Ein literarischer Briefwechsel

Der Dichter und sein treuester Freund

Zwei Männer, eine Frau und ein Doktorand: Der Dichter Gottfried Benn und der Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze sind verbunden durch eine Brieffreundschaft – „ein Jahrhundertdialog“ jubelte die Presse. Die Frau ist Zahnärztin und mit Benn verheiratet. Der Doktorand darf den Nachlass des Dichters verwalten. Ihm vertraut die Witwe die Manuskripte aus dem Zahnarztschrank an. Dazu gibt es Omelett und einen Zehner für die Bahnfahrt.

Gottfried Benn, Arzt, Lyriker, Essayist, Prosaschriftsteller und neben Thomas Mann und Bertolt Brecht einer der großen Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde am 2. Mai 1886 geboren. Er studierte Medizin, arbeitete als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Seine große Liebe galt jedoch der Literatur. Vor allem seine frühen Gedichte befassen sich oft mit medizinischen Themen. So in seinem Gedicht „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ von 1912:

Der Mann:Hier diese Reihe sind zerfallene Schößeund diese Reihe ist zerfallene Brust.Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,das war einst irgendeinem Manne großund hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.Kein Mensch hat so viel Blut.Hier dieser schnitt manerst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuensagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntagsfür den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rückensind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmalwäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Benn starb am 7. Juli 1956, kurz nach seinem 70. Geburtstag. Das vergangene Jahr (2016) war für ihn also ein Gedenkjahr, obgleich die Medien, die sonst aus allem einen Rummel machen, diesen Anlasss ignoriert haben. Aber dieses Gedenkjahr wurde auf andere Weise gewürdigt – durch das Erscheinen der vierbändigen Ausgabe des Briefwechsels zwischen Gottfried Benn und seinem Bremer Freund Friedrich Wilhelm Oelze.

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Enthielt die alte, erste Ausgabe aus den Jahren 1978–1980 einseitig nur die Briefe von Benn an Oelze, da Oelze die Publikation seiner Briefe an Benn untersagt hatte, liegt mit der neuen Ausgabe der gesamte erhaltene Briefwechsel vor: Während Oelze die Briefe von Benn von Anfang an so gut wie vollständig gesammelt und über den Krieg gerettet hat, gibt es bei den Briefen von Oelze an Benn mehrere Lücken, größere und kleinere.

So hat Benn in den 30er Jahren bestimmmte Briefe von Oelze aus Sorge vor der Gestapo vernichtet, auch hat er wohl 1945 bei seiner Flucht aus Landsberg an der Warthe dort Briefe von Oelze zurücklassen müssen.

Auch so bleibt der Umfang des Austauschs beachtlich: Die neue Ausgabe enthält 748 Briefe von Benn und – immerhin – trotz der Lücken 569 Briefe von Oelze, außerdem die Briefe von den und an die Frauen der beiden Briefpartner, insgesamt 1.349 Briefe.

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Der letzte Brief von Benn aus Schlangenbad im Taunus, wohin man ihn zur Kur geschickt hatte, liegt nur in einer stark verkürzten Abschrift von Oelze vor, zu der dann aber während der Arbeit an der neuen Ausgabe eine Kopie des vollständigen Briefes auftauchte, die, weil es keinen Beweis für ihre Echtheit gibt, nur im Nachwort des vierten Bandes wiedergegeben wurde. Sollte der Text der Kopie echt sein, dann wäre dieser Brief ein erstaunliches Dokument, weil er die Vermutung nahelegt, dass Benns Frau Ilse, von Beruf Zahnärztin, ihm auf seinen Wunsch Sterbehilfe geleistet hat. Bemerkenswert ist auch, wie offen die beiden Briefpartner sich, obwohl Benn mehrfach zur Vorsicht mahnt, über Ereignisse und Zustände im Dritten Reich und über den Kriegsverlauf austauschen, auch wenn sie es vermeiden, zum Kriegsbeginn, zum Einmarsch in die Sowjetunion, zur Invasion der Alliierten in der Normandie und zum 20. Juli 1944 direkt Stellung zu nehmen. Aber immerhin schreibt Benn einmal, am 14. Dezember 1941, in einem langen Brief über die Kriegslage und aus dem OKW:

‘Es knistert im Gebälk‘, sagte kürzlich – authentisch – einer der berühmtesten Namen, den jeder kennt, in kleinstem Kreis, ‘nur gut, dass erst wenige wissen, dass das Schlusskapitel längst begonnen hat‘. Dass wir als Soldaten fallen werden, wie Sie schreiben, halte auch ich für möglich. Es wird wahrscheinlich das Schlimmste noch nicht sein.

Für beide war es ein großes Glück, dass keiner ihrer Briefe geöffnet und kontrolliert wurde. Was geschehen wäre, wenn die Gestapo misstrauisch geworden wäre, mag man sich gar nicht ausmalen.

