Aus der Wissenschaft

Das Geschlecht als biologische Variable bei oralen Erkrankungen

Elmar Hellwig
Das wissenschaftliche Interesse an geschlechts- oder weitergehend genderspezifischen Unterschieden in der Betrachtung von Gesundheit und Erkrankungen hat in den vergangenen Dekaden zugenommen. Ein Grund dafür ist die gewachsene Evidenz für den Einfluss geschlechtsspezifischer Eigenheiten auf Gesundheit, molekulare und zelluläre Prozesse und die Prädisposition für Erkrankungen. Die Übersichtsarbeit einer amerikanischen Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit der Frage, ob sich auch bei oralen Erkrankungen geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen lassen.

Die Studie von Linda Sangalli et al. analysiert mehr als 170 Originalarbeiten und es wird eine breite Spanne oraler Erkrankungen – angefangen von Parodontalerkrankungen über orofaziale Schmerzsymptome bis hin zum Risiko für die Kariesentstehung und zur Entstehung periapikaler Läsionen – berücksichtigt.

Man dachte früher, dass es notwendig sei, dass Teilnehmer von klinischen Studien möglichst ähnliche Charakteristika (unter anderem Alter, Geschlecht, Gewicht) aufweisen müssen, um die Varianz der erhobenen Daten zu minimieren. Häufig wurden daher aufgrund der hormonellen Schwankungen keine Frauen berücksichtigt. Damit hätte es sich allerdings verboten, die Ergebnisse der entsprechenden klinischen Studien zu verallgemeinern.

Erst im Jahr 1986 verabschiedeten die National Institutes of Health (NIH) in den USA eine neue Strategie, bei der Frauen ermutigt wurden, an klinischen Studien teilzunehmen. Letztlich wurde auch durch die vermehrte Aufmerksamkeit von offiziellen Förderorganisationen (NIH, Europäische Kommission) der Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Bereich der biomedizinischen Forschung bezogen auf Diagnose, Prävention und Therapie unterschiedlicher Erkrankungen geschärft. Das betrifft auch orale Erkrankungen.

Dabei gilt es zusätzlich zu beachten, dass die Begriffe Geschlecht und Gender nicht das gleiche Phänomen beschreiben und nicht austauschbar sind. Der Begriff „Geschlecht“ kann auf mehreren Ebenen definiert sein, zum Beispiel Zugehörigkeit zu den Kategorien Mann oder Frau mit dem entsprechenden Phänotyp oder Zugehörigkeit zu biologischen Variablen wie Chromosomensatz (XY oder XX), bestimmten Genen beziehungsweise Hormonen, die zu einer unterschiedlichen Funktion des Fortpflanzungssystems führen. Der Begriff „Gender“ beschreibt ein soziales Konstrukt, dass sich auf die individuelle Identität bezieht. Dabei spielen Selbstwahrnehmung und Selbstidentifikation als Ergebnis von kulturellen Einflüssen, sozialem Rollenverhalten und Erwartungen eine Rolle.

In ihrer Übersichtsarbeit behaupten Sangalli et al., sowohl das Geschlecht als auch Gender könnten molekulare und zelluläre Prozesse, Immunantwort und Krankheitsdisposition beeinflussen – für Gender werden allerdings keine eindeutigen Belege angeführt. Es ist dennoch wichtig, sowohl die sozialen und verhaltenstypischen Einflüsse als auch die biologischen, immunologischen und hormonellen Unterschiede bei der Durchführung und Interpretation klinischer Studien zu berücksichtigen.

Auf geschlechtsspezifische Unterschiede zugrundeliegender Zustände und oraler Erkrankungen wird in der Übersichtsarbeit von Sangalli et al. eingegangen. Im Folgenden werden einige Forschungsergebnisse beispielhaft dargestellt. Für die detaillierte Beschäftigung mit diesem Thema sei auf die Originalpublikation verwiesen.

Ergebnisse

Es gibt Untersuchungen, die eine erhöhte Kariesprädisposition für Frauen im Vergleich zu Männern beschreiben, obwohl Frauen häufiger Zähne putzen als Männer. Als Gründe werden die früheren Zahndurchbruchszeiten, Schwangerschaft und der verbesserte Nahrungsmittelzugang mit häufigerem Probieren bei der Zubereitung von Mahlzeiten genannt. Zusätzlich gibt es offensichtlich eine Assoziation von spezifischen Genen, die auf dem X-Chromosom (zum Beispiel BCOR, BCORLI) liegen, zur Amelogenese, zur Speichelfließrate, zu Ernährungsvorlieben und zum oralen Mikrobiom.

Das gilt auch für die Unterschiede im Bereich Parodontitis. Hier sind Gene, die für die Zytokin- und Interleukin-Rezeptoren beziehungsweise für die Transkription und Translation von spezifischen Proteinen kodieren, auf dem X-Chromosom lokalisiert. Für geschlechtsspezifische Hormone lassen sich widersprüchliche Ergebnisse bezüglich der Parodontitisentstehung konstatieren.

