Wohnen und arbeiten auf einem Grundstück

„Wir mögen diesen privaten Bezug“

Wenn Sandra Becker morgens aufsteht, kann sie vom Küchenfenster aus ihren Arbeitsplatz sehen. Nur wenige Schritte über den Hof ist die Tür zur neu erbauten Praxis, die sie mit ihrem Mann Michael betreibt. Genauso hatten es sich die Beckers vorgestellt, als sie dem Architekturbüro Fabrinsky und der bauwerk bauunternehmung gmbh Reilingen die Planung übertrugen. Nun wurde ihre Praxis zum zweiten Mal ausgezeichnet.

Im Januar 2020 erhielt die Zahnarztpraxis Drs. Becker in Hockenheim den Architekturpreis für ‚Beispielhaftes Bauen‘ im Rhein-Neckar-Kreis. Grund dafür ist die gelungene architektonische Umsetzung des Konzepts „Leben und Arbeiten an einem Ort“. 2016 wurde die Praxis bereits für ihr Design prämiert.

Das Vorderhaus ließ die Familie zu einer modernen Praxis ausbauen, im Hinterhaus – einem Reihenendhaus in der alten Scheunenlinie – lebt das Ehepaar mit seinen Kindern.

Es war Liebe auf den ersten Blick

Die Idee einer Symbiose von Praxis und Wohnraum kam den Beckers während ihrer Tätigkeit in einer Gemeinschaftspraxis. Dort hatten sie mit sieben bis acht Zahnärzten zusammengearbeitet. Nach 13 Jahren in diesem großen Maßstab wollten sie sich verkleinern. Ihnen fehlte der persönliche Bezug – in der Gemeinschaftspraxis wurden die Patienten je nach Krankheitsbild beim jeweiligen „Spezialisten“ behandelt. Außerdem stellten sie fest, dass sich auch ihre Patienten direkte Ansprechpartner und mehr persönliche Bindung zu ihrem Zahnarzt und ihrer Zahnärztin wünschen.

So machten sie sich auf die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten. Auch oder vor allem für ihre Kinder wollten sie die Idee der räumlichen Verbindung von Wohnen und Arbeiten realisieren. Über einen Immobilienmakler fanden sie schließlich das Grundstück in Hockenheim und verliebten sich auf den ersten Blick. Das Grundstück liegt direkt im Ortskern von Hockenheim. Die früher an dieser Stelle angesiedelten bäuerlichen Anwesen sind weitestgehend verschwunden, die historische bauliche Struktur mit Vorderhaus und Scheune im hinteren Grundstücksteil ist dagegen geblieben.

In neun Monaten schlüsselfertig

Laut Bebauungsplan hätte das neue Vorderhaus – die jetzige Praxis – direkt auf der Grundstücksgrenze gebaut werden müssen. Das wäre für das Nebenhaus – das älteste Wohnhaus Hockenheims – fatal gewesen, denn es wären fensterlose Räume entstanden. So mussten BauherrIn und Erbauer lange mit der Stadt Hockenheim ringen, um das Praxisgebäude nach hinten versetzt bauen zu dürfen. Nach nur neun Monaten Bauzeit war die Praxis schlüsselfertig, bereit für die Eröffnung. 

Für uns gibt keine kritischen Punkte an diesem Konzept. Wir haben keine Angst vor einer ständigen Verfügbarkeit. Wir haben sogar eine Notfallnummer eingerichtet, unter der uns unsere Patienten am Wochenende oder an Feiertagen erreichen können. Die Menschen sind dankbar, dass sie einen Ansprechpartner haben und überreizen das auch nicht. Sie kontaktieren uns nur in wirklichen Notfällen, die nicht bis zum nächsten Werktag warten können. Diese Trennung von Beruflichem und Privatem, von der viele sprechen – wir wollen das nicht. Im Gegenteil, gerade danach haben wir gesucht, als wir die große Gemeinschaftspraxis verließen und unsere eigene kleine Praxis eröffneten. Wir leben in einem kleinen Ort – da kennt man sich. Und wir mögen diesen privaten Bezug.