Großes Glück für Benn war es aber auch, dass die Manuskripte aus den Kriegsjahren – allesamt nur in einem Exemplar vorhanden –, die er als Nachlass des angeblich bei Stalingrad gefallenen Dr. Werff Rönne deklarierte und in einem Dienstpaket mit Dienstsiegel am 23. Januar 1945 aus Landsberg an Oelze schickte, trotz der chaotischen Verhältnisse in den letzten Kriegsmonaten unversehrt ankamen. Ausdrücklich bat er Oelze, das (in wasserdichtes gelbes Wachstuch eingeschlagene) Paket zu öffnen und in den Manuskripten zu lesen: „Sie werden mein einziger und vielleicht mein letzter Leser sein.“

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„Es knistert im Gebälk“

Dass die Briefe von Oelze, allesamt von Hand und zumeist auf blauem Briefpapier geschrieben, jetzt endlich veröffentlicht worden sind, hat seine eigene Bewandtnis. Überhaupt gilt: Benn hat erst lange gezögert und am Ende nur widerwillig der Publikation zugestimmt, während Oelze von früh an überzeugt war, dass Benns Briefe, die für ihn geradezu ein „Panorama des Geistes“ darstellten, für die Veröffentlichung prädestiniert seien. Seine eigenen Briefe an Benn, denen er lediglich die „Bedeutung von Anregungen, Stichworten und Fragestellungen“ zuerkennen wollte, hat er dagegen nicht für die Veröffentlichung freigegeben und dies in seinem Testament ausdrücklich „für alle Zeiten“ untersagt. Dass diese Briefe nun in der neuen Ausgabe enthalten sind, so dass man den vollständigen Briefwechsel lesen kann, ist einerseits der Zustimmung seiner Erben zu verdanken und andererseits der Tatsache, dass Oelze, als er 1978 im Krankenhaus lag, im letzten Telefon- gespräch mit mir kurze Zeit vor seinem Tod gesagt hat, er wisse gar nicht mehr, warum er sein Publikationsverbot aufrecht erhalten solle, und gegen eine spätere Veröffentlichung auch seiner Briefe nichts mehr einzuwenden habe. So ist in Kooperation zwischen dem Verlag Klett-Cotta und dem Wallstein Verlag der vollständige Briefwechsel publiziert, ein Briefwechsel, der immerhin fast ein Vierteljahrhundert umspannt.

Sein Beginn steht im Zeichen Goethes: Oelze, Jurist, Importkaufmann, Homme de Lettres, großer   Goetheverehrer und -kenner, hatte 1932, im 100. Todesjahr Goethes, in der „Neuen Rundschau“ Benns Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ gelesen, und ihn spontan in einem (nicht erhaltenen, vermutlich bewundernden) Brief um ein Gespräch gebeten.

Aber Benn reagiert höflich abweisend: „Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.“ Oelze ließ sich dadurch jedoch nicht entmutigen, und so entwickelt sich aus diesem Anfang ein Briefwechsel, der sich von Ende 1932 bis zu Benns Tod im Sommer 1956 erstreckt. Er war nicht immer frei von Missstimmungen und Spannungen, etwa im Jahr 1936, als Benn den Abbruch ihrer Beziehung wünschte, aber dann, anlässlich eines üblen Angriffs in der SS-Zeitung „Das schwarze Korps“, doch den Kontakt wiederherstellte.

„Eine wahrhafte Fahrt über den Styx“

In den folgenden Jahren war Benn angesichts eines Schreibverbots und seiner wachsenden Isolation im NS-Staat dankbar, in Oelze einen verständnisvollen und vertrauenswürdigen Briefpartner zu haben, einen Partner, der an ihn glaubte, der ihn rückhaltlos bewunderte und sich in den ersten Nachkriegsjahren nachdrücklich für die Publikation Benns neuer Arbeiten einsetzte. Man übertreibt nicht, wenn man sagt: Hier liegt eine der großen literarischen Korrespondenzen aus dem vergangenen Jahrhundert vor, eine Korrespondenz, die nicht nur im Blick auf Benn biografisch und werkgeschichtlich von herausragender Bedeutung ist, sondern auch zeitgeschichtlich, insofern die Briefe sehr interessante Einblicke in die NS-Zeit und das erste Nachkriegsjahrzehnt gewähren.

