Der Zahnarzt als Unternehmer

Zahnarzt, auch um das Gemeinwohl zu mehren!

Als erster Zahnarzt in Deutschland führt Dr. Matthias Eigenbrodt seine Praxis nach den Prinzipien der sogenannten Gemeinwohl-Ökonomie. Bei diesem alternativen Wirtschaftsmodell wird Erfolg daran gemessen, wie viel ein Unternehmen zum Wohl der Allgemeinheit beiträgt. Konkret: Wie nachhaltig, fair, solidarisch, gerecht und partizipativ arbeitet Ihre Praxis?

Herkömmlich meint wirtschaftliches (kapitalistisches) Denken zumeist die Fixierung auf Gewinnmaximierung und ständiges wirtschaftliches Wachstum. Nicht so in der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Die stellt dieses Wirtschaftsmodell infrage – und auf den Kopf. Die Gemeinwohl-Ökonomie setzt voraus, dass ein Unternehmen auch eine Verantwortung für sein (direktes) Umfeld hat. In der Theorie heißt das, nicht ein möglichst großer Finanzgewinn ist die Maxime, sondern die Steigerung des Gemeinwohls über die Umsetzung von sozialen und ethischen Aspekten in der Betriebsführung (Kasten). In der Praxis bedeutet das, sich mit Fragen auseinanderzusetzen wie „Wie sehen die Arbeitsbedingungen in meiner Praxis aus?“, „Welche Mitspracherechte haben die Mitarbeiter?“, „Welche Kriterien werden beim Einkauf von Elektronik, Papier, PKW, Energie und bei den Gebäuden angelegt?“. Des Weiteren geht es um Fragen wie „Wird bei der Praxisführung ökologische Nachhaltigkeit sichergestellt?“ oder „Wird soziale Gerechtigkeit gefördert?“.

„Maximale Rendite?Ich bin doch kein MVZ!“

Die Frage, ob Profitmaximierung um jeden Preis und grenzenloses Wachstum den Menschen guttut, hat Eigenbrodt schon lange beschäftigt, sagt er. Und findet für das Thema auch einen aktuellen Aufhänger in der Zahnmedizin: „Diese Frage wird derzeit ja befeuert durch Investoren, die MVZ kaufen, um damit maximale Renditen zu erzielen – und dies, ohne die zahnmedizinische Versorgung zu verbessern.“

Statt für die Rendite begeisterte sich Eigenbrodt für die Idee der GWÖ. Inwieweit ein Unternehmen zum Allgemeinwohl beiträgt, wird anhand einer Bilanzierung festgestellt. Hierfür musste Eigenbrodt seine zehnköpfige Praxis anhand eines Fragenkatalogs, der „Gemeinwohl-Matrix“, einer detaillierten Untersuchung unterziehen (Kasten). Die Kriterien zur Bilanzierung sind Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und demokratische Mitbestimmung. Nach diesen Aspekten wird die Praxis bis ins Kleinste durchforstet. 

Eigenbrodt hat in seiner Kreuzberger Praxis dafür alles hinterfragt, jedes Detail seiner zahnärztlichen Denk- und Arbeitsweise. „Alles wurde umgekrempelt, jeder Arbeitsschritt skelettiert, jeder Vorgang beleuchtet. Da blieb kein Stein auf dem anderen“, sagt er. Am Ende des Prozesses steht dann die Gemeinwohlbilanz. Von Januar bis Juni 2018 unterzog der Berliner Zahnarzt sich dem notwendigen Prozedere, die Jahre 2015 bis 2017 mit den Matrix-Kriterien zu untersuchen. Ergebnis: Er kommt auf 428 von 1.000 möglichen Punkten. 

Eigenbrodt ist Überzeugungstäter: Bereits 2015 erstellte er den Bericht. Den aktuellen stellte er wie den vorherigen auf seine Homepage. Das brachte ihm beim Untersuchungsindikator Transparenz einige Pluspunkte. Auch, dass er den Umsatz mit angab: 900.000 Euro pro Jahr weist der 90-seitige Bericht aus. Der Gewinn allerdings bleibt Geschäftsgeheimnis.

„Wie ethisch ist Dein Beschaffungsmanagement?“

Beim Untersuchungsindikator „Ethik des Beschaffungsmanagements“ beispielsweise geht es laut Handbuch der GWÖ um die unternehmerische „Verantwortung für die vorgelagerten Wertschöpfungsschritte“. Ein Blick in Eigenbrodts Bericht offenbart: Seine Praxis verwendet zu 100 Prozent Ökostrom. Er arbeitet mit keinem Dentallabor aus dem Billiglohn-Ausland zusammen, sondern hat ein eigenes Dentallabor mit einer angestellten Zahntechnikerin. Die hat er aus einer prekären Situation in einen sozialversicherungspflichtigen Job transferiert, ist im Bericht zu lesen. Das Labor ist im selben Gebäude, „das garantiert kurze ökologische Wege“. Der Kaffee für Patienten und Mitarbeiter ist aus fairem und ökologischem Anbau. Die digitale Röntgenanlage ist mit Speicherfolie versehen, das trägt zur geringstmöglichen Strahlendosis bei. In der Praxis wird möglichst doppelseitig gedruckt, das spart Papier, ein E-Auto wurde geleast, 95 Prozent der Dienstfahrten erledigt der Chef ohnehin mit dem Praxisfahrrad. Die Materialbestellung erfolgt über ein Dentalunternehmen, das einen Wertekanon besitzt, Büromaterial wird bei einem nachhaltigen Anbieter geordert.

