Zwangssterilisationen bei Spaltpatienten im Dritten Reich

Halbgötter in Braun

Stefan Paprotka
Der Berliner Zahnarzt Stefan Paprotka hat erstmalig zahnmedizinische und medizinische Dissertationen aus den Jahren 1933–1945 untersucht. Er beschreibt, wie sich vorwiegend angehende Zahnmediziner und Mediziner in Forschung und Lehre an den Universitäten des Deutschen Reiches schon früh zu einer neuen nationalsozialistischen „(Zahn-)Heilkunde“ bekannt haben.

Bereits vor 1933 gab es in Europa öffentliche Bestrebungen und Debatten darüber, „erbkranke und lebensunwerte Menschen“ gesellschaftlich auszugliedern, indem man bestimmend in ihr Leben eingriff, ihre Persönlichkeitsrechte ignorierte und gerichtlich ihre Zwangssterilisierung beschloss. „Vollendet“ wurde die Stigmatisierung und Ausgrenzung kranker Menschen im Deutschen Reich im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das – rechtskräftig seit dem 1. Januar 1934 – von den Nationalsozialisten zur „Bereinigung des Volkskörpers“ quer durch alle sozialen Schichten angewandt und konsequent umgesetzt wurde.

Für das gesamte Reichsgebiet geht man mittlerweile von bis zu über 400.000 Zwangssterilisierten aus. Bis heute kämpfen die wenigen, inzwischen hochbetagten Opfer dieser Zwangsmaßnahmen um Rehabilitation und Anerkennung als Verfolgte [Hamm, 2005].

Unverbrüchliche Treue zum Führer und zur NS-Medizin

Die Medizin der Jahre 1933 bis 1945 „funktionierte“ über Aussonderung, Verstümmelung und das gezielte Töten von Menschen. Hochschullehrer, denen man nicht nur eine unverbrüchliche Treue zu den ideologischen Grundsätzen der „neuen nationalsozialistischen Medizin“ nachsagen konnte, sondern auch einen gewissen Fanatismus hinsichtlich deren Durchsetzung, dominierten an den deutschen Universitäten.

Aufgrund ihrer exponierten Position als Hochschullehrer waren sie prädestiniert als Wunschkandidaten der NSDAP, um die Partei-Ideologie wissenschaftlich zu untermauern. Schließlich repräsentierten sie die damals herrschende Lehrmeinung im Fach „Zahnmedizin, Medizin und Rassenkunde“, die häufig mit einem „unverbrüchlichen, persönlichen Bekenntnis zum Führer Adolf Hitler“, dem nationalistischen Staat und dessen Zielen verbunden war.

So entfaltete sich eine rege Forschungstätigkeit auf Grundlage der im Gesetz vorgegebenen Parameter zur Entstehung der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, die im § 1 Abs. 8 (schwere erbliche körperliche Missbildungen) aufgenommen war.

Alle im Deutschen Reich tätigen Mediziner und Angehörigen medizinischer Heilberufe waren staatlichen Institutionen gegenüber zur Meldung einer entsprechenden Symptomlage verpflichtet. Bei der Recherche zu seiner Dissertation fand der Autor in der Staatsbibliothek Berlin zum Thema bisher unbearbeitete Dissertationen zur „erbbiologischen Bedeutung der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ mit oder ohne Gesetzesbezug. Das Ergebnis dieser Arbeiten bestand – sehr häufig – in der Empfehlung des Verfassers den Gesetzesvorgaben zu folgen und die Zwangssterilisation zum gegebenen Zeitpunkt durchzuführen.

Das Thema „Zwangssterilisierung“ entbehrte in der damals aktuellen Forschung durchaus nicht einer gewissen Brisanz, galt es doch die wissenschaftliche Aufarbeitung der täglichen Praxis anzugleichen und rassenideologisch zu bekräftigen, denn immerhin galt jedes 500. Neugeborene im Dritten Reich als „erbkrank“. Stellvertretend sei hier die medizinische Dissertation von Jakob Wittemann: „Chirurgische Missbildungen und ihre Bedeutung für das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus dem Jahr 1937 genannt [Wittemann, 1937].

Eine Tendenz zum verstümmelnden Eingriff

Andere Dissertationen befassten sich mit den rein erblichen Grundlagen zur Entstehung der Spalten, denn in der Forschung herrschte teilweise ein großer „Disput“ zwischen den (be)handelnden Chirurgen und den Parteiideologen hinsichtlich der Einordnung des Defekts. Galt dieser als schwer und vollständig, musste unabdingbar eine Zwangssterilisation der betroffenen Symptomträger vorgenommen werden.

Weniger schwere Defekte unterlagen häufig nur einer ästhetischen Korrektur seitens der Kieferchirurgen und eine Zwangssterilisation konnte vermieden werden. Prinzipiell tendierten aber alle Verfasser diesbezüglicher Arbeiten zu einem verstümmelnden Eingriff. Die wohl bekannteste Arbeit hierzu wurde vom späteren SS-Lagerarzt Josef Mengele verfasst, der sich mit „Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte[n]“ befasste [Mengele, 1939].