Benn war dreimal verheiratet. Seine erste Frau Eva Osterloh, die er 1914 bei Kriegsausbruch heiratete, starb bereits 1922 an den Folgen einer Gallenblasenoperation. Seine zweite Frau Hertha von Wedemeyer heiratete er im Januar 1938. Am 5. April 1945 schickte er sie von Berlin nach Neuhaus an der Elbe, um sie vor dem Endkampf um die Stadt in Sicherheit zu bringen. Als dann nach Kriegsschluss die sowjetische Besatzungszone nach Westen bis an die Elbe ausgeweitet wurde und sie keine Möglichkeit zur Flucht über die Elbe fand, nahm sie sich mit dem Morphium, das sie beide in den letzten Kriegsjahren immer bei sich hatten, das Leben: Sie hatte von Benn keine Nachricht erhalten und glaubte vermutlich, dass er nicht überlebt hatte. Ende Juli 1945 erfuhr Benn von ihrem Tod, besuchte im September 1945 und dann noch einmal 1946 ihr Grab in Neuhaus: „eine wahrhafte Fahrt über den Styx. Ein Unternehmen auf Leben u. Tod.“

Wahrscheinlich im März 1946 lernte Benn in seiner Praxis anlässlich einer behördlich verordneten Typhusimpfung die Zahnärztin Ilse Kaul kennen, die in seiner Nähe wohnte und eine eigene Praxis betrieb. Am 18. Dezember 1946 heiraten die beiden, und Mitte 1947 verlegt Ilse Benn ihre Praxis in Benns Vierzimmerwohnung in der Bozener Straße.

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Nach seinem Tod im Jahr 1956 wollte sie nicht länger in Berlin bleiben, zog mit ihrer Praxis nach Bernhausen bei Stuttgart, erwarb ein paar Jahre später ein Haus in Wolfschlugen bei Nürtingen, betrieb dort weiterhin ihre Zahnarztpraxis und hatte bald viele freundschaftliche Kontakte in Stuttgart, unter anderem zum Kreis um HAP Grieshaber.

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„Wie groß fing das alles an ...“

Im Herbst 1964 lernte ich sie auf einer Hölderlin-Tagung in Tübingen kennen. Schon dort sicherte sie mir – hilfsbereit wie sie war – zu, dass ich den Benn-Nachlass für die Arbeit an meiner Dissertation auswerten könne. Und so fuhr ich dann von 1965 an oft mit dem Zug nach Nürtingen, wo sie mich am Bahnhof abholte, und konnte den ganzen Tag oben in einem Dachzimmer ihres Hauses arbeiten, wo sie mich mit Manuskripten und den Arbeitsheften von Benn versorgte und mich mittags mit einem Omelett verköstigte. Benns Nachlass, so schien es, war im ganzen Haus verteilt. Hin und wieder holte sie sogar Manuskripte aus einem der Zahnarztschränke in ihrem Behandlungszimmer. Dort stand, wenn ich mich richtig erinnere, in einer Ecke ein ausrangiertes Bohrgerät, das statt mit einem Elektromotor mechanisch wie eine alte Nähmaschine oder ein Tretroller mit einer Fußwippe betrieben werden konnte, ein Gerät, das ihr im Berlin der ersten Nachkriegsjahre bei den vielen Stromsperren gewiss wertvolle Dienste geleistet hatte. Auch Benn hat zu dieser Zeit viele Briefe an Oelze bei Kerzenlicht geschrieben. Oft musste ich Ilse Benn auch ausführlich von Oelze berichten, den ich damals ein- oder zweimal im Jahr in Bremen besuchte. Wenn sie mich dann abends wieder zum Nürtinger Bahnhof brachte, vergaß sie nie, dem „armen Studenten“ 10 DM für die Fahrkarte zu geben. Sie war eben eine sehr selbstständige, aber auch eine sehr unkomplizierte und zugleich sehr umsichtig und praktisch denkende Frau, die immer auf dem Boden der Realität stand.

„Von beiden Seiten eine Liebesheirat“

Für die Zeit nach meiner Promotion hatten Ilse Benn und ich mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach vereinbart, dass dort vom gesamten Nachlass Kopien als Grundlage eines Benn-Archivs hergestellt werden sollten, für das ich die Kopien und die Originale, die Ilse Benn später auch nach Marbach geben wollte, nach derselben Ordnung inventarisiert habe. Aus dieser engen Zusammenarbeit mit ihr wurde mit der Zeit eine freundschaftliche Verbindung: Sie besuchte uns, meine Frau und mich, in unserer Studentenwohnung in der Tübinger Altstadt, und wir waren oft zu Gast bei ihr in Wolfschlugen. Auch bei der Arbeit an der ersten Ausgabe der Benn-Briefe an Oelze hat sie Jürgen Schröder und mich vielfach mit Informationen unterstützt, die wir für die Briefkommentierung benötigten. So hat sie sich bis zu ihrem Lebensende ohne Wichtigtuerei um das Werk ihres Mannes verdient gemacht; niemals hat sie sich aufgespielt wie viele andere Dichterwitwen, von denen die Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs ein Lied singen können.

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