Zahnarzt in First-Generation

„Die anderen kannten sich besser aus als ich!“

Heftarchiv Gesellschaft
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Geschlecht, Nationalität, Alter: In den vergangenen Jahren hat das Thema Vielfalt in der Arbeitswelt an Aufmerksamkeit gewonnen. Aber auch die soziale Herkunft spielt für die berufliche Entwicklung eine Rolle, denn sie prägt – wie eine Studie zeigt – die gesamte Laufbahn. Ein Zahnarzt berichtet von seinen Erfahrungen.

Während die Bedeutung von Vielfalt in der Gesellschaft immer stärkere Anerkennung und Unterstützung erfährt, bleibt eine Facette unseres Verständnisses von Diversität, Gleichstellung und Inklusion auch weiterhin nur sehr schwer greifbar: der sozioökonomische Hintergrund“, stellt die Boston Consulting Group (BCG) in ihrer Studie „Das schlummernde Potenzial der ‚First-Generation Professionals‘“ 2023 fest. „First-Generation“ oder FirstGen Professional sind Fachkräfte, die als erste in ihrer Familie studiert haben und als Akademikerinnen und Akademiker ins Berufsleben eingetreten sind.

Die Arbeit liefert Hinweise darauf, dass es auch nach einem erfolgreichen Studium und trotz gleicher fachlicher Qualifikation für die spätere berufliche Laufbahn eine Hürde sein kann, statt in einem Akademikerhaushalt beispielsweise in einem Arbeiterhaushalt groß geworden zu sein. Dass Deutschland bei der sozialen Mobilität nur mäßig abschneidet, ist in anderen Zusammenhängen schon stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. So ist bekannt, dass Akademikerkinder mit größerer Wahrscheinlichkeit studieren als Kinder aus schlechteren sozioökonomischen Verhältnissen. Laut Hochschulbildungsreport 2020 erwerben nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder eine Hochschulzugangsberechtigung. Bis zum Master steigt die Relation auf knapp 1:6, bis zur Dissertation sogar auf 1:10. Das heißt: Einen Doktortitel schaffen von 100 Akademikerkindern durchschnittlich zehn und von 100 Nichtakademikerkindern eins. Wie es dann im Job weitergeht, ist bisher allerdings wenig erforscht.

Keinen akademischen Background zu haben, führt laut der BCG-Studie dazu, dass sich viele Berufstätige ihrem Arbeitsumfeld noch sehr lange Zeit – manchmal gar für immer – nicht 100-prozentig zugehörig fühlen. Insgesamt hätten FirstGens zu 19 Prozent häufiger das Gefühl, am Arbeitsplatz nicht sie selbst sein zu können, heißt es in der Studie. „Das Gefühl, nicht authentisch sein zu können, hat Auswirkungen, die nicht nur dem Einzelnen schaden, sondern auch dem Unternehmen: Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und Stagnation bei der persönlichen Entwicklung gehen Hand in Hand mit weitreichenderen Folgen, etwa einer Verschlechterung der Unternehmensperformance.“

„Man kann die Unterschiede nicht benennen, spürt sie im Miteinander aber doch!“

Marcus Poller kommt aus einem nicht akademischen Elternhaus, ist also ein FirstGen. Seine Mutter arbeitete als Erzieherin, sein Vater war selbstständig in der Logistikbranche. Nach seinem Realschulabschluss im Jahr 2003 machte er eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Im Anschluss machte er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur und studierte ab 2014 Zahnmedizin in Halle. An den Wochenenden jobbte er weiter als Pfleger im Krankenhaus, um sein Studium zu finanzieren. Nach der Assistenzzeit trat er 2022 eine Anstellung in einem zahnärztlich geführten MVZ in Leipzig an. Der heute 37-Jährige kann viele Erfahrungen gut nachvollziehen, von denen die rund 1.125 Fachkräfte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz berichten, die an der anonymen Online-Befragung, die der BCG-Studie zugrunde liegt, teilgenommen haben. Er selbst hat erlebt, dass viele Unterschiede, die aufgrund der sozialen Herkunft im Beruf entstehen, nur schwer greifbar sind. „Man kann sie nicht benennen, aber spürt sie im Miteinander doch. Am besten beschreibt man es vielleicht als eine Art Habitus oder Wissensvorsprung, den Kinder von Akademikerinnen oder Akademikern haben.“

