Brisante Mixtur
Gabriele Prchala
Die Spannbreite der Meinungen in der Konvergenzdebatte ist groß: Für die einen geht es dabei nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie und das Wann. Für die anderen sind die Grenzen zwischen GKVisierung der PKV und PKVisierung der GKV zunehmend fließend. Wiederum andere sprechen von Koexistenz statt Konkurrenz. Und weitere plädieren für den Erhalt der Dualität.
Prof. Johann-Matthias Graf von der Schulenburg, Direktor des Instituts für Versicherungsbetriebslehre in Hannover, prognostizierte in der Expertenrunde auf dem Hauptstadtkongress am 15.6.2012 in Berlin eine Annäherung der beiden Systeme. Die GKV werde Elemente der PKV übernehmen und umgekehrt. Die Experten rechnen aber nicht mit einem großen Knall, sondern mit einem schleichenden Abschied vom bisherigen zweigeteilten Versicherungsmarkt, berichtete die „Ärzte Zeitung“ vom 15.6.2012. Die Unterschiede zwischen den Versicherungsarten würden schon kleiner.
Und in der Tat sind derzeit sowohl in der GKV als auch in der PKV systemfremde Elemente erkennbar. Dazu zählen in der GKV zum Beispiel Wahltarife, Kostenerstattung, Selbstbehalte, Prämien und Bonuszahlungen oder Hausarzttarife. In der PKV gibt es den Basistarif, Kontrahierungszwang, Umlagefinanzierung, Wechselrecht und Portabilität. Nicht zuletzt hat die umstrittene Öffnungsklausel in der GOZ (als systemfremdes Element mit Selektivverträgen und mit der Gefahr der Einschränkung der freien Arztwahl), die von der PKV favorisiert, aber letztlich in der Novelle doch verworfen wurde, zur erneuten Entfachung der Debatten geführt.
Weniger als die GKV
Eine umfassende Analyse zur Situation von GKV und PKV haben das Kieler Institut für Mikrodaten-Analyse (IfMDA) und die Premium Circle Deutschland GmbH vor Kurzem vorgelegt. Die Autoren, Dr. Thomas Drabinski und Claus-Dieter Gorr, haben herausgefunden, dass mehr als 80 Prozent der Tarife in der PKV weniger als die GKV leisten. In Teilbereichen leiste die PKV zwar mehr, bezogen auf die Mindestleistungen komme sie aber nicht an die GKV heran. Häufig seien zum Beispiel eine Anschlussbehandlung oder Psychotherapien nicht versichert. Ein Problem sei, dass die PKV-Versicherten das vor einem Versicherungsabschluss nicht sofort erkennen könnten.
Die Studie wirft der PKV außerdem einen nicht nachvollziehbaren Leistungswirrwarr vor: Für die 32 marktrelevanten PKV-Unternehmen könnten im Neukundengeschäft 208 Tarifsysteme mit insgesamt 1 567 Kombinationen in Bezug auf die Komplettkriterien (das heißt den abgesicherten Leistungskatalog) abgeleitet werden. Die Autoren sprechen von Intransparenz und Marktversagen. Weder GKV noch PKV seien zum Vorteil aller Versicherten konzipiert, für einige Versichertengruppen, vor allem für Rentner ab dem Jahr 2030, seien zukünftig gravierende Leistungsdefizite zu erwarten.
Fazit der Autoren: „Eine Rationierungs- und Priorisierungsdiskussion wird unumgänglich sein, ebenso wie eine Neujustierung des Umlageverfahrens zwischen Rentnern und Nichtrentnern.“ Und weiter: „Die GKV hat ein grundlegendes Nachhaltigkeits-, die PKV ein grundlegendes Transparenzproblem. Soll das duale System aus GKV und PKV aufrecht und für die Versicherten auf heutigem Leistungsniveau gehalten werden, sind um fassende Reform-Maßnahmen umzusetzen.“ In der GKV wird eine grundlegende Finanzierungsreform vorgeschlagen, in der PKV Mindestkriterien und eine Sequenz weiterer Reformschritte.
PKV wehrt sich
Die PKV wehrt sich gegen die Thesen von Drabinski und Gorr. Auf der Jahrestagung des PKV-Verbands am 21.6. in Berlin übte Verbandschef Reinhold Schulte heftige Kritik. Die Bezugspunkte seien willkürlich gesetzt worden, bei Zahnersatz, bei Brillen, bei rezeptfreien Arzneimitteln, beim Auslandskrankenschutz und bei der Honorierung ärztlicher Leistungen ohne Budgetgrenzen stünden Privatversicherte besser da als GKV-Mitglieder. „Die PKV ist ein Erfolgsmodell“, zeigte sich Schulte in seiner Rede überzeugt und bekannte sich klar zum Dualismus: „Unser Gesundheitssystem ist stabil, weil es auf zwei Säulen steht.“ Dennoch wird nachgebessert: Auf der Tagung beschlossen die Delegierten, im Rahmen der Umstellung auf Unisex-Tarife am Jahresende, Mindeststandards für den Leistungsumfang. Dabei geht es vor allem um ambulante Psychotherapie und einen offenen Heilhilfsmittelkatalog. Beides sind Bereiche, bei denen die PKV hinter die GKV-Leistungen zurückfällt.
