5. Gemeinschaftstagung Zahnerhaltung

Aus Fehlern lernen: Behandeln Sie nicht das Röntgenbild!

Kerstin Albrecht
Die vier wissenschaftlichen Fachgesellschaften DGZ, DGPZM, DGR²Z und DGET präsentierten auf ihrem Gemeinschaftskongress vom 23. bis zum 25. November 2023 in München ein umfangreiches Programmangebot. Besonders gelungen: Die Mischung aus „take-home messages“, die direkt in der täglichen Praxisroutine umsetzbar sind, und Neuem aus Forschung und Wissenschaft. 

Über 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren – teilweise mit dem gesamten Praxisteam – nach München gereist, um sich bei den Vorträgen des Hauptkongresses und des Wissenschaftstages, in Workshops, bei Kurzvorträgen und durch Fallpräsentationen weiterzubilden. Die Spitzen der DGZ-Verbundgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung – DGZ, Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie – DGET, Deutsche Gesellschaft für Präventivzahnmedizin – DGPZM und Deutsche Gesellschaft für Restaurative und Regenerative Zahnerhaltung – DGR2Z) hatten international bekannte Referenten gewonnen, ihre Expertise zu teilen und kurzweilig zu präsentieren. Vor dem Hauptkongress stellten beim Tag der Wissenschaft (siehe Kasten) Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum ihre Forschungsprojekte vor.

„Kleben“ ohne Kompromisse

Prof. Dr. Bart van Meerbeek aus Leuven (Belgien) ist ein führender Experte in Sachen Adhäsive; in seinem Vortrag „Modern Bonding without compromise“ stellte er die Fakten zusammen. Die wichtigsten Regeln für einen suffizienten adhäsiven Verbund nach Meerbeek sind kurz gefasst:

  • Schmelz erfordert eine Phosphorsäure-Ätzung.

  • Dentin sollte mit einem 10-MDP-haltigen Primer/Adhäsiv konditioniert werden.

  • Die adhäsive Verbundschicht sollte gegenüber Wasserzutritt versiegelt werden, um einen hydrolytischen Abbau zu verhindern. Das wird erreicht über ein 2-Flaschen-(Universal-)Adhäsiv-System (Primer + hydrophobes Adhäsiv) oder über ein 1-Flaschen-(Universal-)Adhäsiv, das mit einem fließfähigen Komposit („Flowable“) überdeckt wird.

  • Wet Bonding ist out.

  • Eine CHX-Desinfektion der Kavität ist nicht notwendig.

Eine neue Technologie, die die Behandler in Zukunft in Echtzeit unter die Zahn- und Füllungsoberfläche schauen lässt, ist die optische Kohärenztomografie (OCT), an der die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Rainer Haak in Leipzig forscht. Das lichtoptische Verfahren arbeitet mit Wellenlängen im Nahinfrarot-Bereich. Die Eindringtiefe ist bisher aufgrund von Streueffekten und der Lichtabsorption auf circa zwei bis vier Millimeter limitiert. Das Verfahren eignet sich gut, um Grenzflächen von Restauration und Zahn sowie (gegebenenfalls) Spalträume darzustellen.

Die Bildgebung, die seit Längerem schon in der Augenheilkunde (Darstellung des Augenhintergrunds) angewendet wird, ähnelt einer Ultraschall-Aufnahme, habe allerdings „eine deutlich höhere Auflösung“, erläuterte Haak. Ein weiterer Vorteil ist die Bildgebung ohne ionisierende Strahlung. Sogar die äußerst geringe Demineralisation einer Schmelzoberfläche nach dem Genuss einer mit Essig verfeinerten Linsensuppe ist mit OCT darstellbar, wie Haak an zeitlich gestaffelten OCT-Bildern zeigte. An der Universitätszahnklinik Leipzig befindet sich eine OCT-Sonde für den intraoralen Gebrauch in der klinischen Erprobung. Die Geräteentwicklung bis zur Marktreife „steht aber noch aus“, sagte Haak.

Invasive Resorption – wenn der Pulpa der Sauerstoff fehlt

Prof. Dr. Paul Lambrechts aus Leuven in Belgien stellte eine Reihe von Patienten vor, die an einzelnen Zähnen zervikale invasive Resorptionen ausgebildet hatten. Die Ätiologie ist noch nicht genau geklärt, doch es besteht möglicherweise ein Zusammenhang mit einer verminderten Sauerstoffzufuhr im Pulpagewebe im Bereich des Zahnhalses. Viele der Patienten mit zervikalen invasiven Resorptionen, die Lambrechts vorstellte, waren zuvor kieferorthopädisch behandelt worden und/oder wiesen Bruxismus auf.

