MKG-Chirurgie

Infizierter Weisheitszahn im hochgradig atrophierten UK

Heftarchiv Zahnmedizin
Dr. Dr. Thomas Neisius
Im Fall komplexer fortgeschrittener Destruktionen von Hart- und Weichgeweben müssen Interventionen in ihrem Nutzen-Risiko-Verhältnis sorgfältig gegen mögliche Alternativen oder auch Nichtbehandeln abgewogen werden. Dabei spielt die Zusammenarbeit von überweisenden Hauszahnärzten und chirurgischen Spezialisten eine wichtige Rolle, wie dieser Fall zeigt.

Eine 65-jährige Frau wird mit Beschwerden im Kieferwinkel von der behandelnden Zahnärztin zugewiesen. Sie leidet an einer idiopathischen Fazialisparese sowie unter Druckstellen einer frei beweglichen Totalprothese im Unterkiefer. Im Oberkiefer trägt sie eine implantatgestützte, steggetragene Deckprothese.

In der klinischen Untersuchung imponiert extraoral rechtsseitig ein muskulärer Tonusverlust mit Bell‘schem Phänomen sowie intraoral ein hochstehender Mundboden der Gl. sublingualis hinter einem palpatorisch breit wirkenden anterioren Alveolarfortsatz. Im rechten Kieferwinkel findet sich lingual eine suppurierende Fistel (Abbildung 3).

In der Panoramaschichtaufnahme sind beidseits in den aufsteigenden Ästen des Unterkiefers verlagerte Zähne 39, 38, 48 und 49 zu erkennen (Abbildung 1). Der anteriore Alveolarfortsatz erscheint in der zweidimensionalen Projektion ausreichend hoch zu sein.

Zum Ausschluss einer Kieferwinkelfraktur bei verlagertem, doppelt angelegtem und infiziertem Weisheitszahn sowie zur Planung der späteren Rekonstruktion wird ein DVT angefertigt (Mesantis Berlin), das eine dehiszente knöcherne Abgrenzung zum pericoronalen Raum 48–49 im Kieferwinkel rechts mit kariösem Zahn 48 und Konkrement zeigt (Abbildung 4).

Nebenbefundlich ist für die spätere prothetische Rehabilitation in den sagittalen Schnitten zu erkennen, dass sowohl die scheinbare Knochenhöhe des anterioren Alveolarfortsatzes in Projektion der zweidimensionalen Aufnahme als auch die vermeintlich klinisch nutzbare Breite durch eine ‚bandnudelartige‘ diagonale Verdrillung der schmalen Knochenspange in beiden Ebenen nur vorgetäuscht sind (Abbildung 5).

Differenzialtherapeutische Überlegungen

Zur Osteotomie der retinierten Zähne muss weiter Knochen von der dünnen umgebenden ossären Schale im aufsteigenden Unterkieferast abgetragen werden. Eine kaum zu osteosynthetisierende Fraktur wird mit zunehmendem Umfang der Ostektomie immer wahrscheinlicher.

Ein kariöser schmerzender Zahn kann ebenso wie eine purulente Entzündung nicht verbleiben und ist chirurgisch zu sanieren.

Die mobile totale Unterkieferprothese führt zu Druckstellen und ist die wahrscheinliche Ursache für die Schleimhautperforation im rechten Kieferwinkel mit konsekutiver Perikoronitis und Kronenkaries an 48. Um ein ähnliches Geschehen im linken Unterkiefer zu verhindern, ist eine Beseitigung der erheblichen Abstützungsdifferenz in Ober- und Unterkiefer anzustreben und den abhebenden Kräften des Mundbodens entgegenzuwirken. Für die dafür notwendigen zwei bis vier Implantatpfeiler bedarf es zunächst eines Knochentransplantats, für das der Kieferwinkel wegen der zuvor erwähnten kritischen Struktur ausfällt.

Therapie und Verlauf

Nach Lokalbehandlung der akuten Entzündung erfolgt in nasaler Intubationsnarkose (ambulantes MedizinZentrum Lichtenberg, Sana-Klinikum Berlin) die Entfernung des kariösen retinierten Zahns mit Ausräumung der Entzündung. Der blande, hochretinierte Distomolar wird ebenso wie die Zähne der Gegenseite belassen, die Resektionshöhle im rechten Kieferwinkel mit Beckenkammspongiosa verfüllt.

Im anterioren Bereich des Unterkiefers erfolgt eine vestibulo-crestale Verschalung durch schraubenfixierte (Osteosyntheseschrauben Mini 2,0, KLS Martin, Tuttlingen) Beckenkammspäne.

