TK-Zukunftskongress

Jedem seine Pille

Die individualisierte Medizin erfährt zurzeit viel Beachtung – zu Unrecht, meinten die Referenten beim TK-Zukunftskongress zur Arzneimittelversorgung in Berlin. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Produktivität in der Wirkstoffentwicklung einen historischen Tiefpunkt erreicht habe, müsse stattdessen die Effektivitätssteigerung in der Medikamentenversorgung im Vordergrund stehen.

Die Neuentwicklung und Verschreibung von Medikamenten zu verbessern, forderte Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt am Helios Klinikum Berlin-Buch und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Dafür sei der therapeutische Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln nachzuweisen: Tatsächlich sind aber „nur fünf von 18 bis Oktober 2010 in Deutschland zugelassene Medikamente als therapeutisch wertvoll eingestuft“, klagte Ludwig. Schon bei der Entwicklung von neuen Medikamenten gebe es Probleme, da die Hersteller nicht motiviert seien: Ihre Fixierung auf wenige, gewinnbringende Erkrankungen habe zu einem historischen Tiefpunkt in der Wirkstoffentwicklung geführt. Auch die US-amerikanische Fachzeitschrift „The Lancet“ kritisierte, dass es inzwischen wenige echte therapeutische Innovationen gebe. In den USA wurden durch intelligente Medikation mithilfe von Datenbanken sechs Prozent der Arzneimittelkosten eingespart, so Ludwig. Er sei davon überzeugt, dass es noch mehr sein könnte.

Eine wichtige Intention ist es daher, die vorhandenen Mittel zielgerichtet einzusetzen. Ein Ansatzpunkt dafür ist die individualisierte Medizin (IM). Die große Aufmerksamkeit, die das Thema in den letzten Jahren erfahren hat – von zehn Publikationen im Jahr 2000 steigerte sich die Zahl kontinuierlich auf über 900 Veröffentlichungen in 2010 – sei keine Garantie für eine informierte Öffentlichkeit, erinnerte Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse (TK) für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG). Denn im Unterschied zu den Vorstellungen der Versicherten, die darunter eine „ganzheitliche“ Medizin verstehen, die Präferenzen und die seelische Dimension berücksichtigt, sei die IM im Grundsatz zunächst nicht mehr als ein befund- und krankheitsorientierter Prozess, der Therapie-Auswahl und -Effekte bei den Patienten optimieren soll. Wie wichtig dies ist, machen die Zahlen deutlich: Bei 30 Prozent aller Patienten wirkt ihr Medikament nicht in der vorgesehenen Weise. Krebspatienten profitieren nur zu 25 Prozent von ihrer Arznei, auch bei Antidepressiva liegt die Rate „nur“ bei 62 Prozent. Zehn Prozent aller Krankenhausaufenthalte sind durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen verursacht, ein Großteil davon sei vermeidbar, sagte Ludwig. Den Patienten drohen durch ihre Medikamente Schäden, bis hin zum Tod. Ludwig sprach in seinem einführenden Vortrag sogar von Arzneimitteltherapie( un)sicherheit.

Gruppe vor Individuum

Die individualisierte und personalisierte Medizin könne die Hoffnungen, die die Öffentlichkeit in sie setzt, nicht erfüllen – momentan sei sie noch „Science-Fiction“, so Ludwig. Ein Schritt in diese Richtung: die Stratifizierung. Dabei werden Erkrankungsrisiken und Therapie-Chancen der Patienten identifiziert und diese Gruppen zugeordnet.

Dann erhielten sie die für ihre Voraussetzungen Erfolg versprechendste Therapie. Die bisherigen Erfahrungen mit der IM sieht Ludwig zwiespältig: In einer Studie zu individualisierter Medizin bei Patienten mit metastasierendem Darmkrebs habe sich bei immensen Kosten ihre Überlebenszeit kaum verbessert. Zudem werde die Lebensqualität der Patienten in die Bewertung bislang überhaupt nicht einbezogen.

