Barrieren im Gesundheitswesen

Wir machen den Weg frei

ck
Stufen, gedimmtes Licht im Wartezimmer, eine undeutliche Stimme am Telefon – für Menschen mit Behinderung können solche Erschwernisse eine unüberwindbare Hürde darstellen. Mit Betroffenen überlegten Ärzte und Zahnärzte auf einer Tagung am 9. September in Berlin, wie sie in ihren Praxen Barrieren abbauen können.

„Entscheidend ist, was konkret in den Kommunen und den Praxen vor Ort getan wird“, beschrieb Gastgeberin Regina Feldmann, Vorstandsmitglied der KBV, die Stoßrichtung der Tagung „Barrieren abbauen – Initiativen und Maßnahmen der Ärzte und Zahnärzte“. UN-Konventionen und Aktionspläne stellten zwar wichtige, aber eben nur erste Schritte dar. Feldmann. „Als nicht behinderter Mensch ist einem meistens gar nicht bewusst, was alles ein Hindernis sein kann. Das fängt bei der Beschriftung von Türen an, geht über die Beleuchtung bis hin zu Stolperfallen auf dem Fußboden.“ Mit der Anfang 2013 aufgelegten Broschüre zum Thema Barriere-Abbau in Arztpraxen wolle die KBV vor allem den Niedergelassenen aufzeigen, dass man schon mit recht geringen Mitteln eine Praxis barriereärmer gestalten kann.

Behindert gemacht

„Inklusion lässt sich ohne Freiheit nicht denken“, betonte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CDU). Wo Menschen mit Behinderung auf Barrieren stoßen, bleibe ihnen der Zugang zur Kultur, zum Job sowie zum Arzt und Zahnarzt ihrer Wahl versperrt. „Behindert ist man nicht – behindert wird man“, erklärte er. „Die Gesellschaft trägt also eine Mitverantwortung an der Behinderung der Menschen.“ Barrierefreiheit gehe schon deshalb auch Menschen ohne Behinderung etwas an, weil sie irgendwann womöglich selbst auf gut zugängliche Gebäude, eine leichte Sprache oder die Kommunikation via Computer angewiesen sind. Vor allem vor dem Hintergrund, dass nur vier Prozent aller Behinderungen angeboren sind und die anderen zumeist durch eine Krankheit oder einen Unfall ausgelöst wurden. Wie Zöller berichtete, ist gut die Hälfte der Schwerbehinderten zwischen 55 und 75 Jahre alt, ein Viertel noch älter. Grundsätzlich biete Barrierefreiheit für alle mehr Komfort und bessere Zugänglichkeit – „für Menschen mit Behinderung aber ist sie zwingende Voraussetzung, um im Alltag zurechtzukommen“.

Das Thema Barrierefreiheit beschränke sich jedoch nicht nur auf Rampen, Aufzüge und breite Türen. Zöller: „Es geht auch um die Offenheit gegenüber anderen Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen.“ Seine Erfahrungen schilderte er am Beispiel des Patientenrechtegesetzes: „Am Anfang der Diskussion um das Gesetz hieß es, man muss eine Passage aufnehmen, die die besonderen Belange der Menschen mit Behinderung herausstellt. Am Ende der Diskussion war klar, jede Besonderheit wäre eine Diskriminierung – denn die Patientenrechte müssen grundsätzlich für alle Menschen gleich gelten, aber vielleicht unterschiedlich umgesetzt werden.“ So stehe im BGB zur Aufklärungspflicht, „die Aufklärung muss für den Patienten verständlich sein“. Zöller: „Egal ob der Mensch leicht dement, schwerhörig ist oder eine andere Sprache spricht – jeder muss verstehen was mit ihm passiert, sonst ist die Einwilligung in die Behandlung ungültig.“

