Infizierte Osteoradionekrose der Kiefer (IORN)
Die aktualisierte Leitlinie richtet sich an alle in die Betreuung von Patienten mit Strahlentherapie im Kopf/Halsbereich eingebundenen Ärzte und Zahnärzte. Sie beschreibt, welche Maßnahmen vor, während und nach einer Strahlentherapie notwendig und sinnvoll sind, um die Ereignisrate der IORN zu senken. Außerdem werden Maßnahmen zur Früherkennung und zur suffizienten Diagnostik und Therapie der Erkrankung genannt.
Im Rahmen des interdisziplinären periradiotherapeutischen Behandlungskonzepts kommt der zahnärztlichen Betreuung von Patienten mit Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich durch den behandelnden Zahnarzt eine zentrale Rolle zu. Dieser Beitrag fasst die wichtigsten Inhalte der Leitlinie für den zahnärztlichen Alltag zusammen.
Unter dem Begriff IORN versteht man ein Krankheitsbild, bei dem es durch die Behandlung mit hochenergetischer Strahlung im Rahmen einer Tumortherapie des Kopf-Hals-Bereichs zur Ausbildung umschriebener Nekrosen des Kieferknochens mit Superinfektion durch ortsständige Keime der Mundhöhle kommt. Typische klinische Merkmale sind enorale Schleimhautulzerationen mit chronisch freiliegendem Kieferknochen [Morrish et al., 1981, Beumer et al., 1979; Marx, 1983]. Die Symptomatik ist durch ein variables und schwer klassifizierbares klinisches Bild gekennzeichnet. Zu den IORN bedingten Komplikationen zählen vor allem Beeinträchtigungen der Kau-, Schluck- und Sprechfunktion.
Das klinische Leitsymptom der IORN ist der langfristig (3 bis 6 Monate) inspektorisch und sondenpalpatorisch freiliegende avitale Kieferknochen bei stattgehabter Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich.
Die Angaben zur Prävalenz dieser schwerwiegenden Langzeitkomplikation der (tumortherapeutischen) Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich reichen von 0 bis 23 Prozent [Schuurhuis et al., 2015]. Häufigste Lokalisation ist der Unterkiefer, was vermutlich auf die geringere Gefäßversorgung, die geringere Zahnersatzauflagefläche und die häufigere Integration in das Bestrahlungsvolumen zurückzuführen ist. Zu den patienten- und erkrankungsbedingten Risikofaktoren zählen vor allem das männliche Geschlecht, eine schlechte Mundhygiene sowie Prothesendruckstellen [Reuther et al., 2003; Raguse et al., 2016]. Zu den therapiebedingten Risikofaktoren zählen ausgedehnte Tumorresektionen mit Osteotomie – vor allem im Unterkiefer [Studer et al., 2016] –, periradiotherapeutische dentoalveoläre Eingriffe [Thorn et al., 2000] sowie die Höhe der applizierten Gesamtdosis [Lee et al., 2009].
Patienten vor und nach einer Strahlentherapie sollen über das Risiko einer IORN aufgeklärt und zu einer überdurchschnittlichen Mundhygiene angehalten werden.
Dentoalveoläre Eingriffe gehen lebenslang mit einem hohen IORN-Risiko einher.
Interdisziplinäre Betreuung
Insgesamt kommt der interdisziplinären Betreuung von Patienten mit Radiatio der Kopf-Hals-Region eine sehr wichtige Bedeutung zu. Der Hauszahnarzt soll über die bevorstehende Strahlentherapie des Patienten unterrichtet werden. Der Sanierungsplan vor Beginn der Strahlentherapie soll interdisziplinär vom Strahlentherapeuten, Zahnarzt und gegebenenfalls Mund- Kiefer-Gesichtschirurgen erstellt werden. Der Strahlentherapeut soll Informationen bezüglich Dosis, Zielvolumen sowie Dringlichkeit der Therapieeinleitung und Kurabilität übermitteln.
In Absprache mit dem Strahlentherapeuten sollen ausschließlich notwendige zahnärztliche Maßnahmen vor der Strahlentherapie schnellstmöglich durchgeführt werden, um zeitnah mit der Strahlentherapie zu beginnen.