In einem Fall übte eine Patientin beim Saxophon-Spielen dauernd Druck auf die Frontzähne aus. Nach einer solchen temporären Hypoxie entsteht manchmal ein intern wucherndes, osteoklastenreiches Granulationsgewebe, über dem ein dünner „Schmelzdeckel“ liegt. Die Therapie besteht im Ausräumen dieses Gewebes, idealerweise nach Beurteilung der Ausdehnung mittels DVT. Je nach Ausdehnung versucht Lambrechts, die Pulpa vital zu erhalten (partielle Pulpektomie). Falls das nicht möglich ist, behandelt er den Zahn endodontisch. In seltenen Fällen kann eine invasive Resorption auch von selbst zum Stillstand kommen, indem sich reparatives Knochenersatzgewebe bildet.

Sehr kurzweilig stellte die niederländische Endodontologin Dr. Marga Ree aus Purmerend ihre Erfolge und Misserfolge aus 40 Jahren zahnärztlicher Tätigkeit vor. „Behandeln Sie nicht das Röntgenbild“, lautete ihr Kommentar, als sie bei einer Patientin (ihrer Schwester) im Verlauf von über 30 Jahren durch wiederholte Revisionen erfolglos versucht hatte, eine symptomlose apikale Aufhellung „wegzubehandeln". Die Aufhellung kam wieder, der Zahn blieb symptomfrei, was für die Patientin letztendlich das Wichtigste sei. Aus diesen und anderen „Fehlern“ habe sie viel gelernt.

Eine weitere take-home message betraf die Rolle der postendodontischen Restauration: „Die restaurative Prognose eines Zahnes ist wichtiger als die endodontische.“ Sie meinte damit, dass die Prognose des Zahnes mit der anschließenden Versorgung insgesamt in den Blick gerückt werden sollte und nicht nur die endodontische Therapie.

Versorgung nach Endo – was ist stabil und substanzschonend?

Die postendodontische Restauration war Thema eines Vortragsblocks, in dem Prof. Dr. Roland Frankenberger (Marburg) die Sicht eines Zahnerhalters vortrug, während Prof. Dr. Daniel Edelhoff (München) die prothetische Sichtweise präsentierte. In der Sache waren beide Experten gar nicht so weit auseinander: Substanzschonung erachteten sie als wichtige Handlungsstrategie. Ein Schlüssellochzugang zum Wurzelkanal führt allerdings laut Frankenberger am Ziel vorbei. Wenn die Übersicht fehlt und das Kanalsystem zur Desinfektion, Präparation und Füllung zu wenig zugänglich ist, sei selbst bei maximaler Substanzschonung ein Behandlungserfolg fraglich. Edelhoff verwies auf postendodontische Therapiestrategien, die bereits Ende der 1980er-Jahre publiziert wurden, aber im Prinzip noch immer gültig sind:

  • Bei intakten zirkulären Wänden bei Seitenzähnen (nur zentraler Zugang) reiche eine direkte Kompositrestauration (Adhäsivtechnik; kein Stift) aus [Reeh et al., 1989].

  • Fehlen beide Randleisten, sollten ein adhäsiver Komposit-Aufbau und eine Höcker-überkuppelnde Restauration (kein Stift) erfolgen [Reeh et al., 1989; Hansen et al., 1990].

  • Fehlt zusätzlich eine weitere Wand, sollte der Zahn mit einer Teilkrone und gegebenenfalls mit einem Stift an der Seite der fehlenden Zahnwand versorgt werden.

Bei Keramikrestaurationen empfahl Edelhoff die Höcker oberhalb des Zahnäquators einzubeziehen. Grundsätzlich sind Stifte und Vollkronen immer seltener indiziert. Wichtiger als das Material des Stiftes sei der Fassreifen-Effekt, also den verbliebenen Zahnstumpf circa zwei Millimeter körperlich zu fassen, ergänzte Frankenberger.

