie weit man heute überhaupt noch ohne industrielles Engagement kommt.

Selbst die Bündelung vieler Aktivitäten, die leider häufig in blindem Aktionismus münden, geben offensichtlich keine Erfolgsgarantie im „Kampf“ gegen das Übergewicht. Es erinnert vielmehr an die vielen, meist fruchtlosen Kampagnen gegen das Rauchen oder den übermäßigen Alkoholkonsum. Auch dort begann es mit Maßnahmen der Verhaltensprävention, wie Information, Aufklärung und Edukation und endete frustrierend. Wenn es denn nachhaltige Ergebnisse gab, dann überwiegend bei Menschen mit guter Bildung in einem stabilen Umfeld.

Dr. Gerd BastingGiesebrechtstr. 810629 Berling.basting@gmx.net

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