Nach Abheilung und erneutem DVT werden in intravenöser Analogsedation (Operator Side) vier interforaminäre Implantate (Straumann Tissue Level, Straumann, Basel) geplant und geführt inseriert (Labor Rübeling und Klar, Organical Planner, ZTM Daniel Ellmann, Berlin).

Die prothetische Versorgung gestaltet sich dennoch schwierig und erfordert das mechanische Abdrängen des hochstehenden Mundbodens durch die Suprakonstruktion, da eine chirurgische Mundbodenvestibulumplastik in der vorliegenden Situation das vollständige Ablösen der lingualen Muskelansätze bedeuten würde. Gleichzeitig bedarf es einer leicht zu pflegenden Konstruktion für die Patientin und zur professionellen Zahnreinigung.

Die zuweisende Zahnärztin und ihr Zahntechniker können für die Patien­tin trotz dieser widrigen Umstände erstmals eine lagestabile Prothese anfertigen (Prothetik ZÄ Birgit Otto; Labor Artident, ZTM Thomas Hahn, Berlin).

Epikritische Zusammenfassung

Um die akute Gefahr abzuwenden und zur notwendigen Schmerzbehandlung wird mit Entfernung von 48 nur das Notwendigste durchgeführt und zur Vermeidung von Komplikationen auf eine weitere Therapie (Osteotomie von 49, 38 und 39) verzichtet. Zur Prophylaxe eines analogen Geschehens auf der Gegenseite bedarf es einer implantatgetragenen Abstützung. Für den dafür notwendigen Alveolarfortsatzaufbau sind extraorale Knochenspendeareale bei hohem Volumenbedarf und Ausfall einer intraoralen Spenderregion die Methode der Wahl.

Diskussion

Jede einzelne Therapieentscheidung bedarf der Abwägung von Nutzen, Aufwand und Risiken für den betroffenen Patienten. Der Grundsatz, dem Patienten nicht zu schaden, gilt dabei sowohl für die Durchführung als auch für das Ausbleiben einer Therapie – auch wenn letzteres zur Vermeidung eines nicht unerheblichen Therapierisikos erfolgen sollte.

So sollte auch nicht jeder Weisheitszahn wegen seiner puren Existenz entfernt werden, solange dadurch keine Komplikationen zu erwarten sind. Ein zunehmender Knochenabbau kann die Situation jedoch grundlegend verändern und erfordert die Neuabwägung der therapeutischen Optionen. Wenn – wie im vorliegenden Fall – eine lageinstabile Prothese mit hoher Wahrscheinlichkeit für den fortschreitenden Knochenabbau verantwortlich ist, kann der Druckatrophie durch Schaffung einer sicheren Abstützung für die Prothese entgegengewirkt werden.

Für chirurgisch tätige Kollegen und Kolleginnen genügen zum Wiederaufbau des Lagers bei ossären Defiziten oftmals ausreichend groß gewonnene Kieferwinkeltransplantatlamellen. Besteht der Kieferwinkel jedoch selbst nur noch aus einer dünnen Lamelle, ist das Verfahren nicht anwendbar.

Fazit für die Praxis

  • Nicht jeder retinierte Zahn muss entfernt werden.

  • Bei entzündlichen Komplikationen ist eine chirurgische Intervention unvermeidbar.

  • Lagestabile Prothesen erhöhen nicht nur den Patientenkomfort, sondern auch die medizinische Sicherheit.

  • Einfach zu reinigende prothetische Konstruktionen sind wichtig für eine erfolgreiche Periimplantitisprophylaxe.

  • Zweidimensionale Panoramaschichtaufnahmen geben nicht nur in Bezug auf die Breite, sondern auch in Bezug auf die Höhe keine zuverlässige Auskunft über das Rest-Knochenangebot.

  • Freie Beckenkammtransplantate sind im niedergelassenen chirurgischen Bereich in einigen Fällen nach wie vor unverzichtbar.

Eine Maximaltherapie unter stationären Bedingungen mit gefäßgestielten Transplantaten ist nicht jedem Patienten und jedem Fall zugänglich und zuträglich. In den Grenzbereichen ist das freie Beckenkammtransplantat unverzichtbar.

Dr. Dr. Thomas Neisius

Praxis für Mund-, Kiefer- & plastische Gesichtschirurgie
Kieferchirurgie Fischerinsel Neisius & Trömel
Gertraudenstr. 18, 10178 Berlin

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