Die Forschung zu den unterschiedlichen Wirkungsweisen der Stoffe beim Individuum schreitet derweil voran. „Während wir bislang immer nur im Nachhinein gucken konnten, was dem Patienten gut tat, sind wir inzwischen soweit, dass wir auch prospektiv schon abschätzen können, ob ein Patient von der Therapie profitieren wird“, betonte Dr. Claus Runge vom Arzneihersteller AstraZeneca während der Podiumsdiskussion. Für den zukünftigen Erfolg der individualisierten Medizin werde auch entscheidend sein, alle beteiligten Akteure an einen Tisch zu bekommen, betonte Dr. Bärbel Hüsing vom Fraunhofer-Institut für Systemund Innovationsforschung. Der Naturwissenschaftler, der einen Biomarker identifiziert, frage sich nicht, was sich letztlich als hilfreich in der medizinischen Praxis erweisen werde oder welche Auswirkungen seine Entdeckung auf die Kosten im Gesundheitswesen habe.

Fremdes Wesen Patient

Ein weiterer Ansatz für mehr Effektivität in der Arzneimittelversorgung ist die Stärkung der Compliance, Adherance oder Concordance, also das therapiekonforme Verhalten des Patienten und seine Einbeziehung in die Entscheidungsfindung. Tatsächlich kooperieren durchschnittlich 50 Prozent der Patienten nicht, so Dr. Frank Verheyen vom WINEG. Die Kosten der Non-Compliance sind schwer abzuschätzen, liegen nach Einschätzung Verheyens europaweit bei etwa 200 bis 300 Milliarden Euro. Die WHO meinte 2003: „Die Erhöhung der Wirksamkeit von Interventionen zur Steigerung der Adherence könnten einen deutlich größeren Effekt auf die Gesundheit der Bevölkerung haben als jegliche Verbesserung bei spezifischen medizinischen Behandlungen.“ Allein die Frage, warum sich ein Patient nicht therapiekonform verhält, stellt Fachleute vor ein Problem. Tatsächlich seien mindestens zwei Drittel bewusste Entscheidungen gegen den Rat des Arztes, so Prof. Dr. Thomas Wilke von der Hochschule Wismar in der Podiumsdiskussion. Doch: „Woran das liegt, da sind wir in Deutschland mit Erkenntnissen noch ganz weit zurück.“ Für die Zukunft sei es wichtig, so Prof. Dr. Marion Schaefer von der Humboldt-Universität Berlin, „über das Stadium der Studien hinauskommen und Instrumente zu entwickeln, um zu verstehen, worauf Non-Compliance beruht“. Beispielsweise haben Programme, in denen es Geld für gute Werte gibt, eine sehr gute Compliance, so Wilke. Fakt ist, dass viele Faktoren eine Rolle spielen: soziale und ökonomische ebenso wie system-, krankheits-, therapie- und patientenbedingte. Für eine gute Compliance müsste man den Patienten zum Selbstmanagement befähigen, anstatt ihn nur zum Befehlsempfänger des Arztes zu machen – diese Auffassung vertrat Dr. Veit Wambach vom Ärztenetz Nürnberg Nord. Anreizsysteme seien wichtig und die Ärzte benötigten mehr Zeit für ihre Patienten. Letztlich führe eine gute Compliance zu einer Kostensenkung bei Krankenhausaufenthalten, prognostizierte Wambach. Die Rolle des Arztes ist nach Wilkes Meinung dabei wesentlich, aber: „Nicht jeder Arzt in der Fläche kann ein Adherence-Programm entwickeln. Nach meinem Eindruck sind derzeit 80 bis 90 Prozent von der Pharmaindustrie entwickelt.“ Jene denke aber wirtschaftlich, bei den breiten chronischen Indikationen seien daher die Krankenkassen gefragt.

Weniger ist mehr

Was die Qualität der Arzneimittel betreffe, dürfe man sich nicht auf den Bereich der Zulassung beschränken. Zugleich müsse auch der „Nutzen jedes Arzneimittels für das Gesundheitssystem belegbar“ sein, sagte Tim Steimle vom Fachbereich Arzneimittel der TK. Damit der Patient von einem Medikament profitiere, müssten die Erkenntnisse in der Praxis kommuniziert werden.

Dadurch könnten viele unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Überversorgung ebenso wie für bestimmte Patientengruppen ungeeignete Arzneimittelverschreibungen verhindert werden. In einer Studie wurden Steimle zufolge beispielsweise bei 64 von 70 Patienten ganze 311 Arzneimittel abgesetzt, ohne dass sich der klinische Zustand der Patienten verschlechterte. 84 Prozent sahen ihre Lebensqualität dadurch verbessert.

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