Zahnsanierung vor Strahlentherapie
Die Notwendigkeit zur präradiotherapeutischen Sanierung der Mundhöhle ist durch verschiedene Studien belegt [Grötz et al., 2001; Curi und Dib, 1997]. In Abhängigkeit von Grunderkrankung und Allgemeinzustand umfasst die Mundhöhlensanierung die Entfernung aller harten und weichen Beläge am Restzahnbestand, die Extraktion avitaler und nicht bereits wurzelkanalbehandelter, fortgeschritten parodontalgeschädigter und kariös zerstörter Zähne, Wurzelreste und nicht erhaltenswerter Implantate, die konservierende Therapie am Restzahnbestand (Glätten scharfer Kanten an Zähnen/Zahnersatz), die chirurgische Sanierung persistierender Epitheldefekte, das Abtragen scharfer Knochenkanten und Exostosen, die Sanierung von Schlupfwinkelinfektionen (Perikoronitis), die Motivation und Instruktion zur überdurchschnittlichen Mundhygiene und das Eingliedern in ein Nachsorge-Programm. Eine prophylaktische Entfernung von erhaltungswürdigen Zähnen sollte nicht erfolgen.
Die individuelle Indikation und das Ausmaß der Zahnsanierung sollten sich neben der Zielsetzung der Bestrahlung (kurativ versus palliativ) und der geschätzten Lebenserwartung an der Bestrahlungsdosis, dem Zielvolumen und an patientenspezifischen Parametern orientieren.
Maßnahmen unter und nach Strahlentherapie
Oberste Priorität unter der Bestrahlung hat neben einer intensiven Mundhygiene die Gewebeschonung und das Vermeiden eines Unterbrechens der Strahlentherapie. Deshalb soll in der Phase der Bestrahlung bis zum Abheilen der radiogenen Akuttoxizitäten (circa sechs bis acht Wochen nach Abschluss der Strahlentherapie) auf jegliche zahnärztliche und chirurgische Behandlung, die mit einer Traumatisierung einhergeht, verzichtet werden [Chrcanovic et al., 2010]. Die Verwendung eines Schleimhautretraktors als Abstandhalter der Schleimhaut von metallischen dentalen Restaurationen auf Metallbasis oder beispielsweise Zirkonoxidgerüsten dient der Dosisreduktion durch Vermeidung von Streueffekten an der Oberfläche sehr dichter Materialien [Obinata et al., 2003] (Abbildung 3a).
Mehrere Studien verweisen auf den protektiven Effekt der topischen Fluoridierung bei Patienten nach Strahlentherapie zur Vermeidung einer radiogen bedingten Karies [Dreizen et al., 1977; Sennhenn-Kirchner et al., 2009]. Die Fluoridapplikation sollte nach Möglichkeit mittels Fluoridierungsschiene durchgeführt werden (Abbildung 3b). Entscheidend ist die lebenslange Durchführung. Die Prothesenkarenz unter Strahlentherapie und bei Mukositis dient der Vermeidung von Druckstellen. Die Morbidität der fortgeschrittenen IORN sowie das hohe Komplikationsrisiko rechtfertigen eine strukturierte und dauerhafte Nachsorge unter Inanspruchnahme professioneller Mundhygienemaßnahmen. Hierbei soll im Hinblick auf die Früherkennung einer IORN eine eingehende klinische Untersuchung der Mundhöhle erfolgen.
Unter laufender Strahlentherapie bis etwa sechs bis acht Wochen nach ihrem Ende sind Zahn-, Mund- und Kiefereingriffe mit einem hohen Komplikationsrisiko assoziiert.
Ein Schleimhautretraktor soll immer dann eingegliedert werden, wenn von einer relevanten lokalen Dosisüberhöhung (zum Beispiel bei Schleimhautkontakt von Metall) ausgegangen werden kann.
Bei Patienten mit erhaltenem Zahnschmelz soll die Anwendung topischer Fluoride auf den Schmelz lebenslang durchgeführt werden.
Eine Prothesenkarenz soll unter der Strahlentherapie und bei fortdauernder Mukositis erfolgen.
Operative Eingriffe und Zahnentfernungen sollen bei Patienten dauerhaft nach einer Strahlentherapie unter besonderen Kautelen (Antibiotikagabe, atraumatische Operation, primär plastische Deckung) erfolgen. Dabei kann auch die Überweisung an einen Spezialisten erforderlich werden.