Auch den Vorwurf der Rosinenpickerei bei der Versichertenauswahl will die PKV entkräften. Vor Kurzem hatte das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP) neue Daten zur sozioökonomischen Struktur der PKV-Versicherten veröffentlicht (auf Basis der aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 des Statistischen Bundesamtes). Die Analyse ergab, dass die PKV-Versicherten eine sehr heterogene Gruppe darstellen. Nur die Hälfte aller Privatversicherten gehören demnach zu den Erwerbstätigen. Die Beamten bildeten zwar die größte Gruppe, ihr Anteil am gesamten PKV-Kollektiv betrage aber lediglich 25 Prozent. Rund elf Prozent der Privatversicherten gehörten zur Gruppe der Arbeitnehmer. Nur 20 Prozent aller PKV-Versicherten verfügten im Jahr 2008 über Einnahmen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze von 4 012,50 Euro im Monat.
Reformbedarf angemahnt
Auch die Verbraucherzenterale Bundesverband (vbzb) hat sich in die Konvergenzdebatte eingeklinkt: Nach einer Analyse von 144 nicht repräsentativen Auswertungen von Versichertenbeschwerden vermeldet sie Handlungsbedarf. Denn die Analyse habe gezeigt, dass die PKV den Versicherten einen Wechsel in günstigere Tarife erschwert und dass vor allem für langjährige ältere Versicherte die Prämien drastisch erhöht wurden. Für Verbandschef Gerd Billen hat sich das System der PKV überlebt, zitiert ihn die „Ärzte Zeitung“ (2.4.2012). Es bestehe „grundlegender Reformbedarf“.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) empfiehlt eine Angleichung des Systeme. In seiner Denkschrift „Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“ von 2011 spricht er sich dafür aus, dass eine Weiterentwicklung des Krankenversicherungssystems auch eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherungen beinhalten sollte. Dass nur ein Teil der Bevölkerung zwischen gesetzlicher und privater Absicherung wählen könne, trage zur Entsolidarisierung gerade der Bessergestellten bei und sei daher zu hinterfragen. Als langfristiges Ziel sollte es zu einer weitgehenden Konvergenz der Systeme kommen, so dass – orientiert am heutigen Leistungskatalog – eine (einkommens- und risiko-) solidarische Absicherung für alle angeboten werden könne.
GKV macht sich Gedanken
Derweil stellt sich auch die GKV in der Systemdiskussion auf: Für Aufsehen sorgte im Frühjahr die Forderung des AOK-Bundesverbandsvorsitzenden Jürgen Graalmann in einem dpa-Interview, die private Krankenversicherung abzuschaffen, berichtete „Focus Money online“ am 28.3.2012. Angesichts massiver Prämiensteigerungen forderte er die Politik auf, die PKV nicht künstlich am Leben zu erhalten, ihre Lage sei bedrohlich, die Versicherer bekämen die Krise nicht selbst in den Griff und die logische Konsequenz sei ein einheitlicher Versicherungsmarkt. Graalmanns Äußerungen blieben nicht unwidersprochen. Gegenwind kam von der FDP und von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. PKV-Verbandsdirektor Volker Leienbach sprach von einer „üblen Entgleisung“ und von einem „Horrorszenario“, das „durch nichts“ belegt sei.
Eine andere Perspektive nimmt die Techniker Krankenkasse (TK) ein. Norbert Klusen, bis vor Kurzem noch Chef der TK, stellte im April 2012 ein von der Kasse in Auftrag gegebenes Gutachten zur privatrechtlichen Organisation der gesetzlichen Krankenkassen vor. Darin wird vorgeschlagen, die PKV nicht abzuschaffen, sondern GKV und PKV anzugleichen. GKVen sollen in privatrechtliche Organisationen umgewandelt werden. Eine Öffnung der beiden separierten Teilmärkte für gesetzliche und private Krankenversicherungen verspreche eine Intensivierung des Wettbewerbs und ermögliche ein Angebot von Voll- und Zusatzversicherungen aus einer Hand, heißt es in dem von den Wissenschaftlern Eberhard Wille, Geert Jan Hamilton, Johann-Matthias Graf von der Schulenburg und Gregor Thüsing erstellten Gutachten.