„Sippenforschung“ und Zwillingsforschung waren eine beliebte Methode, sich dem Problem der Vererbung zu nähern. Begleitet wurden diese wissenschaftlichen Arbeiten von einer Fülle offizieller Propagandaschriften, bei denen sich neben Theologen auch Universitätsprofessoren anderer Disziplinen hervortaten. Beliebte Themen waren „Auslese“, „Rassenpflege“, die „Sterilisierung Minderwertiger“, „Aufartung durch Ausmerzung“, „Sterilisation und Euthanasie“ und „Der Siegeszug der neuen Heilkunde“ [Paprotka, 2016]. Durch diese Zusatzliteratur wurden die medizinischen und erbiologischen Bestrebungen des Parteiapparats zur „Reinerhaltung des Volkskörpers“ auf breitester Basis unterstützt.

Selbst während des Krieges wurden Soldaten an der Front mit sogenannten „Nationalsozialistischen Schulungs- und Tornisterschriften“ versorgt, in denen hochrangige Wehrmachts(zahn)- mediziner – allen voran M. Staemmler (1890–1970) – ein „Zuchtziel“ zu verkünden hatten [Staemmler, 1939]. Die Loyalität und der Gehorsam der Mediziner förderten es, den in Worte gesetzten, ideologisch verbrämten Genozid wirkungsvoll umzusetzen.

Aufseiten der behandelnden Kieferchirurgen gab es allerdings unterschiedliche Ansichten und Meinungen zu diesem Verfahren. G. Axhausen (1877–1960) und W. Rosenthal (1882–1971), führende Kieferchirurgen der Zeit, befürworteten zum Beispiel den Verzicht auf einen Eingriff, wenn die Symptomatik der LKG nur schwach ausgeprägt war, andere Chirurgen wie etwa M. Waßmund (1892–1956), V. Orator (1894–1954) oder E. Lexer (1867–1937) dagegen waren strenge Verfechter des nationalsozialistischen Rassegedankens und forderten absolut eine Zwangssterilisation bei Vorliegen einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte.

Überwiegend wurde der ärztliche Auftrag dem parteiideologischen untergeordnet – basierend auf der von Orator formulierten Forderung, dass in der Ausbildung der deutschen Chirurgen „das neue Gedankengut der Volksgemeinschaft, die Bedeutung der volkhaften, naturnahen Medizin, der Erb- und Rassenlehre scharf zur Darstellung zu bringen sei“ [Philipp, 2003].

Gerhard Wagner, selbst ernannter Reichsärzteführer, forderte auf dem Reichsparteitag 1935 eine „Entemotionalisierung“ der gesamten Medizin, durch die die deutsche Ärzteschaft in die Lage versetzen werden sollte, bei der Krankenbehandlung das „Recht und die Notwendigkeit des gesamten Volkes“ im Auge zu behalten [Wagner, 1935].

Rassenideologisch gehorsame Mediziner

Durch diese einschneidenden Vorgaben wurde den Ärzten eine große Mitverantwortung an der den politischen Umständen angepassten Vernichtungspolitik übertragen. Eine auf Gehorsam und Rassenideologie basierende Medizin machte es möglich, dass der a priori „heilende Arzt“ zum Täter wurde.

Der „Reichsrechtsführer“ Hans Frank (1900–1946) forderte schon 1934 von allen Handelnden „das richtige Verständnis des Rechtsgeistes“ vor allzu großer „Strenge der Rechtsanwendung“ des Gesetzes. Somit war das richtige Verständnis des Rechtsgeistes der Nationalsozialisten im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im negativen Sinn beispiellos vervollkommnet: das Gesetz als Träger der Gerechtigkeit [Frank, 1934].

Anzumerken wäre noch, dass beispielsweise in Dissertationen nach 1945 an der Nordwestdeutschen Kieferklinik in Hamburg, deren Grundriss „zufällig“ den SS-Runen entsprach, bei Arbeiten zu dem Thema Lippen-Kiefer-Gaumenspalten durchaus zeittypisch mit keinem einzigen Hinweis das Schicksal der Erkrankten und deren Familien zur Zeit der Nazi-Diktatur auf irgendeine Art und Weise Erwähnung gefunden hätte, zumal es sich bei den beschriebenen Fällen nur um solche aus den Jahren 1926 bis 1942 handelte [Muissus und Geisenheimer, 1963].

Der Krieg war 1945 beendet, und es war keinesfalls eine Ausnahme, dass an deutschen Universitäten (auch in der DDR) immer noch ehemalige NSDAP-Mitglieder den Medizinischen Fakultäten einflussreich vorstanden. Wie bekannt ist, hat dieser Zustand bis weit in die 60er-Jahre angehalten: Zahlreiche Mediziner konnten sich ihrer Verantwortung, die sie durch Gehorsam und Täterschaft auf sich geladen hatten, erfolgreich entziehen.

Dr. med. dent. Stefan Paprotka
Praxis Jutta Schalge-Al-Dilaimi

Stadtrandstraße 507, 13589 Berlin-Spandau

Stefan Paprotka

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