Zahnärztin auf Island

„Ein Frontzahntrauma durch ein Schaf war neu für mich“

Die Zahnärztin Marie Lenz bricht in Deutschland ihre Zelte ab und zieht auf die Insel zu ihrem Mann. Per Privatanruf bewirbt sie sich in dem Dörfchen Hella. Da der Zahnarzt im Nachbarort gerade in Rente gegangen ist, fügt sich alles. Ihr neuer Chef suchte eine Verstärkung, seit Juni arbeitet sie jetzt bei ihm. Hier berichtet sie, warum der erste Eindruck mehr zählt als bei uns und warum es trotz guter Zähne häufiger Lücken gibt.

Vulkane. Pferde. Gletscher. Atemberaubende Landschaften und fermentierter Hai – Island ist für vieles bekannt, aber an Zahnmedizin habe ich selbst nicht unmittelbar gedacht. Das war auch nicht der Hauptgrund fürs Auswandern. Vielmehr lockten mich die wilde und schöne Natur, die kühleren Sommer als in Deutschland und mein isländischer Mann. Irgendwann habe ich dann meine Umzugskisten gepackt.

Island ist zwar kein EU-Mitglied, gehört aber dennoch zum europäischen Wirtschaftsraum. Somit war eine Anerkennung meiner Approbation (bis auf die langsamen Prozesse der deutschen Bürokratie) problemlos machbar. Die Digitalisierung läuft hier übrigens zwangsläufig viel besser. Das spürt man direkt im Behandlungsalltag.

Nach meiner Ankunft fing ich direkt an mich zu bewerben und stellte überrascht fest, dass ich keine Reaktion erhielt. Mein Schwiegervater riet mir dann, einfach mal die Privatnummer eines Zahnarztes anzurufen. Der hatte gerade mit gestiegenen Patientenströmen zu kämpfen, weil im Nachbardorf eine Praxis geschlossen hatte. Und so kam es, dass ich nach einem Bewerbungsgespräch und kurzer Probezeit meine Anstellung fand. Nun arbeite ich in den beiden Städtchen Hella und Selfoss östlich von Reykjavik.

Im Wartezimmer kennen sich (fast) alle

Die Bevölkerungsdichte Islands ist sehr unterschiedlich verteilt. Wer nicht in oder um die Hauptstadt wohnt, muss in den ländlichen Bereichen häufig mit einem unzureichenden zahnmedizinischen Versorgungsnetz zurechtkommen. Zwei Stunden Anfahrt für einen Zahnarzttermin sind dann normal. Eine Fahrt nach Reykjavik wäre für viele nicht zumutbar. Dadurch wird in den Praxen auf dem Land auch kaum überwiesen. Ich war schon ziemlich überrascht, als ein Patient mit großen Schmerzen ohne Termin und ohne Behandlungsgarantie zu mir kam – nach mehr als zwei Stunden Autofahrt. Ein Notfall: Ein Schaf hatte mit einem saftigen Sprung ins Gesicht ein Frontzahntrauma ausgelöst. Das war mir auch noch nicht untergekommen. Die Geschichte machte schnell die Runde.

Isländer tauschen sich gerne untereinander aus und kennen sich gerade in den kleinen Städten sehr gut. In Hella kommt es äußerst selten vor, dass sich zwei Patienten nicht kennen, und so wird die Wartezeit mit Gesprächen bei einer Tasse Kaffee überbrückt. Außerdem zeigt man viel Toleranz und Geduld, falls die Cousine, der Nachbar oder die Freundin etwas länger im Behandlungszimmer sitzt. Über diesen engen Austausch spricht sich die Qualität der Behandlungen schnell rum. Eine hohe Patientenzufriedenheit lohnt sich also besonders und ist eigentlich unumgänglich, weil der erste Eindruck noch viel mehr zählt.

In der isländischen Gesellschaft sind die Hierarchien flach. Geläufig ist nicht das „Sie“, sondern man spricht sich grundsätzlich mit dem Vornamen an. Übrigens: Wenn einem etwas Peinliches in der Öffentlichkeit passiert, kann es sein, dass man einen dauerhaften Spitznamen abbekommt, der dann meistens nicht gerade schmeichelhaft ist.