Klinisch findet man bei Männern eine höhere Gingivitisprävalenz, vermehrt Zahnstein und Plaque als bei Frauen. Auch die Parodontitisprävalenz ist bei Männern höher als bei Frauen. Dabei spielen natürlich auch Mundhygienegewohnheiten und systemische Erkrankungen eine Rolle. Interessanterweise lässt sich auch in Tierversuchen nachweisen, dass sich bei männlichen Tieren eine erhöhte inflammatorische Antwort gegenüber einer bakteriellen Infektion mit einem erhöhten Risiko für eine schwere Parodontitis zeigt.

Außerdem kommt es durch die Expression spezieller Gene zu einer Modulation der Nozirezeption, die zu einer unterschiedlichen Ausprägung der Schmerzempfindung bei Männern und Frauen beitragen könnte. Hier könnten auch die Gründe für eine unterschiedliche Ausprägung der orofazialen Schmerzsymptomatik bei Craniomandibulärer Dysfunktion (CMD) liegen. Zudem spielen Hormone, das Alter und die unterschiedliche Faserzusammensetzung der Kaumuskeln eine Rolle.

Bezüglich der Entstehung von oralen Karzinomengibt es nach Adjustierung der Verhaltensfaktoren, beispielsweise Alkoholkonsum und Rauchen, ein höheres Risiko für Männer als für Frauen. Das ließ sich auch in Tierversuchen zeigen.

Diskussion

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass zukünftig in klinischen Studien vermehrt geschlechterspezifische Unterschiede berücksichtigt und die Studienpopulationen entsprechend gestaltet werden sollten. Außerdem kritisieren sie, das eine geschlechterspezifische Ausrichtung in Studien nahezu vollständig fehlt. Projekte, die die Auswirkungen personalisierter Interventionen auf die orale Gesundheit beinhalten, sollten daher gefördert werden, um maßgeschneiderte präventive Strategien zu entwickeln.

Um die Hintergründe für eine Forderung nach einer geschlechterspezifischen Forschung noch einmal zu verdeutlichen, sei auf eine Studie zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingewiesen, die im Journal of the American College of Cardiology publiziert wurde. Demnach müssen Frauen deutlich weniger Sport (140 Minuten) treiben als Männer (300 Minuten), um ihr Sterberisiko in gleichem Maß zu senken beziehungsweise die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren [Hongwei et al., 2024]. Dabei wurden 400.000 Amerikanerinnen und Amerikaner über 24 Jahre beobachtet. Als mögliche Ursache dafür führen die Autoren an, dass Frauen eine niedrigere Muskelmasse bei gleichzeitig höherer Gefäßdichte haben. Müssten also die Gesundheitsempfehlungen, beispielsweise der WHO, bezüglich sportlicher Betätigung für Männer und Frauen an dieser Stelle nicht hinterfragt werden?

Fazit

Obwohl seit Langem bekannt ist, dass die biologischen Unterschiede von Frauen und Männern nicht selten in der Prädisposition gegenüber Erkrankungen, in der Prävalenz von Erkrankungen, in der Ausprägung von Symptomen und auch in der Therapie eine gewichtige Rolle spielen können, scheint das auf die Gestaltung des Studiendesigns vieler Forschungsprojekte keinen Einfluss zu haben. Ein Grund mag die Tatsache sein, dass die Klärung, ob geschlechtsspezifische Unterschiede relevant für die Beantwortung der gestellten Forschungsfrage sein könnten, in vielen Fällen überflüssig erscheint. So dürften beispielsweise Studien, die die Haftung von Adhäsivsystemen an Schmelz und Dentin untersuchen, kaum von geschlechtsspezifischen Unterschieden beeinflusst sein. Eine pauschale Forderung nach geschlechterspezifischen Studiendesigns lässt sich demzufolge nicht begründen.

Auf der anderen Seite sollten dort, wo geschlechterspezifische Einflüsse denkbar oder schlüssig erscheinen, die Studiendesigns entsprechend gestaltet werden. Das dient nicht zuletzt der Erhöhung der Aussagekraft der Forschungen.

Genderspezifische Differenzierungen müssten, um für die Gestaltung von Studiendesigns überhaupt nutzbar zu sein, zunächst einmal konkret definiert werden. Das wird wegen der zahlreichen unterschiedlichen Identitäten und Begriffsbeschreibungen, die in der sozialen Debatte auftauchen, sicher kein einfaches Unterfangen. Dass Gesundheit und Krankheit prinzipiell Referenzen in soziale Gruppen haben können, ist lange bekannt – beispielsweise beeinflusst der Bildungsgrad durchaus die Prävalenz verschiedener Erkrankungen. Insofern wäre ein genderspezifischer Impact auf die Biologie grundsätzlich denkbar, Hinweise darauf sind jedoch bestenfalls rar.

Die Studie:
Sangalli, L et al.,: Sex as a Biological Variable in Oral Diseases: Evidence and Future Prospects. J Dent Res 1023, 1395-1416, 2023.

Literaturliste

  • Hongwei Ji, MD et al.: Sex Differences in Association of Physical Activity With All-Cause and Cardiovascular Mortality.J Am Coll Cardiol 83, 783–793, 2024.

Univ.-Prof. (a.D.) Dr. med. dent. Elmar Hellwig

Erzherzogstr. 8,
79102 Freiburg

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