Gastkommentar

Verwaiste Praxen

Die Krankenkassen leugnen den Ärztemangel. Doch ohne richtige Weichenstellung drohen Versorgungsengpässe, warnt Dr. Dorothea Siems, Politikkorrespondentin der Welt, Berlin.

Glaubt man den Krankenkassen, so leidet Deutschland nicht an Ärztemangel, sondern an einer Medizinerschwemme. Seit Wochen trommeln AOK, Barmer und Co. ihre Botschaft, dass hierzulande mehr Ärzte praktizierten, als für eine gute medizinische Versorgung nötig seien. Zwar räumen die Kassen ein, dass vor allem in Ostdeutschland auf dem Land viele Praxen verwaist seien. Doch dem stünden zahlreiche attraktive Standorte gegenüber, die massiv überversorgt seien. Aus Kassensicht handelt es sich deshalb beim vielfach beschworenen Ärztemangel lediglich um ein „Verteilungs- und kein Mengenproblem“, wie der Spitzenverband jüngst mitteilte. Und ein Lösungsvorschlag wurde gleich mitgeliefert: In Mangelregionen sollten künftig höhere Honorare gezahlt werden – finanziert von den Kollegen in den überversorgten Regionen, die solche Einbußen durchaus verkraften könnten.

Die Argumentation der Kassen zeigt, dass deren Funktionäre ein merkwürdiges Verständnis vom Arztberuf haben. In Deutschland arbeiten die niedergelassenen Mediziner nicht als Angestellte des Staates oder der Krankenkassen, sondern auf eigene Rechnung. Noch gehören sie zu den sogenannten Freien Berufen – obgleich gerade im Medizinsektor die staatliche Reglementierung die unternehmerischen Freiheiten immer weiter einschränkt. Der Vorschlag der Kassen zur Beseitigung des Ärztemangels würde die Ärzte zu Erfüllungsgehilfen machen, die sich je nach zentraler Planung dort anzusiedeln hätten, wo gerade Bedarf herrscht. Bei den Zahnärzten zeichnet sich mit einiger Zeitverzögerung die gleiche Entwicklung ab. Zwar gibt es noch keine Versorgungsengpässe. Doch im ländlichen Raum im Osten ist vielerorts schon ein rückläufiger Trend bei den Praxisübernahmen erkennbar. Im Gegensatz zu den Kassen sieht die Bundesregierung durchaus einen Ärztemangel. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler verweist darauf, dass der Altersdurchschnitt der heutigen Vertragsärzte bei über 50 Jahren liegt. Laut Expertenberechnungen gehen bis 2017 rund 75 000 Ärzte in den Ruhestand. Die Versorgungslücken, die es heute erst in einigen Regionen gibt, drohen schon bald bundesweit Realität zu werden. Vergrößert wird das Problem dadurch, dass derzeit von den 7 000 Medizinstudenten, die jedes Jahr ihr Studium abschließen, rund 2 000 gar nicht in den Beruf einsteigen. Auch locken viele Länder wie Norwegen und die Schweiz Mediziner mit höheren Einkommen oder attraktiveren Arbeitsbedingungen. Rösler lehnt deshalb zu Recht alle Maßnahmen ab, die die Attraktivität des Arztberufs schmälern und die Gefahr größerer Versorgungsengpässe noch vergrößern würden. Mit dem von ihm geplanten neuen Versorgungsgesetz sollen die bestehenden Regelleistungsvolumina ausgesetzt werden. Junge Mediziner haben dann einen wirtschaftlichen Anreiz, sich in unterversorgten Gebieten niederzulassen. Dort können sie mehr Leistungen abrechnen und deshalb auch mehr Geld verdienen.

Doch mit Gesetzen allein ist das Problem nicht zu lösen. Mit dem gesellschaftlichen Wandel hat sich auch der Arztberuf verändert. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Studienabgänger weiblich. Die jungen Medizinerinnen wollen vielfach nicht auf Kinder verzichten und wünschen sich familienfreundliche Arbeitszeiten. Überlange Dienste in Krankenhäusern und fehlende Kinderbetreuung können da schnell zur Demotivation bis hin zum Ausstieg aus dem Arztberuf führen.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ist über den Ärztemangel ebenfalls besorgt. Sie will deshalb für Mediziner aus dem Ausland die Zuwanderung erleichtern. Dieser Weg dürfte den Krankenkassen allerdings besser gefallen als den heimischen Ärzten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass diese „Gastarbeiter“, die vor allem aus Osteuropa oder aus Entwicklungsländern kommen dürften, mit bescheidenen Einkommen zufrieden geben, ist groß.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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