Hier spielt Networking eine wichtige Rolle, schreiben die Autoren der Boston Consulting Group. So hätten FirstGens um 46 Prozent seltener Zugang zu Netzwerken, die ihnen beim Berufseinstieg helfen. „FirstGen-Professionals haben das Gefühl, dass sie im Vergleich zur Akademikergruppe weniger gut über Einstiegspositionen und Karrierepfade informiert sind. Die Komplexität der Karrierewahl und die dabei fehlende Unterstützung sowie der eingeschränkte Zugang zu Insider-Informationen (wie Stellen, die nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern nur über Netzwerke besetzt werden) erschweren ihnen die Wahl des richtigen Karrierepfads und die Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche“, heißt es in der Studie.

„Ich hatte am Anfang von vielen betrieblichen Dingen keine Ahnung“

Auch mit zunehmender Berufserfahrung würden diese Herausforderungen nicht ganz verschwinden. Für Poller war der Berufseinstieg ohne Vorwissen eine Herausforderung. Das ist ihm jetzt, mit mehr Erfahrung, noch stärker bewusst als früher. Er beschreibt es so: „Ich hatte am Anfang von vielen betrieblichen Dingen keine Ahnung, zum Beispiel von Kennzahlen im Umsatz. Ohne berufliches Netzwerk empfand ich es als schwierig, an verlässliche Informationen zu kommen und mich zurechtzufinden. Ich hatte sehr stark das Gefühl, dass sich meine Kommilitoninnen und Kommilitonen aus zahnärztlichen Familien sehr viel besser auskannten, was ja auch verständlich ist.“

Ein weiteres Thema, das für Poller insbesondere am Anfang seiner Karriere absolutes Neuland darstellte, war das Gehalt. „Ich hatte keine Anhaltspunkte, auf die ich zurückgreifen konnte, und wusste nicht, welche Gehälter üblich sind. Auch andere Aspekte wie die Lohnfortzahlung im Urlaub hatte ich als Anfänger überhaupt nicht auf dem Schirm“, erinnert er sich.

Solche Wissenslücken können nachhaltige finanzielle Folgen haben. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom Class Pay Gap. Es bedeutet: Fachkräfte mit einem nicht akademischen Background verdienen weniger – weil sie beim Gehalt ohne Insider-Wissen schlechter abschneiden. In Deutschland ist das Class Pay Gap bisher nicht erforscht.

Anders sieht es in Großbritannien aus. Dort wurde vor einigen Jahren mit der „Social Mobility Commission“ (SMC) eine Kommission eingesetzt, die entsprechende Daten erfasst. Aus dem von der SMC veröffentlichten Bericht „The Labour Force Survey“ aus 2017 geht hervor, dass es „ein starkes und weitgehend uneingestandenes ‚Lohngefälle zwischen den Klassen‘ innerhalb der Berufe gibt. Personen aus der Arbeiterklasse verdienen im Durchschnitt 6.800 Pfund weniger als andere Kollegen aus Fach- und Führungspositionen“. Das sind knapp 8.000 Euro pro Jahr. Der Class Pay Gap für Ärztinnen und Ärzte lag laut SMC mit knapp 7.000 Pfund sogar leicht über dem Durchschnitt. Auch die britische Nichtregierungsorganisation (NGO) „The Social Mobility Foundation“ kommt in ihren regelmäßigen Analysen des Class Pay Gaps zu dem Schluss, dass Menschen, die aus der Arbeiterklasse stammen und in höheren Führungspositionen arbeiten, 13 Prozent weniger verdienen als Gleichaltrige aus „privilegierten Verhältnissen“. Für Ärztinnen und Ärzte in Großbritannien erfasste die NGO zuletzt eine Gehaltsdifferenz von 3.640 Pfund – umgerechnet knapp 4.300 Euro – pro Jahr. Ihr Fazit: Dem sozioökonomischen Hintergrund sollte die gleiche Aufmerksamkeit zukommen wie anderen Dimensionen von Diversität, etwa Geschlecht oder Einwanderungsgeschichte.

