Kindliche Entwicklung interdisziplinär betrachtet

Einzelkämpfer vereinen

Zahnärzte, Kieferorthopäden, Neonatologen, Pädiater, Psychologen, Soziologen, Logopäden, Myofunktionstherapeuten und Sexualtherapeuten: Sie alle kamen beim 5. Interdisziplinärem Symposium kindlicher Entwicklung (ISKE) in Leipzig zusammen, um gemeinsam Entwicklungsauffälligkeiten beim Kind in den ersten Lebensjahren und ihre Folgen zu diskutieren.

"Die Entwicklung eines Kindes verläuft nicht so störungsfrei, wie es wünschenswert wäre. Deswegen sind wir heute hier“, begrüßte Prof. Almut Makuch, wissenschaftliche Leiterin des Symposiums die mehr als 140 versammelten Teilnehmer im Hörsaal auf dem Campus der Leipziger Universität. „Im Kindesalter ergeben sich drei Belastungsquellen“, referierte Makuch in ihrem einleitenden Vortrag. Neben den normalen Entwicklungsaufgaben, etwa dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule, sowie den alltäglichen Belastungen durch Spannungen innerhalb der Familie hätten Kinder demnach auch mit kritischen Lebensereignissen wie Unfällen oder Krankheiten zu kämpfen. Die Symptomatik dieser Belastungen äußere sich in Lust- und Antriebslosigkeit der Kinder über Kopf- und Bauschmerzen bis hin zu körperlicher Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und Veränderungen im Sozialverhalten. Um diese Belastungen bewältigen zu können, ist es laut Makuch nötig, neben dem medizinischen Bereich auch Experten aus sozialen, pädagogischen und psychologischen Fachgebieten in die Therapiekonzepte einzubeziehen.

Interdisziplinarität bei Spaltkindern unerlässlich

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten (LKGS) gehören mit einer Inzidenz von 1 zu 500 zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen beim Menschen. Kinder mit LKGS benötigen bereits ab den ersten Lebenswochen eine umfassende medizinische Betreuung. Voraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation sei die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen, referierte die Leipziger Zahnärztin Dr. Anja Kirchberg in ihrem Vortrag. Zum Behandlungsteam gehören demnach Vertreter aus der Pädiatrie, der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, der Kieferorthopädie, der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde sowie der Logopädie. „Und der Kinderzahnarzt darf natürlich nicht vergessen werden“, betonte Kirchberg. Spaltkinder hätten ein besonders hohes Kariesrisiko, da die Zähne oft Mineralisationsstörungen aufwiesen bei gleichzeitig reduzierter Schmelzdicke. Außerdem seien die Kinder im ohnehin schwer zugängigen Mundraum sehr sensibel, so dass die Zahnreinigung für die Eltern oftmals problematisch sei. Kirchberg plädierte für eine Intensivprophylaxe ab dem ersten Zahn, wobei die Eltern aktiv vom Zahnarzt in die Mundhygiene einbezogen werden müssten.

Über eine Sonderform der Gaumenspalte, die häufig übersehen werde, referierte Prof. Roswitha Berger, Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Marburg. Anders als bei den Spalten des primären und des sekundären Gaumens, bliebe die sogenannte submuköse Spalte (SMGS) klinisch lange unauffällig. Durch die in der Mittellinie nicht vereinten Muskeln des Velums komme es bei submukösen Spalten zu einer velopharyngealen Insuffizienz. Ein wichtiges Symptom dafür sei eine Resonanzstörung, das sogenannte offene Näseln. Hinweise für eine SMGS könnten außerdem Schwierigkeiten beim Stillen sein und das Austreten von Nahrung über die Nase, erläuterte Berger. „Ich habe ein Kind behandelt, dass aufgrund der schlechten Aussprache auf eine Sonderschule geschickt werden sollte. Gott sei Dank kamen die Eltern zu uns. Das normal entwickelte Kind hatte ja nur ein beschädigtes Gaumensegel.“

Schöne Menschen haben es im Leben leichter

Die Frage, wie ein Kind Auffälligkeiten im Gesicht verkraftet, behandelte Makuch in einem weiteren Vortrag. „Nonverbale Kommunikationsformen sind in ihrer Funktion als Körpersprache die ersten und gleichzeitig wichtigsten Signale zwischenmenschlicher Beziehungen“, erläuterte Makuch. Dazu zähle die gesamte physische Erscheinung, insbesondere Zähne und Gesicht. Reaktionen liefen meist nach dem Attrak- tivitätsstereotyp ab: Gut aussehenden Personen werden demnach eher positive Eigenschaften zugeschrieben. Menschen mit Auffälligkeiten und Einschränkungen im Aussehen erfahren dagegen Vorsicht, Rückzug und sogar Ablehnung. Kinder mit normabweichendem Aussehen seien vielfach Hänseleien ausgesetzt. Makuch sprach sich für eine verstärkte Interdisziplinarität aus. „Bei der Behandlung von Spaltkindern arbeiten bereits viele Fachbereiche miteinander. Es fehlen aber immer noch Myofunktionstherapeuten sowie eine psychologische Betreuung von Kindern und Eltern.“

Wie notwendig diese ebenfalls sein kann, wenn Kinder den Mund nicht aufmachen wollen, erläuterte Diplompsychologin Dr. Gisela Friedrich: „Wenn das Kind auf dem Behandlungsstuhl zappelt, sich weigert den Mund zu öffnen oder nicht spricht und Sie keine Erklärung für das Verhalten finden und keinen Auslöser benennen können, dann könnte das Kind durchaus eine Angststörung haben.“ Mögliche Ursachen dafür könnten in der Vergangenheit des Kindes liegen, so dass eine Überweisung an einen Kinderpsychologen laut Friedrich „überaus wünschenswert wäre“.

Orofaziale Störung und sexuelle Entwicklung

Sexualtherapeut Kurt Seikowski referierte über den Zusammenhang zwischen oro- fazialer Störung und sexueller Entwicklung. Besonders Kinder mit den unterschiedlichsten Formen der Behinderung seien häufig Opfer von sexuellen Übergriffen durch Familienangehörige. „Diese Kinder sind besonders schutzbedürftig, sie brauchen viel Trost und Zuwendung“, erläuterte Seikowski. Hier könne es sehr schnell zu Grenzüberschreitungen kommen, die in sexuellen Übergriffen enden würden.

Seikowski arbeitet seit über 30 Jahren als Psychologe und Psychotherapeut an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Zu seinem Forschungsbereich zählt die Psychosomatik von Hauterkrankungen sowie die psychotherapeutische Mitbetreuung von Patienten mit urologischen Erkrankungen und sexuellen sowie Geschlechtsidentitätsstörungen. Insgesamt neun wissenschaftliche Vorträge, von der kieferorthopädischen Behandlung von kindlichen Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten bis hin zu Therapiekonzepten nach orofazialen Verletzungen bei Vorschulkindern führten die Teilnehmer durch die Tagung. Eine Besonderheit: Traditionell verzichten alle Referenten bei dieser Veranstaltungs- reihe auf ihr Honorar, so dass der finanzielle Überschuss aus der Tagung als Spende eingesetzt werden kann. Im vergangenen Jahr konnten insgesamt 2 600 Euro an das Kinderheim Machern und den Bundesverband der Rettungshunde gespendet werden. Auch in diesem Jahr wird eine ähnlich hohe Summe erwartet. „Bisher konnten genau 13 100 Euro gespendet werden“, berichtet Makuch, „wie hoffen mit dem fünften Symposium die 15 000-Euro-Grenze zu durchbrechen.“

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.