Viele Menschen in Hella haben ihr Leben lang denselben Zahnarzt besucht. Als ich dann auftauchte, begegneten sie mir dennoch – zum Glück – mit großer Offenheit und viel Geduld hinsichtlich der Sprachkenntnisse. Oft wechseln sie direkt ins Englische, wenn ich darum bitte. Das beherrschen die allermeisten wirklich gut. Okay, auch durch meinen aus dem Städtchen Selfoss stammenden Mann fremdeln sie nicht mit mir.

Sieben Studenten pro Jahr und Lachgas auf dem Lehrplan

Nicht nur die Versorgung, auch die Ausbildung ist anders aufgestellt. Hunderte treten die jährliche Aufnahmeprüfung des Zahnmedizin-Studiengangs an, aber nur sieben werden nach einem extensiven Multiple-Choice-Test aufgenommen. Es gibt nur eine Universität für das Studienfach und die befindet sich in Reykjavik. Die geringe Zahl an Studienplätzen lässt viele junge Menschen für das Studium nach Dänemark, Schweden oder Ungarn abwandern. Schafft man jedoch die Aufnahme auf Island, erwartet einen ein hochqualitatives und modernes Curriculum.

Durch die geringe Semestergröße ist die Betreuung sehr intensiv und die Durchfallquote extrem gering. Es wird wie in Deutschland ab dem 7. Semester praktisch am Patienten behandelt, allerdings wird jedem eine ZFA zur Unterstützung zugewiesen. Chirurgie und Kieferorthopädie werden oft ausführlicher gelehrt, da ja später, wie beschrieben, weniger überwiesen wird. Herausnehmbare Apparaturen werden oft selbst verschrieben. Auch die Einweisung für Lachgas gehört zum regulären Lehrplan, obwohl das später nicht in jeder Praxis Verwendung findet.

Die Zahnärzte behandeln auch nach dem Studium meist genau nach Lehrplan. Eine Wurzelkanalbehandlung ohne Kofferdam ist hier für die meisten völlig unvorstellbar. Dieser wird auch gerne und oft – wie in den USA – bei Füllungen verwendet. Zumal nicht immer eine Assistenz zur Verfügung steht. Fortbildungen werden ebenfalls sehr gerne im Ausland besucht – oft geht es dann in die USA oder nach Dänemark und Schweden. Beide Einflüsse prägen die Zahnmedizin auf der Insel.

Die Fachrichtung der Dentalhygienikerin existiert in Island nicht und auch keine verpflichtende Ausbildung zur ZFA. Es gibt einen einjährigen Lehrgang zur ZFA im Uniklinikum in Reykjavik, der ist allerdings kein Muss. Demzufolge sind ZFA oft Quereinsteigerinnen und teilen sich die Verantwortung für den Rezeptionsbereich, die Stuhlassistenz und den Sterilisationsbereich. Sie sind nicht permanent bei der Behandlung mit dabei.

Gewerkschaften gehören hier fest dazu, es gibt sie für fast jeden Berufsstand. Das hilft, faire Arbeitsbedingungen zu schaffen. Hier und da fehlen Fachkräfte, allerdings nicht in dem Umfang wie in Deutschland. Ansonsten wird in der Zahnmedizin das Rad nicht neu erfunden, was mir beim Einleben geholfen hat. Die Abläufe und die häufig aus Deutschland importierten Materialien und Stühle gleichen sich.

