Präventiv verschließen
Der kariespräventive Nutzen der Fissuren- und Grübchenversiegelung an Zähnen beziehungsweise Molaren mit gesunden Fissuren und nicht kavitierten kariösen Läsionen ist belegt. Anhand der vorliegenden Meta-Analysen kann außerdem geschlussfolgert werden, dass mit der Fissuren- und Grübchenversiegelung eine Kariesinitiation und -progression verhindert werden kann.
Definition:
Unter einer Versiegelung wird der präventive Verschluss der kariesanfälligen Fissuren und Grübchen verstanden, um einer Kariesinitiation vorzubeugen und/oder kariöse Frühstadien zu arretieren. Die Fissuren- und Grübchenversiegelung ist damit eine Zahnflächen-spezifische Präventionsmaßnahme (Abbildung 1). Präventive Effekte an anderen Zahnflächen können nicht erwartet werden. Neben der Fissuren- und Grübchenversiegelung sind eine zahngesunde Ernährung, adäquate häusliche Mundhygienemaßnahmen sowie eine indikationsgerechte häusliche und professionelle Fluoridapplikation als wirksame und evidenzbasierte Bestandteile der Präventivbetreuung zu betrachten.
Zielgruppe:
Patienten sind primär Kinder und Jugendliche, da sie von dieser präventiven Maßnahme unmittelbar nach dem Durchbruch der bleibenden Molaren am meisten profitieren. Die Leitlinie gilt sowohl für Kinder ohne wie auch für Kinder mit Komorbiditäten. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht bekannt und werden daher nicht betrachtet.
Anwendungsort:
Die Versiegelung kann prinzipiell an allen Zähnen mit Fissuren oder Grübchen in der primären und in der bleibenden Dentition angewendet werden. Da der größte präventive Nutzen im Vergleich zu anderen Zahngruppen – Milchzähnen, bleibenden Front- und Eckzähnen und Prämolaren – an bleibenden Molaren zu erwarten ist, wurden vielfältige Fragestellungen vorrangig an den ersten und an den zweiten bleibenden Molaren untersucht.
Diagnostische Voruntersuchungen:
• Vor der Fissuren- und Grübchenversiegelung soll eine sorgfältige, diagnostische Untersuchung dieser Areale erfolgen. Dabei soll als primäre Methode die visuelle Untersuchung an den gereinigten und getrockneten Zahnflächen eingesetzt werden.
• An nicht kavitierten kariösen Läsionen sollten ergänzende diagnostische Verfahren, zum Beispiel die Röntgendiagnostik mit Bissflügelaufnahmen oder lichtoptische Verfahren, indikationsgerecht genutzt werden, um versteckte Dentinläsionen zu erkennen (Kontraindikation für Fissuren- und Grübchenversiegelung).
• Eine Kariesaktivitäts- und Kariesrisiko- einschätzung sollte durchgeführt werden.
• Bei Kindern und Jugendlichen mit einem erhöhten Kariesrisiko und bestehender Kariesaktivität sollte die Fissuren- und Grübchenversiegelung prioritär eingesetzt werden.
• Die Indikationsstellung zur Fissuren- und Grübchenversiegelung erfolgt auf Grundlage der Karies- und Kariesrisiko-Diagnostik (Abbildung 2).
• Bei karies(risiko)freien Patienten kann aus heutiger Sicht auf die Fissuren- und Grübchenversiegelung verzichtet werden, da die Wahrscheinlichkeit einer okklusalen Kariesentwicklung bei sichergestellter präventiver Betreuung als gering eingeschätzt wird. Nichtsdestotrotz wird an Zähnen mit einem erhöhten Zahnflächen-spezifischen Risiko die Fissuren- und Grübchenversiegelung auch bei Nicht-Kariesrisiko-Patienten empfohlen.
• Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einem erhöhten Kariesrisiko ist die Fissuren- und Grübchenversiegelung an gesunden und nicht kavitierten kariösen Läsionen wesentlicher Bestandteil der kariespräventiven Betreuungsstrategie.
• Bei Erwachsenen und älteren Patienten kann die Indikation zur Versiegelung restriktiver gestellt werden.
Die Indikation zur Fissuren- und Grübchenversiegelung an bleibenden Molaren sollte in folgenden klinischen Situationen gestellt werden:
• Kariesfreie Fissuren und Grübchen bei Patienten mit einem erhöhtem Kariesrisiko. Dazu zählen zum Beispiel Patienten mit Karieserfahrung im Milchgebiss sowie Patienten, die bereits einen kariösen bleibenden Molaren aufweisen.