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Haak und Prof. Kerstin Bitter aus Halle stellte Edelhoff heraus, dass mit Goldteilkronen manchmal weniger der verbliebenen Zahnsubstanz geopfert werden muss. Auch sei der Verschleiß ähnlich dem Antagonisten, subgingival ist eine suffiziente Zementierung leichter als bei der adhäsiven Befestigung und die Goldteilkrone ist bei Bruxismus sehr gut geeignet. Dem stehe allerdings die mangelnde Patientenakzeptanz entgegen, wenn in sichtbaren Bereichen restauriert wird.

Mundspülung: Nutzen versus Risiko abwägen

Über ein präventives Thema (Antiseptika) referierte PD Dr. Fabian Cieplik aus Regensburg. Die Anwendung von Mundspüllösungen sei kontrovers zu sehen. Ausgehend von der ökologischen Plaquehypothese ist ein un­selektives Abtöten von Keimen nicht gewünscht. Tatsächlich hätten In-vitro-Studien gezeigt, dass CHX die Bakterienanzahl in Biofilmen generell reduziert und einen Shift hin zu Karies-­assoziierten Taxa (Firmikutes) nach sich gezogen hat. Dies führe zu einer Abnahme des pH-Wertes im Biofilm.

Interessant zudem: Die CHX-Anwendung führte zu einer reduzierten Nitritsynthese im oralen Mikrobiom. Dadurch sei weniger Stickstoffmonoxid verfügbar, was Auswirkungen auf den Blutdruck haben kann. Trotz allem sind Antiseptika ein wertvolles Adjuvans in der klinischen Praxis. Die ausgeprägte Wirkung gegenüber Bakterien im Speichel und sogar gegen SARS-CoV-2 (im Fall von CPC, Cetylpyridiniumchlorid) hebt die Bedeutung der präprozeduralen Mundspülung hervor.

Prof. Dr. Dr. Albert Mehl, Zahnarzt und Diplomphysiker von der Klinik für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin in Zürich, erläuterte in seinem Vortrag, was heute mit digitalen Tools in der Zahnarztpraxis möglich ist. Bei den Scansystemen gebe es keine großen Unterschiede bei der Genauigkeit mehr, gerade wenn der gescannte Bereich klein ist (Einzelzahn, Quadrant). Bei der virtuellen Aufzeichnung der dynamischen Okklusion beziehungsweise Funktion (Virtuell Functional Generated Path) ist der Artikulator in den Computer eingebaut. Eine Software errechnet die Artikulatoreinstellungen. Über eine solche virtuelle funktionelle Bissregistrierung (Full range dynamic Occlusion) ist laut Mehl und Geiger [Mehl und Geiger, 2023] in 94 Prozent der Fälle kein Einschleifen bei Einzelzahnrestaurationen oder kleineren Brücken mehr nötig.

Tag der Wissenschaft: Neues aus Klinik und Labor

Zum achten Mal wurde am Tag vor dem Hauptkongress der „Tag der Wissenschaft“ ausgerichtet. In Kurzvorträgen werden wissenschaftliche Arbeiten vorgestellt, so erhalten die Zuhörer einen Einblick in die Forschungsaktivitäten an den verschiedenen Universitätsstandorten im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich zum traditionellen Ablauf gab es ein besonderes Highlight: Gastgeber Prof. Dr. Reinhard Hickel führte in seinem Vortrag durch 30 Jahre Zahnerhaltung – als Rückblick auf seine Tätigkeit an der Zahnklinik der Ludwig-Maximilians-Universität. Hickel wird am Jahresende in den Ruhestand gehen.

Vorab-Check durch Zahnmediziner reduziert Infektionen

Eine Arbeitsgruppe um PD Dr. Gerhard Schmalz aus Leipzig widmete sich dem Problem der Frühinfektionen von Hüft- und Knieprothesen, die nach den vorliegenden Studien zu drei bis 13 Prozent orale Ursachen haben. Die Idee der Studie: Patienten, bei denen eine Endoprothesen-Operation vorgesehen war, erhielten im Vorfeld von ihrem Orthopäden ein Formular mit der Aufforderung, sich bei ihrem Hauszahnarzt vorzustellen. Dieser sollte nach der Untersuchung auf dem Formular ankreuzen, ob das Risiko einer infektiösen Komplikation mit oraler Ursache als gering, moderat oder hoch einzuschätzen ist. Zudem sollte der Zahnarzt beurteilen, ob eine Endoprothesen-Implantation erfolgen kann oder ob zuvor eine zahnärztliche Behandlung indiziert ist. Bei hohem Risiko für eine Infektion erfolgte zunächst keine Operation. Die zahnärztliche Zuweisung vor der Operation reduzierte das Risiko einer Frühinfektion deutlich. In der Test-Gruppe mit Vorstellung beim Zahnarzt erlitten 0,8 Prozent der Patienten eine Frühinfektion, in der Kontrollgruppe ohne Vorstellung beim Zahnarzt 1,8 Prozent.