Dr. Sandra Becker

Auf dem Grundstück, das im rückwärtigen Bereich an ein innerstädtisches Naherholungsgebiet mit dem renaturierten Kraichbach grenzt, ist eine sehr schöne Symbiose aus moderner Architektur und historischer Struktur entstanden. Beide Gebäude sind unterschiedlich und passen wunderbar zusammen – ein Spiegelbild der privaten und beruflichen Seite der Beckers.

Beide sehen in der Verbindung von Wohnen und Arbeiten viele Vorteile. Vor allem – betont Sandra Becker – haben sie die Kinder nebenan. Wenn mal eins krank ist, kann einer von beiden ein Auge darauf haben. Die beiden Zahnärzte halten ihre Sprechzeiten im Wechsel ab: Wenn sie vormittags Sprechstunde hat, kann er sich um die Kinder kümmern – und umgekehrt. Einen weiteren Vorteil sieht Sandra Becker darin, dass sie mit diesem Konzept keine größeren Einschnitte im Lebenslauf hat. Familie, Kinder und Beruf lassen sich so leichter unter einen Hut bringen. „Man hat das lange Studium und die Zusatzqualifikationen absolviert, da möchte man auch nicht den Anschluss verlieren. So kann ich für meine Kinder da und Zahnärztin sein. In einer eigenen Praxis kann ich die Dinge so gestalten, wie ich möchte – im Angestelltenverhältnis wäre das generell schwieriger.“

„Zwei Eingänge sind schon wichtig“

Laut einer kürzlich veröffentlichten Erhebung der KZV Baden-Württemberg suchen immer mehr junge ZahnärztInnen für die ersten Berufsjahre die Anstellung und streben nicht sofort die eigene Niederlassung an. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl aller angestellten ZahnärztInnen im Ländle um 57 Prozent von 1.214 Ende 2014 auf 1.908 angestiegeng – 37 Prozent Männer, 63 Prozent Frauen.

Als die Beckers ihren Abschluss machten, gab es diese Möglichkeit noch gar nicht: Sie arbeiteten daher zunächst in einer größeren Praxis und entschieden sich nach mehr als zehn Jahrenfür das eigene Kleine. Für sie liegt der Schlüssel für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerade in der eigenen Praxis. Sie sind flexibler als vorher, was Kinderbetreuung und Urlaubsplanung angeht.

Die Frage, ob das Konzept „Leben und Arbeiten unter einem Dach“ nicht auch negative Aspekte mit sich bringt – die ständige Verfügbarkeit oder die fehlende Trennung zwischen Beruflichem und Privatem, verneint Sandra Becker – ohne zu zögern. Nur in einer Hinsicht legt sie Wert auf eine physische Trennung: Praxis und Wohnhaus mussten unbedingt zwei getrennte Eingänge haben, damit man auch einfach mal die Tür hinter sich zumachen kann.

Architekturpreis Baden-Württemberg

Die Architektenkammer Baden-Württemberg in Stuttgart lobt regelmäßig Preise für architektonische Leistungen aus. Nun zeichnet die Jury aus 71 eingereichten Projekten im Rhein-Neckar-Kreis 19 Objekte „als gelungene Lösungen der jeweiligen Bauaufgabe“ für Beispielhaftes Bauen zwischen 2009 und 2019 aus.Als Kriterien wurden äußere Gestaltung, Maß und Proportion des Baukörpers, innere Raumbildung, Zuordnung der Räume und Zweckmäßigkeit, Angemessenheit der Mittel und Materialien, konstruktive Ehrlichkeit, Einfügung und Umgang mit dem städtebaulichen Kontext und der Umwelt zugrunde gelegt. „Die hervorragenden Lösungen konnten nur durch das gemeinsame Engagement von Bauherrinnen und Bauherren sowie Architektinnen und Architekten gelingen. Deswegen gilt die Auszeichnung auch Bauherren und Architekten gleichermaßen“, heißt es seitens der Kammer.

ks

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