Ärzte stellen Systemfrage
Auf dem Deutschen Ärztetag im Mai in Nürnberg stand die Systemfrage im Mittelpunkt der Agenda. Für Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) ist ganz klar, dass „das duale Systems von GKV und PKV erhalten bleiben muss“. Beide Versicherungssysteme hätten ihre Vor-, aber auch ihre Nachteile, erklärte er. Statt den Weg in die Einheitsversicherung zu wählen, müssten vielmehr die Stärken beider System weiterentwickelt werden. Mit Jens Spahn (Gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion) und Prof. Dr. Karl Lauterbach (Gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion) trafen in Nürnberg zwei unterschiedliche Meinungen aufeinander. Dabei waren durchaus Annäherungstendenzen an die Positionen des Gegenübers erkennbar. Spahn, der schon länger dafür eintritt, die Trennung von GKV und PKV aufzuheben, will einige Prinzipien der PKV in die GKV übertragen. Laut Bericht des „Deutschen Ärzteblatts“ vom 22.5.2012 hat er sich in Nürnberg dafür ausgesprochen, analog zur PKV auch in der GKV eine Demografierücklage zu bilden. Spahn wehrte sich dagegen, diese Debatte als Neiddebatte zu führen, wie dies etwa bei der SPD, den Grünen oder der Linken der Fall sei, heißt es in seinen „Zehn Thesen zu den Anforderungen an eine gesetzliche Krankenversicherung in der Zukunft“. Probleme wie die Kostensteigerung auf der Leistungsseite bei der PKV, da neben steigender Morbidität und Alterung auch Unnötiges abgerechnet werde, führten zu überdurchschnittlichen Beitragssteigerungen in vielen Tarifen. Lock- und Billigtarife hielten nicht das, was sie versprechen. Hinzu kämen Provisions- und Vertriebsexzesse der letzten Jahre sowie eine wachsende Intransparenz bei den Tarifen. Für Spahn ist damit die Frage zur Zukunft der PKV vor allem auch eine sozialpolitische. Die Frage sei, ob der PKV-Versicherungsschutz bei vielen PKV-Tarifen auch wirklich den Anforderungen einer älter werdenden Klientel entspricht.
Modell Bürgerversicherung
Lauterbach warb vor der Ärzteschaft hingegen für die Bürgerversicherung und verwies auf das Modell, das auf dem SPD-Parteitag vom 4.-6.12.2011 als Beschluss verabschiedet wurde. Die bestehenden Krankenversicherungen GKV und PKV würden demnach durch eine einheitliche Bürgerversicherung ersetzt, zitiert das „Deutsche Ärzteblatt“ (4.6.2012) den Politiker. Wer privat versichert sei, könne wählen, ob er in der PKV bleiben oder in die GKV wechseln will. Er wolle lediglich einen einheitlichen Versicherungsmarkt. Die Bürgerversicherung müsse von allen Kassen angeboten werden. Die Grundversorgung eines Patienten dürfe nicht von dessen Versicherungsstatus abhängig sein. Und: Die Bürgerversicherung solle auch nicht in eine Einheitsmedizin führen, sondern in ein Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherern. Ohne Reformen seine sowohl die GKV wie auch die PKV nicht mehr bezahlbar, zitiert das Blatt den Politiker.
Eine klare Position kam von den Ärzten: Die Delegierten in Nürnberg votierten für den Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems. In ihrem Beschluss wiesen sie darauf hin, dass alle Patienten, gesetzlich oder privat versichert, von der Existenz der privaten Krankenversicherung profitierten. Auch wolle sich die Ärzteschaft stärker in die Debatte über die künftige Finanzierung der GKV einschalten, hierzu Forderungenan die Politik formulieren sowie ein eigenes Finanzierungskonzept erarbeiten.
Fest steht: Die ehemals klare Grenze zwischen GKV und PKV verwischt zunehmend. Das Gesundheitswesen wird sich auf einen möglichen Systemwechsel – wie auch immer er aussehen mag – vorbereiten müssen.
INFO
Dualismus erwünscht
Auch im zahnärztlichen Berufsstand wird die wachsende Tendenz der Angleichung von GKV und PKV intensiv erörtert. So hat die KZBV im Juni 2011 ein Diskussionsforum organisiert, auf dem sich Ökonomen, Juristen und Praktiker austauschten. Seitens der Wissenschaft vertrat Prof. Dr. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, dort die Auffassung, dass sich GKV und PKV aufeinander zubewegen, diese Konvergenz führe aber nicht unbedingt zur Vereinheitlichung der Systeme.Auch für Prof. Dr. Helge Sodan, Berlin, ist die Tendenz zur Konvergenz unverkennbar, was aber nicht zur Nivellierung führe. Annäherungen müssten kritisch beobachtet werden. Die KZBV sprach sich für die Beibehaltung des dualen Systems der Krankenversicherung aus, eine Haltung, die auch die Delegiertenauf der letzten Vertreterversammlung in Dresden im Juni 2012 bekräftigten.Auf der BZÄK-Klausurtagung Ende Mai 2012 in Bautzen wurde das Thema unter Einbindung der Thesen von Dr. Thomas Drabinski intensiv erörtert. Die Ergebnisse der Diskussionen werden in eine gesundheitspolitische Agenda der BZÄK einfließen, die zunächst mit der KZBV konsentiert und im November zur Bundesversammlung vorliegen wird.