Diagnostik der IORN
Entsprechend der Definition der IORN ist die Diagnosestellung an eine gezielte Anamnese und klinische Untersuchung von Mundhöhle und Perioralregion gebunden. Neben der Inspektion und Palpation umfasst diese auch die Vitalitätsprüfung benachbarter Zähne sowie eine Sensibilitätsprüfung. Der die IORN fachlich behandelnde Arzt beziehungsweise Zahnarzt legt Ausmaß und Umfang der Diagnostik (dreidimensionale Bildgebung) fest. Das Orthopantomogramm (OPTG) weist im Vergleich zu schichtbildgebenden Verfahren (Computertomografie, Magnetresonanztomografie) eine reduzierte Sensitivität auf [Store und Larheim, 1999]. Wichtigste Differenzialdiagnose der IORN ist ein malignes Geschehen (zum Beispiel Rezidiv, Metastase), weswegen eine histologische Sicherung erfolgen sollte [Marwan et al., 2014].
Bei klinischem Verdacht auf eine IORN soll eine histologische Sicherung zum Ausschluss eines malignen Geschehens erfolgen.
Therapie der IORN
Je nach Ausmaß der IORN kann zwischen umschriebenen und fortgeschrittenen Befunden unterschieden werden, nach denen sich die weitere Therapie richtet. Während bei umschriebenen Befunden noch konservative Maßnahmen zur Anwendung kommen, besteht die Therapie der fortgeschrittenen IORN in der chirurgischen Sanierung [Pitak-Arnnop et al., 2008]. Ziel der konservativen Therapie ist die Schmerzfreiheit des Patienten sowie die Vermeidung des Fortschreitens der IORN. Hierfür stehen Analgetika, lokal antiseptische Maßnahmen, orale systemische Antibiotika-Abschirmung oder eine begrenzte operative Therapie zur Verfügung. Grundsätzlich beschränkt sich die konservative Therapie auf umschriebene Befunde und Frühstadien der IORN.
Fortgeschrittene Befunde sollten zeitnah einer operativen Therapie unter speziellen Kautelen (antibiotische Therapie, atraumatische Operation, primär plastische Deckung) zugeführt werden. Als notwendige Begleitmaßnahmen gelten eine systemische Antibiotikatherapie sowie eine ausreichende Anästhesie (bei IORN oft OP unter Intubationsnarkose). Fakultativ kann die Änderung der Kostform von flüssiger oder weicher Kost bis hin zur temporären Umgehung der oralen Nahrungspassage durch Ernährungssonden erwogen werden.
Bei Vorliegen einer IORN soll die zielgerichtete Behandlung in den Händen eines hierfür spezialisierten Behandlers liegen.
Der die IORN Behandelnde soll die Wahl der Kautelen (stationäre Betreuung, Intubationsnarkose, i.v.-Antibiotikaabschirmung, temporäre Sondenernährung) festlegen.
Fazit
Die IORN der Kiefer bei therapeutischer Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich ist eine schwerwiegende Therapiefolge, die wichtige Aspekte der mundbezogenen Lebensqualität beeinträchtigen kann. Daher sind Maßnahmen vor, unter und nach einer Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich sinnvoll und zur Früherkennung im Rahmen der regulären hauszahnärztlichen Betreuung gegebenenfalls unter Einbeziehung anderer Fachdisziplinen notwendig. Während bei umschriebenen Befunden eine konservative Therapie oder die wenig invasive Operation zielführend sein kann, ist bei der fortgeschrittenen IORN oft die operative Therapie unter strengen Kautelen notwendig.
Dr. med. Dr. med dent. Maximilian Krüger
Funktionsoberarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 255131 Mainz
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Bilal Al-Nawas
Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen
Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 255131 Mainz
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Knut A. Grötz
Klinikdirektor Mund- Kiefer und Gesichtschirurgie
Helios Dr. Horst Schmitt Kliniken Wiesbaden
Ludwig-Erhard-Str. 100
65199 Wiesbaden
Literaturliste:
Morrish et al., 1981, Cancer, 47, 1980-3
Beumer et al., 1979, Head Neck Surg, 1, 301-12
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Pitak-Arnnop et al., 2008, Eur J Surg Oncol, 34, 1123-34