Mundgesundheit in der Pflege

Pflegewissenschaftler und Zahnärzte erarbeiten neuen Expertenstandard

Mundgesundheit entsteht in der engen Verflechtung von professioneller zahnärztlicher Betreuung und guter häuslicher Mundhygiene. Können Pflegebedürftige ihre Mundhygiene nicht mehr selbst ausführen, müssen pflegende Angehörige oder professionell Pflegende die Defizite ausgleichen. Erstmals haben Zahnmediziner und Pflegeexperten in interprofessioneller Zusammenarbeit nun einen Leitfaden für die Sicherstellung der Mundhygiene bei Menschen mit Pflegebedarf erarbeitet.

Pflegekräfte stehen vor der Herausforderung, dass Menschen mit Pflegebedarf immer mehr eigene Zähne beziehungsweise technisch aufwendigen und teilweise implantatgestützten Zahnersatz haben. Deshalb ist es heute mehr denn je notwendig, dass bei diesen Menschen am besten mehrmals täglich eine bedarfsgerechte Mund- und Prothesenhygiene durchgeführt wird. Neben Mundgeruch und ästhetischen Beeinträchtigungen kann eine schlechte Mundgesundheit nicht nur durch schmerzbedingt aggressives Verhalten den Pflegealltag erheblich belasten. Auch die Auswirkungen einer schlechten Mundgesundheit auf den allgemeinen Gesundheitszustand, die Ernährung und das Wohlbefinden sind evident. Die fünfte deutsche Mundgesundheitsstudie [DMS V, 2016] belegt, dass viele pflegebedürftige Menschen Unterstützung bei der Zahn-, Mund- und Zahnersatzpflege benötigen.

Die Bundeszahnärztekammer suchte das Gespräch

Die Zeitvorgaben für pflegerische Maßnahmen sind bekanntlich knapp bemessen und mitunter gerät die Mundhygiene bei der Pflege ins Hintertreffen. Es gab bislang auch keine orientierenden Vorgaben für die Durchführung der Mundpflege bei Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf. Um Pflegende bei der Förderung der Mundgesundheit dieser Menschen praktisch und theoretisch zu unterstützen, trat die Bundeszahnärztekammer bereits im Jahr 2017 zusammen mit zahnmedizinischen Fachgesellschaften an das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) heran und schlug die Erarbeitung eines Expertenstandards zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege vor. Das DNQP ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Fachleuten aus der Pflegepraxis, der Pflegewissenschaft und dem Pflegemanagement, der sich seit 20 Jahren mit dem Thema Qualitätsentwicklung auseinandersetzt und Expertenstandards für die Pflege entwickelt.


„Mit dem Expertenstandard verbinden wir die Hoffnung, dass die zahnmedizinische Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung und/oder Mehrfachbehinderung verbessert wird.“


Das DNQP begrüßte den Vorschlag der BZÄK, denn auch dort hatte man seit längerer Zeit den Bedarf an einem fachlich unterstützenden Leitfaden für die Praxis erkannt. In der Folge wurde über einen Prozess öffentlicher Ausschreibungen eine Expertenarbeitsgruppe gebildet . Die wissenschaftliche Leitung wurde Prof. Dr. Erika Sirsch von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) übertragen. Neben Fachleuten aus der Pflege war es dem DNQP wichtig, für diesen Standard zur Förderung der Mundgesundheit auch Experten der Zahnmedizin in die Arbeitsgruppe zu berufen. Die Beteiligung von Medizinern war bei den bisherigen Standards nicht üblich.

Das DNQP koordinierte die Expertenarbeit

Die inhaltliche Erarbeitung des Expertenstandards erfolgte im Rahmen von sechs ganztägigen Sitzungen, die zwischen März 2019 und Oktober 2020 in Berlin, Osnabrück sowie digital stattfanden. Dazwischen erfolgten zahlreiche Telefon- und Videokonferenzen sowie schriftlicher Austausch per Mail zwischen den Beteiligten, die sich auch in Kleingruppen intensiv mit den Themen des Expertenstandards auseinandersetzten. Die Moderation des Gesamtprozesses lag beim DNQP.

„Der Expertenstandard verdeutlicht, welche Rahmenbedingungen für eine den heutigen Herausforderungen angemessene Mundpflege erforderlich sind.“

Auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche – nach einem vom DNQP vorgegebenen Verfahren – erarbeitete die Expertenarbeitsgruppe eine auf die pflegepraktischen Belange ausgerichtete Kommentierung. Diese erlaubt es, den Standard an die verschiedenen Zielgruppen des jeweiligen Pflege-Settings anzupassen. Als Ergebnis dieser Arbeiten wurde am 28. Mai 2021 in einer Konsensuskonferenz der finale Entwurf des Expertenstandards zur „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ zur Diskussion gestellt.

Expertenstandard – Wer war beteiligt?