Dass die Barrierefreiheit nicht länger „eine Spezialität für Spezialisten“ ist, sondern ein Menschenrecht, verdeutlichte der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland a. D., Wolfgang Huber. Jeder Mensch besitze die gleiche Würde. Deshalb sei nicht mehr die Forderung nach besserer Teilhabe, sondern das Faktum der Exklusion begründungspflichtig. Laut Huber wird damit in der Behindertenpolitik ein Defizitansatz verabschiedet, der sich an der Kompensation von Mängeln orientierte. An seine Stelle trete der Inklusionsansatz mit seinem Anspruch auf gleiche Partizipation. Huber: „Diversität wird nicht als problematisches Kennzeichen der Gesellschaft, sondern als Ausdruck ihres Reichtums angesehen.“

Ausdruck des Reichtums

Wer Bildung und Gesundheit als zentrale Felder gesellschaftlicher Integration betrachtet, müsse das Leitbild einer inklusiven Gesellschaft umkehren: „Die Frage heißt nicht mehr: Wer ist behindert? Sondern: Wer wird behindert – und wodurch?“, sagte Huber mit einem Zitat von Bundespräsident Joachim Gauck. Selbstverständlich sei ein solcher Perspektivenwechsel nicht leicht.

In Anlehnung an das vollkommene Menschenbild weise man der Medizin zunehmend die Aufgabe zu, die Grenzen des Machbaren immer weiter hinauszuschieben. Zugleich würden Menschen vorrangig nach ihrer genetischen Ausstattung taxiert. Behinderung solle am besten – bezeichnend sei der Umgang mit der Trisomie 21 oder mit der PID – vor der Geburt, ja vor der Schwangerschaft ausgeschlossen werden. Im Ärzte-Alltag zeige sich aber ein anderes Bild vom Menschen: „Zu erkennen ist vielmehr der Mensch in seiner Endlichkeit und Verletzlichkeit, in seiner Hilfsbedürftigkeit, in der er nur leben kann, wenn andere für ihn eintreten. Was wirklich zählt, ist der verletzliche wie der leistungsfähige, der eingeschränkte genauso wie der mit vielen Kräften begabte Mensch“, betonte Huber.

Was wirklich zählt

Allen Menschen den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu verschaffen und ein solches Handeln mit den Ressourcen der Gesellschaft und den wirtschaftlichen Erfordernissen der Gesundheitsberufe in Einklang zu bringen, das seien aktuell die großen Herausforderungen. Dabei komme es auch hier darauf an, ob man dem Handeln von Ärzten, Zahnärzten anspürt, dass nicht nur wirtschaftliche Überlegungen, sondern ebenso ethische Überzeugungen ihr Denken und Handeln bestimmen. Klarheit sei am Ende über die Frage nötig, was wirklich zählt – „nämlich jeder Mensch“.

Bei der medizinischen Behandlung sind laut Prof. Michael Seidel, Ärztlicher Direktor der v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel. regonal, zwei Konstellationen unterscheidbar: Erstens ein behinderungsunspezifischer gesundheitlicher Versorgungsbedarf, den Menschen haben – egal, ob behindert oder nicht. Seidel: „Die Behinderung stellt hier den Kontext der Behandlung dar“ – etwa bei der Durchführung von Zahnbehandlungen unter Vollnarkose bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder bei der OP-Aufklärung mit Gebärdendolmetscher.

Zweitens ein gesundheitlicher Versorgungsbedarf, der unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängt beziehungsweise sich auf ihre Linderung richtet. „Die Behinderung selbst ist hier Gegenstand der therapeutischen Bemühungen“, erläuterte Seidel. Als Beispiele nannte er Langzeitverordnungen von Heilmitteln bei zerebralen Bewegungsstörungen und erweiterte Präventionsmaßnahmen für die Mundgesundheit bei kognitiv beeinträchtigten oder pflegebedürftigen Menschen.