Ein anderes Kriterium des Fragenkatalogs: faire Beschäftigungs- und Entgeltpolitik. Eigenbrodts Mitarbeiter erhalten 20 bis 25 Prozent mehr als die Tarifverträge vorsehen, so der Bericht. Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst der angestellten Mitarbeiter beträgt 3.067 Euro, eine Betriebsrente bekommen alle Mitarbeiter, die die Probezeit hinter sich haben, vier Mitarbeiter bekommen eine Umsatzbeteiligung. Wirtschaftliche Folge: Im Benchmark liegt er mit 39 Prozent an Personalkosten um zehn Prozent höher als Vergleichspraxen seiner Größe (siehe Interview).

Rechnet sich das denn überhaupt?

Weiter erfährt man im Bericht, dass Amalgam in der Praxis aus gesundheitlichen und umweltverträglichen Gründen vermieden und auch nicht angeschafft und Zahnersatz aus ethischen Gründen nicht im Ausland, sondern im regionalen Berliner Labor hergestellt wird. 

Zudem erfüllt Eigenbrodts Praxis keine der 17 Negativkriterien, die für die Bilanz mit einem Minus zu Buche schlagen. Zu derartigen Kriterien gehören etwa die Verhinderung eines Betriebsrats, Verstöße gegen Umweltauflagen, Dumpingpreise oder eine exzessive Einkommensspreizung. Im Bereich soziales Engagement konnte die Praxis damit punkten, dass sie Altgold- und Kaffee-Spenden für den Jemen sammelt, den Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) mit einer Fördermitgliedschaft unterstützt und ein Fördermitglied bei „Rote Nasen Deutschland e.V. – Clowns im Krankenhaus“ ist.

Doch bei allem Altruismus, wie wirtschaftlich ist eine derartige Betriebsführung? Rechnet sich die Umstellung nach den Regeln der GWÖ? Eigenbrodt ist sich seiner Einschränkungen bewusst. „Die Gefahr bleibt, dass man nicht mehr alle Rechnungen bezahlen kann, wenn die Kosten ausufern. Das versuche ich unternehmerisch im Blick zu behalten.“ Daher ist sein wirtschaftliches Streben, „die Kosten nicht durch die Decke schnellen zu lassen“. Dennoch ist er zufrieden. „Es geht beides: Gewinne erwirtschaften und das Wohl des Gemeinwesens zu verbessern“, bilanziert er. „Ich bin Zahnarzt, auch um das Gemeinwohl zu mehren“. Das erfordere zwar einen gewissen Idealismus, „aber ohne Idealismus hätte sich auch die Zahnmedizin nicht weiterentwickelt“.

Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?

Die Idee der Bewegung laut „Handbuch zur Gemeinwohl-Bilanz“ von 2015: „Der Finanzgewinn wird nur in Geld gemessen und Geld kann nur Tauschwerte messen, jedoch keine Nutzwerte – deren Verfügbarmachung und Verteilung doch der eigentliche Zweck des Wirtschaftens ist. Finanzgewinn ist in der Gemeinwohl-Ökonomie nur noch Mittel zum Zweck. Mit der Gemeinwohlbilanz wird endlich das gemessen, was wirklich zählt.“

Initiiert wurde die GWÖ 2010 von dem Österreicher Christian Felber, freier Autor und Mitbegründer der österreichischen Attac-Bewegung. 2010 schrieb Felber das Buch „Die Gemeinwohl-Ökonomie“, die Initiative schloss sich in einem Verein zusammen und finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge. Diese betragen 60 Euro im Jahr für Privatpersonen, 100 Euro bis 2.500 Euro für Unternehmen und Organisationen, abhängig von der Mitarbeiterzahl; hinzu kommen nach Angaben des Vereins anteilige Einnahmen von Beratern, Auditoren und Spenden.

Mittlerweile haben sich der Initiative nach eigenen Angaben 2.200 Unternehmen, über 160 Organisationen und über 9.000 Personen angeschlossen. Darunter auch so bekannte Unternehmen wie Vaude, oder die Sparda Bank München.

Die Kriterien-Matrix als Grundlage

Die sogenannte Matrix ist ein Fragenkatalog, mit dem die GWÖ-Bilanz ermittelt wird. Derzeit sind darin 17 Indikatoren zusammengefasst, nach denen ein Unternehmen unter die Lupe genommen wird. Das betrifft unter anderem folgende Fragen: Was für Auswirkungen haben wirtschaftliche Aktivitäten auf die allgemeine Lebensqualität, heute und morgen? Wird die Menschenwürde geachtet? Wird soziale Gerechtigkeit gefördert? Wird ökologische Nachhaltigkeit sichergestellt? Wie transparent, solidarisch und demokratisch werden unternehmerische Ziele erreicht?

Dabei werden Punkte nur für Aktivitäten vergeben, die über die Erfüllung des gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen. Die Bilanzsumme bewegt sich von 0 (man tut das gesetzlich vorgeschriebene) bis 1.000 Punkte. Die Matrix ist dabei nicht statisch: Sie wird mittlerweile von der GWÖ-Bewegung immer wieder aktualisiert, derzeit gilt Version 5. 

Die Bilanzierung selbst schlägt mit Kosten von 900 Euro bis zehn Mitarbeiter zu Buche, der Mitgliedsbeitrag beträgt 300 Euro für die Region Berlin/Brandenburg. Analog zu Wirtschaftsprüfern, die die Finanzbilanz prüfen, wird die Bilanz von sogenannten Gemeinwohlauditoren als Freiberufler geprüft. Zunächst wird die Bilanz unternehmensintern erstellt und geprüft (Controlling, interne Revision), dann zum externen Audit gebracht, wo die Bestätigung – das Testat – erfolgt. Erst wenn dieses vorliegt, „gilt“ die Bilanz.

sg

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