Fortbildung „Die Einzelzahnlücke – Optionen der Versorgung“

Der orthodontische Lückenschluss

Der orthodontische Lückenschluss erlaubt eine sehr gute Kontrolle der Versorgung. Der Beitrag skizziert Indikationen und Abwägungen für den Lückenschluss beim Kieferorthopäden.

Der orthodontische Lückenschluss ist seit Einführung der skelettalen Verankerung ohne unerwünschte kollaterale Zahnbewegungen wie Mittellinienverschiebungen möglich und erlaubt eine sehr gute Kontrolle der Verzahnung im Front- und im Seitenzahnbereich. Da man Multibracketapparaturen auf kleine dentale Segmente oder nur einzelne Zähne beschränken kann, ist die Lösung eine attraktive Alternative. Der Beitrag skizziert Indikationen und Abwägungen für den Lückenschluss beim Kieferorthopäden.

Der Verlust einzelner bleibender Zähne kann entweder durch Karies, Hypomineralisation, Pulpitis oder Parodontitis, Aplasie oder ein dentales Trauma bedingt sein. Dieser Beitrag fokussiert primär auf den orthodontischen Lückenschluss, und zwar entweder nach Extraktion nicht erhaltungswürdiger 6er oder bei Aplasie der am häufigsten betroffenen UK-5er oder OK-2er. Da insbesondere nach dem Verlust von Seitenzähnen das Vorhandensein der Weisheitszähne für die Therapieplanung eine entscheidende Rolle spielt, wird auch auf die Frage der Notwendigkeit der Extraktion beschwerdefreier impaktierter 8er eingegangen.

Ursachen für Einzelzahnlücken 

Extraktion der ersten permanenten Molaren

Entsprechend einer Erhebung der WHO zur oralen Gesundheit sind weltweit 60 bis 90 Prozent der Schulkinder von Karies betroffen [WHO-Bericht, 2016]. Zwar hat die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) von 2016 für Deutschland ergeben, dass nur noch 18,7 Prozent der Zwölfjährigen mindestens einen kariösen beziehungsweise versorgten Zahn aufweisen, jedoch kommen kariöse Läsionen „polarisiert“, das heißt individuell gehäuft, vor [DMS V, 2016]. Da der Sechsjahresmolar als erster bleibender Zahn relativ früh durchbricht, ist er am häufigsten von Kariesbefall und folglich einer Extraktion betroffen [Sabri, 2021]. Auch Hypomineralisationen beziehungsweise MIH kommen bei diesem Zahn mit Prävalenzen von 3 bis 25 Prozent häufig vor [Willmott et al., 2008]. Aufgrund der großen Bedeutung dieses Zahnes für die Kaufunktion und die Entwicklung muss das Behandlungskonzept für stark kariös zerstörte 6er besonders sorgfältig abgewogen werden [Ong/Bleakley, 2010].

Der Vorteil einer frühen Extraktion (vor intraoralem Durchbruch des zweiten Molaren) ist, dass die entstehende Lücke durch die Migration benachbarter Zähne zumindest partiell geschlossen werden kann. So ergab eine klinische Studie nach 6er-Extraktion bei Kindern zwischen 7 und 13 Jahren bei 94 Prozent (OK) beziehungsweise 66 Prozent (UK) einen kompletten Lückenschluss [Teo et al., 2013]. Ist ein Lückenschluss primär von distal beabsichtigt, spricht man vom „idealen Extraktionszeitpunkt“, wenn sich der zweite Molar im frühen Bifurkationsstadium befindet [Teo et al., 2015; Teo et al., 2013; Telli/Aytan, 1989]. Bei Platzmangel im frontalen Zahnbogen empfiehlt sich eine spätere Extraktion (etwa bei einem Drittel oder bei der Hälfte der Wurzelbildung), um im Zuge des nachfolgenden reziproken orthodontischen Restlückenschlusses Platz für die Ausformung der Frontzähne zu schaffen. Negative Aspekte des „natürlichen“ Lückenschlusses durch Mesialisation der Molaren sind die Gefahren einer Supraposition der Antagonisten sowie einer eher kippenden Lückeneinengung [Radukanu et al., 2009], die zu einer suboptimalen okklusalen Kontaktsituation sowie zu einer unphysiologischen Belastung während der Mastikation führen. Daraus ergibt sich sekundär häufig ein orthodontischer Behandlungsbedarf, um die nach mesial gekippten Molaren aufzurichten und gegebenenfalls die Restlücke zu schließen.

Patientenbeispiel 1:

Initialer Befund nach Extraktion des Zahns 26

Abb. 1: Der dargestellte Patient stellte sich im Alter von 16:03 Jahren nach Überweisung durch die Klinik für MKG-Chirurgie zur Abklärung der Möglichkeit eines orthodontischen Lückenschlusses in regio 26 vor, da dieser Zahn nach erfolgloser endodontischer Therapie extrahiert werden musste. a und b: Frontal- und linke Seitenansicht auf die Zahnreihen mit frontalem Tiefbiss und Neutralverzahnung im Eckzahnbereich. c: Die Oberkiefer-Aufsicht zeigt, dass Zahn 27 bereits circa 1,5 mm spontan nach mesial migriert ist. d: Im Ausschnitt der Panoramaschichtaufnahme zeigt sich die Anlage von Zahn 28 mit erkennbarer physiologischer Kronenmorphologie. | Bernd G. Lapatki  

Häufig liegt die Notwendigkeit zur 6er-Extraktion zu einem späteren Zeitpunkt vor, zum Beispiel nach der Behandlung einer Sekundärkaries oder nach erfolgloser Wurzelfüllung (Patientenbeispiel 1). Bei Extraktionen der Sechsjahresmolaren im Erwachsenenalter bleibt eine Lückeneinengung von nennenswertem Ausmaß durch Migration der Nachbarzähne weitgehend aus [Radukanu et al., 2009], weshalb die entstandene Extraktionslücke durch andere therapeutische Maßnahmen geschlossen werden muss.

Aplasie einzelner Zähne

Nichtanlagen bleibender Zähne (ohne Berücksichtigung der Weisheitszähne) treten relativ häufig auf, wobei weltweit Prävalenzen zwischen 3,4 bis 10 Prozent und für Europa eine durchschnittliche Häufigkeit von 5,5 Prozent angegeben werden [Kim, 2011; Mattheeuws et al., 2004; Polder et al., 2004]. Bei den meisten Patienten liegt die Aplasie von nur einem Zahn (48 Prozent) beziehungsweise von zwei Zähnen (35 Prozent) vor. Oligodontie, das heißt die Aplasie von sechs oder mehr bleibenden Zähnen, kommt nur bei 2,6 Prozent der Patienten mit Aplasien vor [Polder et al., 2004]. Am häufigsten sind die unteren zweiten Prämolaren betroffen (Patientenbeispiel  3), gefolgt von den oberen seitlichen Inzisivi (Patientenbeispiel  2) und den oberen zweiten Prämolaren [Mattheeuws et al., 2004].

Patientenbeispiel 1:

Orthodentischer Lückenschluss regio 26