• Kariesfreie Fissuren und Grübchen mit einem anatomisch kariesanfälligen Fissurenrelief unabhängig von der Kariesrisiko- Einschätzung.
• Fissuren und Grübchen mit nicht kavitierten kariösen Läsionen unabhängig von der Kariesrisiko-Einschätzung.
• Fissuren und Grübchen mit einem anatomisch kariesanfälligen Fissurenrelief an hypomineralisierten oder hypoplastischen Zähnen unabhängig von der Kariesrisiko-Einschätzung.
• Fissuren und Grübchen bei Patienten mit Allgemeinerkrankungen beziehungsweise körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, die eine effektive tägliche Mund- hygiene nur begrenzt umsetzen können.
• Partiell oder vollständig verloren gegangene Fissurenversiegelungen sollten bei unverändertem Kariesrisiko repariert beziehungsweise erneuert werden.
• Die Indikation zur Fissuren- und Grübchenversiegelung an Milchmolaren oder anderen bleibenden Zähnen kann bei einem erhöhten individuellen oder Zahnflächen-spezifischen Risiko in Erwägung gezogen werden.
Relative Kontraindikationen zur Fissuren- und Grübchenversiegelung:
• Ist der betreffende Zahn noch nicht vollständig in die Mundhöhle durchgebrochen und sind die Okklusalflächen beziehungsweise die palatinalen/bukkalen Grübchen nicht oder nur begrenzt einer adäquaten Trockenlegung beziehungsweise Instrumentierung zugänglich, wäre auf die Versiegelung vorerst zu verzichten. Bis zum vollständigen Zahndurchbruch haben lokale präventive Maßnahmen – wie eine adäquate Plaqueentfernung und die Lokalapplikation von Fluorid(lack)en – Vorrang. Bei Kariesrisiko-Patienten kann die temporäre Fissurenversiegelung mit einem GIZ (Prä-Fissurenversiegelung) in Erwägung gezogen werden. Dies ist eine einfache, präventive, aber provisorische Interimslösung.
• Bei Zähnen mit einer nachgewiesenen Dentinkaries im Bereich der Fissuren beziehungsweise Grübchen ist die Versiegelung aus heutiger Sicht kontraindiziert und die minimal-invasive Füllungstherapie angezeigt.
• Milchzähne, deren Exfoliation unmittelbar bevorsteht bedürfen keiner Versiegelung. Eine absolute Kontraindikation zur Fissuren- und Grübchenversiegelung besteht bei einer nachgewiesenen Allergie gegenüber Versiegelungsmaterialien oder einzelnen Materialbestandteilen.
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Materialauswahl zur Versiegelung
Im Rahmen einer Meta-Analyse, die die verfügbaren klinischen Studien mit einer Mindestlaufzeit von zwei Jahren berücksichtigte, wurde gezeigt, dass das Überleben beziehungsweise Retentionsverhalten von Fissuren- und Grübchenversiegelungen in Abhängigkeit vom verwendeten Material Unterschiede aufweist. Auto- und licht-polymerisierende Versiegelungsmaterialien wiesen dabei das günstigste Retentionsverhalten auf. Insbesondere Materialgruppen beziehungsweise Vorgehensweisen, die auf eine Säurekonditionierung verzichteten, waren mit zum Teil deutlich höheren Verlustraten verbunden.
Daher sollen Materialgruppen mit einer hohen Retentionsrate und damit Überlebenswahrscheinlichkeit bevorzugt in der klinischen Praxis eingesetzt werden. Dazu zählen niedrigvisköse Methacrylat-basierte Versiegelungskunststoffe, die in Verbindung mit der Säurekonditionierung angewendet werden. Bei Zähnen im Durchbruch beziehungsweise wenn keine adäquate Trockenlegung möglich ist, kann alternativ der Einsatz von GIZ erwogen werden.
Licht-Polymerisate sollten als Einkomponenten-Materialien im Vergleich zu Auto-Polymerisaten bevorzugt verwendet werden. Die Materialien sind weniger Technik-sensitiv zu verarbeiten, da der Anmischvorgang entfällt und die sofortige Lichtpolymerisation die Behandlungszeit verkürzt.
Die einzelnen Arbeitsschritte
Die Applikation einer Fissuren- und Grübchenversiegelung ist im Vergleich zur Füllungstherapie ein weniger zeitintensives und einfacheres Procedere. Dennoch sind auch hier alle klinischen Arbeitsschritte zur Qualitätssicherung sorgfältig auszuführen (Tabelle) und eine gute Kooperation bei den kindlichen beziehungsweise jugendlichen Patienten ist sicherzustellen. Eine Vierhand-Technik ermöglicht darüber hinaus die konsequente Einhaltung der nachstehend formulierten Qualitätsstandards sowie ein sicheres und effizientes Arbeiten [Griffin et al., 2008].
