Interview mit Oralchirurg Dr. Christoph Niesel zu seinem Einsatz in Westkenia

„Der dentale Tausendsassa ist hier fehl am Platz“

Heftarchiv Gesellschaft
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Der Oralchirurg Dr. Christoph Niesel aus Karlsruhe ist frisch im Ruhestand. Das heißt, er hat endlich Zeit für ein Herzensprojekt! Und so unterstützt er die Dentists for Africa (DfA) in Kenia. Was ihn dazu bewegt und was vor Ort die Besonderheiten sind, erzählt er im Interview.

Wie kam es, dass Sie sich nicht zur Ruhe setzen, sondern für DfA nach Westkenia fahren?

Dr. Christoph Niesel: Ich wusste nach einer Besinnungsphase zu Beginn meiner Rente, dass ein soziales Engagement für mich wichtig sein würde. Durch einen Beitrag in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Orale Implantologie bin ich auf DfA aufmerksam geworden, besuchte 2022 die Jahresversammlung, lernte die Verantwortlichen kennen, meldete mich für einen Einsatz und saß zehn Wochen später im Flieger nach Kenia. Seitdem habe ich bei DfA mein Zuhause gefunden. Der Nachhaltigkeitsgedanke wird hier besonders gut umgesetzt. Und ich kann mit einem Einsatz vor Ort mit relativ wenig Aufwand sehr viel Gutes tun. Die Menschen, die wir versorgen, sind extrem dankbar für die Hilfe.

Was sind die Besonderheiten hinsichtlich der Mundgesundheit in Westkenia?

Die Haushälterin des Gästehauses in Nyabondo, Ruth, sagte mir: „Die Menschen hier sparen lieber das Geld für ihren Sarg, als es in ihre Gesundheit zu investieren.“ Das habe ich genauso erlebt: Die Menschen suchen einen Zahnarzt nur auf, wenn sie wirklich extreme Zahnschmerzen haben! Viele von ihnen leben von umgerechnet einem Euro pro Tag und können sich kaum die Fahrt zur Zahnstation, geschweige denn die Behandlung leisten. Zudem gibt es kaum Aufklärung oder Vorsorge und dementsprechend auch wenig Wissen über tägliche Mundhygiene oder den Zusammenhang von Ernährung und Karies.

Softgetränke wie Cola, Fanta und Sprite halten Einzug und werden massiv beworben. Wir sehen in den Außeneinsätzen nicht selten Menschen mit Gebissen, bei denen 80 Prozent der Zähne zerstört sind, und die zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen Zahnarzt treffen. Auch bei vielen Kindern und Jugendlichen müssen wir Zähne deshalb ziehen. In die Zahnstationen kommen die Menschen oft erst, wenn die Schmerzen unerträglich werden oder sich schon ein Abszess bildet. Die wenigsten haben eine Krankenversicherung – und die Extraktion ist günstiger als die Füllung.

Wie können Sie in den Zahnstationen behandeln?

Die Behandlungsoptionen sind Extraktionen, Füllungen, sofern der Zahnnerv von der Karies noch nicht betroffen ist, und einzeitige Wurzelkanalbehandlungen an noch vitalen Zähnen bei Eröffnung der Pulpa. Einzeitig deshalb, weil die Patienten in dem Moment, wo sie schmerzfrei sind, nicht mehr wiederkommen.

Was ist der außergewöhnlichste zahnmedizinische Fall, den Sie behandelt haben?

Immer wieder sieht man Tumoren, die bis dato weder diagnostiziert noch behandelt wurden. Ich traf vor Kurzem auf eine Frau mit einem perimandibulären Abszess, der von extraoral eröffnet werden musste. Als Oralchirurg bin ich für diesen Eingriff zwar ausgebildet, habe ihn in der Praxis jedoch selbst noch nie durchgeführt, da wir in Deutschland solche Patienten in der Regel an eine gesichtschirurgische Praxis überweisen können. Die nächste MKG ist hier mehrere Stunden Fahrt entfernt. Die Patientin hätte weder die Fahrtkosten noch den Krankenhausaufenthalt zahlen können. Diesen Eingriff im Level-4-Krankenhaus Nyabondo zu organisieren und dann in Generalanästhesie durchzuführen, war eine echte Herausforderung.

Was hat Sie besonders überrascht, begeistert oder erschreckt?

Zum einen ist jede Behandlung vor Ort immer ein Stück Improvisation – darin sind die Kenianer freilich Spezialisten! Während eines mobilen Einsatzes ist es aufgrund der Menge an Patienten nicht möglich, zwischendurch die Instrumente zu sterilisieren. Dies ist in einer hochkonzentrierten Desinfektionslösung aber entsprechend der kenianischen Hygienevorgaben möglich. Zum anderen ist die technische Ausrüstung der Einheiten eher einfach und funktionell und vor Ort zu reparieren. Viele der in unseren Zahnstationen tätigen Behandler sind Absolventen unseres Patenschaftsprojekts für Waisenkinder und geben zurück, was sie erhalten haben. Außerdem begeistert mich ihre Lernbereitschaft von unseren Einsatzleistenden und in unseren zahnmedizinischen Seminaren.

Gibt es Hoffnungsschimmer?

Im Prophylaxeprogramm, das DfA seit vielen Jahren an Schulen durchführt, gibt es Fortschritte. Dort treffen wir auf Kinder, die oftmals durch Spendenaktionen an eine Zahnbürste gekommen sind und gelernt haben, wie man Zähne putzt. Jedoch haben sie oft als einzige in der Familie eine Zahnbürste, aber kein Geld für Zahnpasta. Einige Kinder haben recht gute Zähne, etwa 20 Prozent der Schüler einer Schule sind behandlungsbedürftig. Außerdem entwickelt DfA gerade gemeinsam mit dem Krankenhaus in Asumbi ein Konzept zur Schulung der lokalen Gesundheitsarbeiter zu zahnmedizinischen Belangen, das von der Regierung zertifiziert werden soll. Auf diese Weise sollen Aufklärung betrieben, das Wissen zu diesen Themen nachhaltig verbessert und Patienten rechtzeitig an Zahnstationen verwiesen werden.

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Was würden Sie KollegInnen ans Herz legen, die auch mit dem Gedanken spielen, in ärmeren Regionen zu helfen?

Es ist eine extrem sinnstiftende Tätigkeit, die einem selbst viel gibt und lange nachwirkt. Wichtig ist es, den Menschen in diesen uns fremden Ländern demütig zu begegnen. Wer hier versucht, den „dentalen Tausendsassa“ herauszulassen, ist fehl am Platz. Die Tatsache, dass man sich von dem Leid der Menschen abgrenzen muss, ist eine weitere Voraussetzung dafür, dass man vor Ort wirklich helfen kann. Wissen sollte man, dass es herausfordernde Situationen gibt.

Zum Beispiel sind die Örtlichkeiten, in denen die Behandlungen stattfinden, zeitweise gewöhnungsbedürftig: Mal behandelt man unter einem improvisierten Zelt am Straßenrand, mal auf der grünen Wiese neben herumlaufenden Hunden und Hühnern. Oder auch die ergonomische Haltung, die man hat, wenn man Patienten im Plastikstuhl behandelt. Und die Menge an Patienten ist manchmal erschreckend! Man hat immer mindestens noch 50 Patienten draußen sitzen. Doch es berührt mich sehr, wenn ich nach einer halben Stunde schwerer Arbeit an einem schwierig zu entfernenden Zahn ein „Dankeschön“ höre.

Das Gespräch führte Laura Langer.

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