Angedeutet habe ich schon, dass Island viel digitaler ist im Gesundheitswesen. Das kommt uns Zahnärzten im Praxis­alltag entgegen. Schon lange gibt es die digitale Patientenakte. Die meisten Transaktionen laufen über die sogenannte Kennitala, eine Identifikationsnummer, die sich aus dem Geburtsdatum und ein paar zufälligen Ziffern zusammensetzt und ein Leben lang bestehen bleibt. Damit kann man als Zahnärztin den kompletten Namen und die aktuelle Adresse recherchieren, die zuletzt verschriebenen Medikamente mit Dosisangaben einsehen und gleichzeitig neue verschreiben. Das Papierrezept kommt schon lange nur bei Touristen aus der Schublade. Rechnungen werden meist direkt im Anschluss per Karte bezahlt oder direkt an die Bankadresse geschickt, über die der Patient mit einem Klick auf einen Haken im Online-Banking schnell bezahlen kann. Auch für alle anderen Anliegen wählt man oft den kurzen Dienstweg. Vorschriften wie die regelmäßige Teilnahme am Röntgenkurs oder den verpflichtenden Besuch beim Betriebsarzt gibt es hier nicht.

Echt überrascht hat mich noch eine andere kleine Sitte: Man muss vor dem Betreten der Praxis die Schuhe ausziehen. Auch meine Kollegen wählen manchmal das Behandeln in Socken – für mehr Feingefühl mit dem Fußpedal. Ich habe mich aber gegen diese Anpassung entschieden und bleibe – schön deutsch – bei meinem sicherheitskonformen, geschlossenen Schuhwerk mit rutschfester Sohle.

Behandlungskosten werden mehrheitlich privat beglichen

Zahnmedizinische Behandlungen werden grundsätzlich rein privat in Rechnung gestellt. Ausnahmen sind Kinder unter 18, die nichts zuzahlen müssen, Menschen über 67 und Menschen mit Beeinträchtigungen, bei denen die Behandlungskosten teilweise oder ganz übernommen werden. Da grundsätzlich alle Dienstleistungen in Island sehr teuer sind, zieht es viele Patienten ins Ausland, wo sich Praxen in Ungarn mit isländisch sprechendem Personal auf sie eingestellt haben.

Zahnmedizin auf Island

Island hat rund 372.500 Einwohner (Stand 2021) und laut der letzten Erhebung 371 Zahnärztinnen und Zahnärzte Ein Zahnmediziner versorgt rund 1.200 Patienten. Dazu kommen Dentalhygieniker und Zahntechniker. Island weist damit unter den OECD-Ländern eine der höchsten Versorgungsquoten von Zahnärzten im Verhältnis zur Bevölkerung auf. In Deutschland sind es mit 1.161 Patienten pro Zahnarzt ähnlich viele. 90 Prozent sind Mitglieder der Zahnärztekammer. Island ist ein „Affiliate Member“ im CED und reguläres Mitglied sowohl im Weltverband FDI wie in der europäischen Regionalorganisation ERO.

Im Gegensatz zur allgemeinen Gesundheitsversorgung mit einem umfassenden staatlich finanzierten System, wird die orale Gesundheitsversorgung für Erwachsene und die meisten zahnärztlichen Leistungen von den Patienten selbst auf der Grund­lage von Einzelgebühren bezahlt. Für Kinder unter 18 Jahren werden die Kosten für die meisten zahnärztlichen Behandlungen erstattet, mit Ausnahme von Kronen, Brücken und kieferorthopädische Behandlungen.

Obwohl die Zahngesundheit im Allgemeinen sehr gut ist, sieht man oft Lücken, die aufgrund der Kosten nicht ersetzt wurden. Und manchmal ziehen sich Behandlungen über einen längeren Zeitraum als notwendig, damit es finanziell tragbar wird. So wie mancher in Deutschland seine Arbeiten im fernen Osten herstellen lässt, werden hier Zahntechniker in Schweden beauftragt, um die Behandlungskosten zu senken. Erheblich seltener als in Deutschland stößt man hier auf Gegenwehr, was den Einsatz von Röntgen und Fluorid angeht. Auch Kinder werden schon regelmäßig geröntgt, um bei Karies im Milchgebiss frühzeitig einzugreifen.

Der isländische Weg und der Einblick in ein anderes System sind für mich sehr wertvoll – ich fühle mich wohl.

Marie Lenz

seit 2023 angestellte Zahnärztin in Selfoss und Hella auf Island

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