Glasfaserverstärkte Kompositrestaurationen bei MIH

Eine gute Möglichkeit der minimalinvasiven Versorgung von großflächigen, flachen Defekten, wie sie bei Zähnen mit Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) vorkommen können, sind nach PD Dr. Britta Hahn aus Würzburg glasfaserverstärkte indirekte Kompositrestaurationen. Hersteller empfehlen eine Mindestschichtstärke von 1,5 Millimetern im Seitenzahn- und 1,0 Millimetern im Frontzahnbereich. Im Rahmen der Studie setzten die Behandler Schichtstärken von 0,2 Millimetern im nicht-kaulasttragenden Bereich ein. Die Anwendung ist bereits im Wechselgebiss gut möglich. Die einfache Reparaturmöglichkeit erlaubt es, die Liegedauer dieser Restaurationen zu verlängern. Die Restaurationen wiesen nach einer mittleren Beobachtungszeit von 5,7 Jahren eine überwiegend exzellente oder gute klinische Qualität auf. Kleinere Minuspunkte waren lediglich ein leichter Oberflächenglanzverlust, -verfärbungen und Plaqueanlagerungen an den restaurierten Zähnen.

Wurzelkanaldesinfektion aus der Kläranlage?

Eine Arbeitsgruppe aus Berlin um Dr. Marie-Luise Voit suchte im Rahmen einer Studie nach einer Möglichkeit, dem Endo-Problemkeim Enterococcus faecalis mit Bakteriophagen beizukommen. Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien infizieren. Sie injizieren dabei ihr genetisches Material in die Bakterien, um sich zu replizieren. Dies führt zur Zerstörung des Wirtbakteriums. Aus ungereinigten Berliner Klärwerk­abwässern konnten die Forschenden E.-faecalis-spezifische Phagen isolieren. Diese Phagen zeigten allerdings nicht für sich alleine, sondern erst dann eine ausreichende Wirkung, wenn der Wurzelkanal (in vitro) vorher mit NaOCl gespült wurde und ihnen lange Einwirkzeiten gewährt wurden (6 h). Inwieweit die Ergebnisse dieser In-vitro-Studie auch klinisch reproduziert werden können, ist noch nicht geklärt.

Prof. Dr. Falk Schwendicke aus Berlin referierte über künstliche Intelligenz (KI) in der Zahnerhaltung. Bei der Entwicklung einer KI-unterstützten Diagnostik-Software habe sich gezeigt, dass es für die KI schwieriger war, auf einem Röntgenbild einen Zahn 16 von einem 17 zu unterscheiden, als Karies zu erkennen. Die Vorteile der farbigen Darstellung von apikalen Entzündungen, Konkrementen und Kariesläsionen auf dem Bildschirm sieht er bei der diagnostischen Hilfestellung, einem automatisierten Reporting und der Patientenkommunikation. Für Patienten sind die farbigen Stellen auf dem Röntgenbild verständlicher als die unterschiedlichen Grauwerte.

So vielfältig und interessant die Möglichkeiten der digitalen Zahnmedizin und der KI heute schon sind, „es mangelt noch daran, dass viele Schnittstellen bislang nicht untereinander kompatibel sind", sagte Schwendicke.

Literaturliste

  • Geiger B, Mehl A. A novel algorithmic approach for automatic virtual articulation to avoid dynamic interferences in dental restoration designs. Int J Comput Dent. 2023 Oct 12;0(0):0. doi: 10.3290/j.ijcd.b4494379.

  • Hansen EK, Asmussen E, Christiansen NC. In vivo fractures of endodontically treated posterior teeth restored with amalgam. Endod Dent Traumatol. 1990 Apr;6(2):49-55. doi: 10.1111/j.1600-9657.1990.tb00389.x.

  • Reeh ES, Messer HH, Douglas WH. Reduction in tooth stiffness as a result of endodontic and restorative procedures. J Endod. 1989 Nov;15(11):512-6. doi: 10.1016/S0099-2399(89)80191-8.

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Dr. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin

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