Koordination und Moderation:

Wissenschaftliche Leitung:

Expertenarbeitsgruppe:

  • Prof. Dr. Ina Nitschke, MPH (Präsidentin der DGAZ)

  • Dr. Elmar Ludwig (stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses Alterszahnheilkunde der BZÄK und DGAZ-Landesbeauftragter Baden-Württemberg)

  • Prof. Dr. Andreas Schulte (Vorsitzender AGZMB)

  • Prof. Dr. Roswitha Heinrich-Weltzien (AGZMB)

  • Dr. Sebastian Ziller, MPH (Leiter der Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung der BZÄK)

Der Expertenstandard adressiert alle Bereiche, in denen professionelle Pflege geleistet wird. Dazu gehören unter anderem die Akutpflege in Krankenhäusern, voll- und teilstationäre Pflegeeinrichtungen, ambulante und häusliche Versorgungsarrangements. Im Kern geht es darum, einerseits für die Pflege eine Orientierungshilfe im Hinblick auf einen fachlich-qualitativen Standard zu entwickeln und darüber hinaus Schnittstellen für die interprofessionelle Zusammenarbeit – beispielsweise mit der Zahnmedizin – zu beschreiben. Dabei sollten die entwickelten Standards möglichst praxisnah ausgestaltet werden.

Screening und Assessment – ein passgenaues Instrument

Die Literatur weist eine Vielzahl an Instrumenten zur Einschätzung der Mundgesundheit auf. Diese sind jedoch häufig für wissenschaftliche Auswertungen eher komplex strukturiert oder auf bestimmte Zielgruppen fokussiert. Daher hat die Expertenarbeitsgruppe ein eigenes zweistufiges Verfahren mit Screening und Assessment vorgeschlagen, das für alle Settings der Pflege geeignet ist.

„Der Expertenstandard ist ein wesentlicher Baustein zur Verbesserung der Kompetenzen der Pflegefachkräfte in den Bereichen Mundhygiene und Mundgesundheit.“


Beim Screening wird unter anderem zu Beginn des pflegerischen Auftrags geprüft, ob und inwieweit Risikofaktoren oder Anzeichen für Probleme im oralen Bereich vorliegen. Für eine bessere Akzeptanz in der Pflegepraxis war es der Gruppe wichtig, dass das Screening als erste Einschätzung ohne Inspektion der Mundhöhle möglich ist. Die umfassendere Beurteilung im Rahmen des Assessments wird nur nötig, wenn das Screening Probleme beziehungsweise Risiken identifiziert hat. Das Assessment fokussiert dann aber zudem auf mögliche Ursachen für Probleme der Mundgesundheit.

Aspiration vermeiden und ergonomisch arbeiten

Die Expertenarbeitsgruppe betont, dass personenzentriertes Arbeiten die Ressourcen, Vorlieben und Abneigungen des Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf im Blick haben muss, um ein höchstmögliches Maß an Selbständigkeit zu erreichen (aktivierende Pflege). Ist trotz aller Anstrengungen die Durchführung der Mundpflege durch die pflegende Person geboten, stehen neben der korrekten Anwendung der notwendigen Pflegemittel vor allem eine ergonomische Arbeitshaltung und die Vermeidung von Aspiration im Vordergrund. Dafür hat die Expertenarbeitsgruppe detaillierte Empfehlungen formuliert. Favorisiert wird die Mundpflege bei guter Leistungsbereitschaft in sitzender Position am Waschbecken im Bad. Es werden aber auch alternative Techniken bis hin zur Durchführung der Mundpflege im Bett sowie Maßnahmen bei abwehrendem Verhalten beschrieben.

„Mit dem Expertenstandard kann an jedem Ort der Pflege die eigene Expertise vertieft werden.“

Mundgesundheit hat festen Platz in der Pflege

In den verschiedenen Ebenen werden die möglichen – beziehungsweise notwendigen – interprofessionellen Schnittstellen zwischen Zahnmedizin und Pflege benannt. So hat die Expertenarbeitsgruppe die in Deutschland aktuell bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Kommentierungen berücksichtigt – Kooperationsverträge zwischen Zahnärzten und stationären Pflegeeinrichtungen, aber auch die zahnärztlichen Präventionsleistungen wie der Mundgesundheitsstatus, der individuelle Mundgesundheitsplan und die Mundgesundheitsaufklärung für alle Menschen mit zugeordnetem Pflegegrad oder Eingliederungshilfe werden als Chance zur interprofessionellen Förderung der Mundgesundheit bei Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf hervorgehoben.

Wie geht es weiter?

Im Anschluss an die Konsentierung des Expertenstandards folgt nun die Phase der sogenannten modellhaften Implementierung. Hier muss der Standard – vom DNQP wissenschaftlich begleitet – seine Alltagstauglichkeit in einem kleinen Kreis von circa 25 Einrichtungen, die möglichst alle Settings umfassen, unter Beweis stellen. Dabei können sich noch Änderungen ergeben. Erst nach dieser Phase wird der Expertenstandard, ergänzt um die Erkenntnisse aus der modellhaften Implementierung, abschließend veröffentlicht. 

Dr. Elmar Ludwig

Referent für Alterszahnheilkunde der LZK Baden-Württemberg

Zahnärztliche Gemeinschaftspraxis Dr. Markus Dirheimer & Dr. Elmar Ludwig

Neue Str. 115, 89073 Ulm elmar_ludwig@t-online.de  

„Mundpflege ist bei vulnerablen Gruppen eine sehr komplexe Aufgabe!“

Diplom-Pflegewirtin Petra Blumenberg, Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Hochschule Osnabrück

„Wir hoffen, dass der Expertenstandard auf das Unterstützungsumfeld ausstrahlt“

Prof. Dr. Andreas Schulte, 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (AGZMB)

„der standard weist erneut und umfassend auf dieses wichtige Pflegethema hin“

Dr. Sebastian Ziller MPH, Leiter der Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung der Bundeszahnärztekammer (BZÄK)

„Ein professionell abgestimmtes Leistungsniveau“

Prof. Dr. Ina Nitschke, MPH, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ)

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