Der schiefe Baum

Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., eröffnete ihren Vortrag mit dem Bild vom „schiefen Baum“ von Matthias Vernaldi, der seit seiner Geburt an Muskelschwund leidet und trotzdem selbstbestimmt lebt. Der ‚schiefe Baum’ – für ihn ein Symbol für die schmerzhaften und entwürdigenden Erfahrungen mit dem ‚Gerichtet-Werden’: „Der Pfahl dient nicht zur Stütze des Baums, sondern soll ihn ‚richten’“, zitierte sie Vernaldi. Nicklas-Faust, die selbst eine schwerbehinderte Tochter hat, erzählte auch aus dem Leben von Aiha Zemp, einer Schweizer Psychologin und Feministin, die ohne Arme und Beine geboren wurde und ihr ganzes Leben für ihre Unabhängigkeit kämpfte. Zitat Zemp: „Man hat mich einer Norm angepasst, ob ich das wollte oder nicht. Das Schlimmste waren die dauernden Klinikaufenthalte, die für diese Prothesen- anpasserei immer nötig waren. Immer wieder, auch noch als Pubertierende in einem Hörsaal vor 150 Studenten nackt vorlaufen zu müssen – eine frauenunwürdige Situation!“ „Es ist normal, verschieden zu sein! Und es braucht Gemeinsamkeit, um Verbesserungen zu erreichen!“, so der Appell von Nicklas-Faust. Sie fordert

• eine gemeindenahe Regelversorgung,

• ergänzt durch spezialisierte Versorgungsangebote,

• die Koordination gesundheitlicher Leistungen,

• Dokumentationssysteme für die Kommunikation,

• eine Verbesserung der Fachlichkeit

• sowie Rahmenbedingungen für die Inanspruchnahme und besonderen Bedarfe in der Organisation.

Neben baulichen Faktoren führen Nicklas-Faust zufolge die erschwerte Kommunikation, ein stereotypes Menschenbild und die atypischen Symptome der Betroffenen dazu, dass Menschen mit Behinderungen nicht optimal ärztlich betreut werden. Schwierige Vorerfahrungen, eine fehlende Eigenbeobachtung und die duldende Haltung der Patienten erschwerten darüber hinaus ihre Partizipation an der Versorgung.

Hürden im Kopf

Prof. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, warnte davor, die Barrieren nur auf die baulichen Hürden zu beziehen: „Barrierefreiheit meint vor allem den Abbau mentaler Barrieren in unseren Köpfen und die wertschätzende Einstellung und offene Haltung.“ Auch das zahnärztliche Fachwissen und die ärztlichen Handlungskompetenzen, insbesondere die kommunikativen Fähigkeiten, seien von großer Bedeutung bei der Überwindung so- genannter Barrieren. Es gehe um mehr als nur darum, Deutschlands Zahnarzt- und Arztpraxen barrierefrei zu gestalten. Oesterreich: „Wir sind auch Impuls- und Ideengeber für Projekte, die barrierefreies Denken und Handeln erst gesellschaftsfähig machen. Deshalb initiieren und verfolgen wir ganz bewusst Wege, die Lösungen gemeinsam mit anderen Berufsgruppen, auch aus der Pflege und Altenhilfe, suchen.“

Warum aufgrund der Systematik des GKV-Leistungskatalogs nicht alle Menschen gleichermaßen von der guten zahnmedizinischen Versorgung profitieren, beschrieb der stellvertretende KZBV-Vorsitzende Dr. Wolfgang Eßer. „Wir wissen, dass die Mundgesundheit von Pflegebedürftigen deutlich schlechter ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Wir wissen, dass Menschen mit Behinderungen zur Hochrisikogruppe für Karieserkrankungen gehören“, erinnerte er die Kollegen. Die wohnortnahe, flächendeckende Versorgung einer älter werdenden Gesellschaft könne aber nicht allein auf freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement eines Berufsstandes fußen. „Für den betroffenen Personenkreis muss vielmehr eine gesetzliche Anspruchsgrundlage auf bedarfsgerechte präventive Leistungen im SGB V verankert werden, am besten durch eine Ergänzung des § 22, der die Verhütung von Zahnerkrankungen regelt.“

Dass in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg gebracht wurde, was im Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderungen steht, resümierte Dr. Christoph von Ascheraden, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer. Allerdings sei man, räumte er ein, trotz vieler Fortschritte noch weit davon entfernt, sämtliche Visionen des Gesetzes umgesetzt zu haben. „Dennoch sehen wir in unserer Gesellschaft einen Bewusstseinswandel im Umgang mit behinderten Menschen. Es gibt noch viel zu tun, aber wir sind auf einem guten Weg.“

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.