„Bei mir war sehr viel Selbstmotivation im Spiel“

Die Boston Consulting Group beschäftigt sich in ihrer FirstGen-Studie zwar nicht mit dem Class Pay Gap, fordert aber klar, dass die aufgrund der sozialen Herkunft bestehenden speziellen Bedürfnisse von Arbeitskräften gezielt adressiert werden sollten. Die Unternehmensberatung empfiehlt Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, die Bewerbungen von FirstGens nicht vorschnell auszusortieren, etwa, weil ihre Lebensläufe nicht linear sind oder sie länger studieren.

„Vor einer Ablehnung von nichtlinearen Lebensläufen sollten Sie Kandidat:innen die Möglichkeit geben, ihren beruflichen Werdegang zu erläutern. Neugierde ist immer besser als ein vorschnelles Urteil“, heißt es in der Studie. Die Mühe lohne sich: FirstGens seien mit 40 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit intrinsisch motiviert. Poller erkennt sich in dieser Charakterisierung in der Hinsicht wieder: Um über den zweiten Bildungsweg zu studieren war sehr viel Selbstmotivation im Spiel.

Der Studie zufolge übernehmen FirstGens in späteren Karrierephasen mit 48 Prozentpunkten eher Führungspositionen. Das trifft auch auf Poller zu. Er hat nach nur 2,5 Jahren nach dem Ende seines Studiums die Leitung einer MVZ-Filiale übernommen. Das Verhältnis zu seinen Chefs beschreibt er als „respektvoll und geprägt von viel beruflichem Austausch“. Für die Bedürfnisse junger Kolleginnen und Kollegen, insbesondere für die mit einer ähnlichen Biografie, ist er sensibilisiert. Für ihn ist es ein Anliegen, sein Know-how mit ihnen zu teilen, egal, ob es um Gesprächsführung, Case Management oder Teamführung geht.

„Ich hatte das Gefühl, ich muss jetzt 'richtig ärztlich' sein!“

Dr. Christin Gerber, angestellte Fachärztin für Arbeitsmedizin in Bochum, ist Erstakademikerin. Die 35-Jährige weiß aus eigener Erfahrung, welche Herausforderungen das Medizinstudium und der Einstieg in den Beruf für Menschen mit ihrem Hintergrund bereithalten. Um andere beim Start zu unterstützen, engagiert sie sich seit 2009 ehrenamtlich als Mentorin für die Organisation „ArbeiterKind“. Hier erzählt sie, wie es ihr erging und was sie ihren Mentees rät.

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Dr. Christin Gerber ist Fachärztin für Arbeitsmedizin und Mentorin bei ArbeiterKind.de.

Dr. Gerber, womit haben Ihre Mentees aus dem Bereich Medizin beim Jobeinstieg zu kämpfen?

Dr. Christin Gerber: Aus dem Studium kennen sie einen gewissen finanziellen Druck und akzeptieren daher oft schnell und ohne ausführliche Verhandlungen eine Stelle. Da in den Kliniken unterschiedliche Tarifverträge gelten, nehmen sie an, dass dies so hinzunehmen sei, während andere wissen, dass es möglicherweise Spielraum bei Eingruppierung und Sonderzahlungen gibt.

Was haben Chefs und Chefinnen im Zusammenhang mit Bewerberinnen und Bewerbern aus sozioökonomisch ungünstigeren Verhältnissen nicht auf dem Schirm?

Auch wenn das Fachliche im Vordergrund stehen sollte, bevorzugt man in der Regel Personen, die einem ähnlich sind. Vorgesetzte müssen sich das bewusstmachen und hinterfragen, warum sie wen gut oder weniger gut finden. Vielleicht mag man Bewerberin A vor allem, weil sie einem durch das gleiche Hobby ähnlich ist – ein Hobby, das Bewerber B gar nicht ausüben kann, weil zum Beispiel die finanziellen Einstiegshürden für ihn viel höher sind.