Fissuren- und Grübchenversiegelung
Zahnreinigung
rotierendes Bürstchen
Präparation des Schmelzes mit
rotierenden Instrumenten
nein
Trockenlegung
absolute Trockenlegung (Kofferdam) oder
relative Trockenlegung mit effektiver
Absaugung zur Vermeidung einer Speichelkontamination
Säurekonditionierung
30 bis 60 Sekunden am bleibenden Zahn
Schmelz- und Dentinbonding
grundsätzlich nicht erforderlich. zusätzlicher
Auftrag eines Haftvermittlers aber möglich
bevorzugtes Material
Methacrylat-basierter Versiegelungskunststoff
Lichtpolymerisation
abhängig vom verwandten Material und der
Polymerisationslampe (i. d. R. 20 Sekunden)
Okklusionskontrolle und
ggf. -korrektur
ja
Politur und Fluoridierung
ja
Tabelle. Quelle: Leitlinie
Fissurenreinigung:
Im Rahmen von klinischen Studien wurden unterschiedliche Vorgehensweisen bei der professionellen Zahnreinigung vor der Versiegelung nur in wenigen klinischen Untersuchungen in Relation zur Retention untersucht. Die Mehrheit aller klinischen Studien verweist auf eine vorab durchgeführte Zahnreinigung.
So ist die Zahnreinigung ein unverzichtbarer Teilarbeitsschritt der Grübchen- und Fissurenversiegelung und soll daher immer vor der Versiegelung erfolgen. Dieser Arbeitsschritt ist zudem Grundlage für eine korrekte kariesdiagnostische Untersuchung an den Fissuren und Grübchen.
Trockenlegung:
Der Einfluss der Trockenlegung auf die Retentionsrate von Fissuren- und Grübchenversiegelungen wurde in einzelnen vergleichenden klinischen Untersuchungen verifiziert. Die dokumentierten Retentionsraten deuten auf eine Gleichwertigkeit der absoluten im Vergleich zur relativen Trockenlegung hin.
Daher kann postuliert werden: Eine sichere Trockenlegung soll bei der Fissuren- und Grübchenversiegelung die Einhaltung der relevanten Arbeitsschritte, Konditionierung, Materialauftrag und Polymerisation gewährleisten. Kann kein vierhändiges Arbeiten mit relativer Trockenlegung im Praxisalltag umgesetzt werden, wird die Applikation der Fissuren- und Grübchenversiegelung unter Zuhilfenahme von Kofferdam empfohlen.
Konditionierung der aprismatischen Schmelzschicht:
Die äußere aprismatische Schmelzschicht, die unbehandelt einen adhäsiven Verbund zu Versiegelungsmaterialien verhindert, kann mit verschiedenen Methoden entfernt beziehungsweise modifiziert werden. Als Standardvorgehen zur Herstellung eines adhäsiven Verbunds zwischen Zahnschmelz und Methacrylat-basierten (Versiegelungs-)Kunststoffen gilt bis heute die Säurekonditionierung. Damit wird die äußere aprismatische Schmelzschicht entfernt. Dies führt zur Freilegung der darunter liegenden Schmelzprismen. Im Ergebnis liegt ein mikroretentives Oberflächenrelief vor, das sich mit dem hydrophoben Versiegelungskunststoff verzahnt. Dieses Vorgehen ist seit Jahrzehnten Garant für die Langlebigkeit von adhäsiv befestigten Restaurationen oder Fissuren- und Grübchenversiegelungen. Typischerweise werden Methacrylat-basierte Versiegelungsmaterialien in Verbindung mit der Säurekonditionierung eingesetzt.
Zur Schmelzkonditionierung findet mehrheitlich 35- bis 37-prozentige Ortho-Phosphorsäure in Gelform (früher als Flüssigkeit) Verwendung. Gele zeichnen sich durch eine kontrollierbare und ortsständige Applikation aus und zeigen keine wesentlichen Unterschiede im Ätzmuster im Vergleich zu flüssigen Säuren. Nach gründlichem Absprayen der Säure und forcierter Trocknung muss eine kreidig-weiße Schmelzoberfläche sichtbar sein. Dieses Merkmal gilt als Kontrolle für einen erfolgreichen Ätzvorgang.
