Gesundheitskompetenz in Deutschland

Das Gros hat keine Ahnung

Fake News, Digitalisierung und die schiere Menge an Informationen machen es den Deutschen immer schwerer, sich im Gesundheitssystem zurecht zu finden: Sechs von zehn Bürgern besitzen eine geringe Gesundheitskompetenz. Das zeigt die europäische Studie „European Health Literacy Population Survey“. 17 Länder nahmen teil, darunter auch Deutschland.

International hat weniger als die Hälfte (46 Prozent) der Bevölkerung eine geringe Gesundheitskompetenz. Hierzulande fallen die Werte noch schlechter aus: 58,8 Prozent der Deutschen schätzen den Umgang mit den Gesundheitsinformationen als „schwierig“ oder „sehr schwierig“ ein.

Für Deutschland hatten die Universität Bielefeld und die Hertie School of Governance in Berlin im Dezember 2019 und im Januar 2020 repräsentativ 2.151 deutschsprachige Erwachsene befragt, wie sie Gesundheitsinformationen finden, verstehen, beurteilen und anwenden. Im Unterschied zu ihren europäischen Nachbarn gaben die Deutschen besonders oft Probleme beim Navigieren im System an: Rund 70 Prozent finden es sehr schwierig, überhaupt herauszufinden, wie man sich im Gesundheitssystem zurechtfindet. Fast 50 Prozent wissen nicht, welche Art der Versorgung sie im Fall der Fälle brauchen.

Unser System ist einfach zu kompliziert

„Im Unterschied zu den meisten anderen in die Untersuchung einbezogenen Ländern ist das Gesundheitssystem in Deutschland sehr komplex und instanzenreich“, erläutert Prof. Dr. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld. Die Leiterin der deutschen Studie hält unsere Strukturen für schwer überschaubar. „Dadurch ist es nicht einfach, sich im Gesundheitssystem zu orientieren und direkt, ohne große Umwege, die richtige Stelle für das eigene Anliegen zu finden“, sagt sie. Durch die Sektorisierung und die Zersplitterung entstehen Schaeffer zufolge viele Versorgungsbrüche, die besonders häufig bei Menschen mit lang andauernden Gesundheits- und Krankheitsproblemen zu beobachten sind.

Hintergrund

Initiiert durch die WHO Europa hat der Internationale Health Literacy Survey (HLS19) von 2019 bis 2020 die Bevölkerung in 17 europäischen Ländern zu ihrer Gesundheitskompetenz befragt. Dabei waren Österreich, Belgien, Bulgarien, die Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Irland, Israel, Italien, Norwegen, Portugal, Russland, Slowakei, Slowenien und die Schweiz.

Infolge der Digitalisierung ist ja nicht nur die Zahl an Informationsmöglichkeiten nach oben geschnellt. Auch die Menge an Gesundheitsinformationen hat sich vervielfacht. Gleichzeitig haben interessengeleitete, manipulierte und falsche Informationen rasant zugenommen, wie COVID-19 zeigt. Mit dieser „Infodemie“ einhergehend sind die Anforderungen an den Umgang mit Gesundheitsinformationen und auch an die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten gestiegen, bilanzieren die Studienautoren.

Aber auch in anderen Ländern fällt es den Menschen schwer, relevante Inhalte zu beurteilen. So hat international rund jeder zweite Befragte Probleme damit, die Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungsmöglichkeiten einzuschätzen. Rund 40 Prozent tun sich schwer damit, anhand von Medieninformationen zu entscheiden, wie man sich vor Krankheiten schützen kann – für die Forscher allein wegen der Pandemie ein alarmierendes Ergebnis. Und gut einem Drittel fällt es schwer, Informationen über den Umgang mit psychischen Problemen zu finden, in Deutschland trifft dies sogar auf über die Hälfte der Bevölkerung zu. 

Die Kompetenz ist sozial ungleich verteilt

Schwierig ist der Umgang mit Gesundheitsinformationen insbesondere für Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen und mit niedrigem sozialem Status und Bildungsniveau. Probleme haben allerdings auch Jüngere zwischen 18 und 29 Jahren, was sich für die Autoren möglicherweise dadurch erklären lässt, dass sie aufgrund ihres jungen Alters noch relativ wenig mit Krankheiten zu tun haben. Doch auch Ältere haben oft Mühe, gesundheitsrelevante Inhalte zu verarbeiten. Das ist den Forschern zufolge deshalb heikel, weil sie in besonderem Maß darauf angewiesen sind. Gerade wenn das Krankheitsgeschehen durch Multimorbidität komplexer wird, nehmen die Schwierigkeiten zu, Gesundheitsinformationen anzuwenden.

Das hat Folgen für den ärztlichen Alltag: „Es zeigt, wie wichtig es ist, die aus (Sach-)Information erwachsenen Handlungskonsequenzen ausführlich mit den Patienten zu erörtern“, betonen die Forscher. Für mehrfach chronisch Erkrankte sei dies besonders bedeutsam, zumal sie oft mit unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Informationen konfrontiert sind.

Ergebnisse

  • Die Gesundheitskompetenz steigt mit Sozialstatus, Bildungsniveau und literalen Fähigkeiten, mit zunehmender finanzieller Deprivation sackt sie ab.

  • Auch ein höheres Lebensalter (ab 76 Jahren) ist mit geringer Gesundheitskompetenz assoziiert.

  • Besonders das Vorliegen mehrerer chronischer Erkrankungen reduziert die Gesundheitskompetenz.

  • Ein Migrationshintergrund hängt nicht automatisch mit geringer Gesundheitskompetenz zusammen, wie frühere Untersuchungen andeuteten.

Eine geringe Gesundheitskompetenz hat bekanntermaßen Folgen – für die Gesundheit und auch für das System. Sie geht der Studie zufolge mit einem ungesünderen Gesundheitsverhalten, einem schlechteren subjektiven Gesundheitszustand und einer intensiveren Inanspruchnahme von Hausärzten sowie der Krankenhaus- und Notfallversorgung einher.

Für die Wissenschaftler belegen die Ergebnisse, wie wichtig eine altersgerecht zugeschnittene Information ist: „Gerade die Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit eines kompetenten Umgangs mit Gesundheits- und Krankheitsinformation gezeigt.“ Umso wichtiger sei, dass die Politik die Förderung von Gesundheitskompetenz stärker in den Fokus nimmt.

Schaeffer D, Berens EM, Vogt D, Gille S, Griese L, Klinger J, Hurrelmann K: Health literacy in Germany – findings of a representative follow-up survey. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 723–9. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0310

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