Welchen Support hätten Sie sich beim Job-Start gewünscht?

Retrospektiv hätte ich jemandem, der mich beim Übergangsprozess von Studentin zu Ärztin begleitet, gut gebrauchen können. Jemand, der mir Tipps gibt worauf, ich bei Arbeitsverträgen achten muss, dass ich sehr wohl das Gehalt verhandeln kann, mich zu Fortbildungen mitnimmt – oder zumindest vorher einweiht, wie das abläuft, und dass dort nichts zu befürchten ist.

Wie meinen Sie das?

Ich hatte anfangs große Hemmungen zu Fortbildungen zu gehen, da das „Imposter-Syndrom“ sehr tief saß, also, dass ich mich unter Kolleginnen und Kollegen wie eine Hochstaplerin empfand. Zu den ersten Fortbildungen, zu denen ich mich angemeldet hatte, bin ich nicht erschienen.

Viele Erstakademikerinnen und -akademiker beschreiben den Job-Einstieg als schwierig, weil sie keine Netzwerke oder Insider-Wissen haben. Erleben Ihre Mentees das ähnlich?

Insbesondere im akademischen Umfeld habe ich das auch schon mehrfach gehört. Wie zum Studienbeginn ist man in einer Situation, in der viele Menschen um einen herum bereits Insider-Wissen zu haben scheinen, das man sich selbst erst aneignen muss. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum so wenige Erstakademikerinnen und -akademiker es bis zum Doktortitel oder weiter schaffen, zusätzlich dazu, dass die Wissenschaft mit zeitlichen Befristungen für viele „zu unsicher“ ist. Nach Jahren der Unsicherheit im Studium will man oft einfach nur Geld verdienen und da bleibt dann weniger Raum für wissenschaftliche Ambitionen.

Welchen Rat geben Sie Ihren Mentees in dieser Situation?

Ich sage ihnen immer, dass es sehr vielen so geht oder ging und dass darüber zu reden enorm erleichternd sein kann. Dazu ermutige ich sie.

„First Generation-Professionals“ haben auch oft das Gefühl, im Beruf nicht sie selbst sein zu können. Wie war das für Sie?

In meiner ersten Anstellung hatte ich das Gefühl, ich muss jetzt „richtig ärztlich“ sein und habe schon eine innerliche Spannung wahrgenommen. Ich wusste nicht, wie viel ich über mich preisgeben und trotzdem ernst genommen werden konnte. Kann ich erzählen, dass ich mich bei ArbeiterKind.de engagiere? Sind meine Hobbys okay oder werde ich den „Studentinnen-Status“ nie los?

Abseits der Unsicherheit: Welche Stärken zeichnen Ihre Mentees gerade aufgrund ihrer Herkunft im Job aus?

Wer als Erstes in der Familie erfolgreich studiert hat, hat sich meist viel selbst erarbeiten müssen und dadurch enormes Durchhaltevermögen entwickelt. Selbst wenn die Familie unterstützend ist, kann es sein, dass sie den Inhalt des Studiums nicht nachvollziehen kann. Das schärft die Kommunikationsfähigkeit. Erstakademikerinnen und -akademiker haben auch oft aus eigener Erfahrung die Möglichkeit, sich besonders gut in die Patientinnen und Patienten hineinzuversetzen, die keinen akademischen Background haben. Ich denke, insbesondere im Gesundheitswesen, wo wir mit einer enormen Spannbreite von Menschen zu tun haben, profitieren wir alle, wenn das ärztliche Personal keine homogene Masse ist.

Das Gespräch führte Susanne Theisen.

Seit 2008 unterstützt die Organisation „ArbeiterKind“ Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren. Mehr Infos: arbeiterkind.de

„Das mache ich auch ungefragt, weil ich es wichtig finde, dass wir uns gegenseitig unterstützen und voranbringen“, erklärt der Zahnarzt. Damit ist er ganz auf Linie mit der Empfehlung, die die BCG-Studie FirstGens gibt: „Verhalten Sie sich authentisch und inspirieren Sie andere durch Ihr Vorbild. Sprechen Sie offen über Ihren Hintergrund, um andere zu ermutigen.“

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