Die überwiegende Mehrzahl der klinischen Studien nutzte eine mindestens 30-sekündige Applikationszeit; lediglich wenige Arbeitsgruppen konditionierten den Zahnschmelz in klinischen Studien vor der Versiegelung kürzer. Der Konsens besagt:
• Die Säurekonditionierung stellt das Vorgehen der Wahl zur Konditionierung des Zahnschmelzes vor der Fissuren- und Grübchenversiegelung dar. Daher soll dieser Arbeitsschritt zur Anwendung kommen.
• Die Einwirkzeit der Säure soll am unbehandelten Zahnschmelz vor der konventionellen Fissurenversiegelung mindestens 30 Sekunden betragen. Ein opakes Ätzmuster gilt als adäquates Ergebnis des Ätzvorgangs.
• Eine Verkürzung der Säurekonditionierung auf weniger als 30 Sekunden kam in einigen klinischen Studien zum Einsatz. Die Ergebnisse zeigen ein heterogenes Retentionsverhalten mit zum Teil sehr niedrigen Raten intakter Versiegelungen nach zwei Jahren Liegedauer. Es fehlen aussagekräftige und langfristige klinische Studien zu der Fragestellung, auf welche Zeit die Säurekonditionierung verkürzt werden kann, ohne dass mit Retentionseinbußen zu rechnen ist.
• Die Anwendung von selbst-konditionierenden Adhäsiven stellt eine Möglichkeit dar, den klinischen Arbeitsprozess zu verkürzen. Allerdings erreichen die bislang dokumentierten Retentionsraten nicht die mit dem konventionellen Vorgehen publizierten Überlebensraten. Daher kann die klinische Anwendung selbst-konditionierender Adhäsive gegenwärtig nicht vorbehaltlos empfohlen werden.
• Die „Air Abrasion“ kann prinzipiell für die Vorbehandlung der Schmelzoberfläche vor der Fissuren- und Grübchenversiegelung genutzt werden. Dem steht jedoch ein zusätzlicher Geräteaufwand gegenüber.
• Für die Nutzung der Laserkonditionierung zur Vorbehandlung der Schmelzoberfläche liegen nur unzureichende klinische Daten vor. Zudem ist ein zusätzlicher Geräteaufwand notwendig. Daher kann die klinische Anwendung der Laserkonditionierung gegenwärtig nicht vorbehaltlos empfohlen werden.
Applikation des Versiegelungsmaterials:
• Die Applikation des Versiegelungsmaterials soll grazil im Fissurenrelief erfolgen. Materialüberschüsse, die zu okklusalen Vorkontakten und einem partiellen oder vollständigen Retentionsverlust führen können, sollen vermieden werden.
Polymerisation, Kontrolle der Okklusion und Politur:
• Die Polymerisationszeit ist abhängig von der Lichtintensität und dem Versiegelungsmaterial und soll in der Regel 20 Sekunden betragen (Beachten: Alle Versiegelungsanteile müssen vom Licht ausreichend erfasst werden.). Nach der Aushärtung soll eine Okklusionskontrolle erfolgen; interferierende Überschüsse sollen korrigiert werden.
• Zur Entfernung der oberflächlichen Sauerstoffinhibitionsschicht soll eine Politur der Fissuren- und Grübchenversiegelung erfolgen. Zur Remineralisation geätzter, aber nicht versiegelter Schmelzareale wird die Lokalapplikation eines Fluoridpräparats empfohlen.
Monitoring:
• Versiegelte und unversiegelte Fissuren und Grübchen sollen einer regelmäßigen Kontrolle unterzogen werden. Die Verlaufskontrollen sollen sich an den durch die Kariesrisikoeinstufung festgelegten Intervallen orientieren.
• Im Fall eines Retentionsverlusts soll die Nachversiegelung entsprechend den Indikationsempfehlungen geprüft werden.
Prof. Dr. Jan Kühnisch, Prof. Dr. Reinhard Hickel,Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGoethestr. 70, 80336 München, E-mail:Prof. Dr. Franz-Xaver Reichl, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologiesowie Walther-Straub-Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGoethestr. 33, 80336 München
Prof. Dr. Roswitha Heinrich-WeltzienPoliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde, Uniklinikum JenaBachstr. 18, 07743 Jena
Die Erstellung dieser S3-Leitlinie „Fissuren- und Grübchenversiegelung“ erfolgte unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ) und der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK).Die Leitlinienentwicklung wurde beraten durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und organisatorisch unterstützt durch das Zentrum Zahnärztliche Qualität (ZZQ).Die Leitlinie ist auf der Website der AWMF unterhttp://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/083–002.htmlveröffentlicht.