Herzfrequenz, Cortisol und Alpha-Amylase steigen

Schon die Beobachtung von Stress löst Symptome aus

Mit einem innovativen Studiendesign konnten Forschende der Universität Konstanz erstmals placebokontrolliert zeigen, dass schon die Beobachtung einer gestressten Person eine physiologische Reaktionen auslöst, die jedoch geringer ausfällt als die der gestressten Person selbst. Das gilt jedoch nicht immer.

Bestehende Forschungen deuteten bereits darauf hin, dass nicht nur der eigene Stress zu physiologischen Stressreaktionen führt, sondern auch die Beobachtung von Stress bei anderen. Bisher fehlte jedoch ein standardisiertes Paradigma, um eine physiologische Stressansteckung auf der Grundlage einer direkten Stressbeobachtung im Vergleich zu einer aktiven Placebo-Stressbeobachtung zuverlässig zu induzieren.

Forschende des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten der Universität Konstanz entwickelten darum ein standardisiertes, randomisiertes, placebokontrolliertes experimentelles Paradigma, um die physiologische Reaktivität auf direkte Stressbeobachtung zu untersuchen und charakterisierten die Stress­ansteckungsreaktion der wichtigsten endokrinen Stresssysteme, einschließlich der Kinetik der vollen Reaktivität.

Dazu rekrutierten sie gesunde Probanden, die weder gelegentlich noch akut verschreibungspflichtige oder nicht verschreibungspflichtige Medikamente einnahmen und frei von bekannten psychiatrischen oder somatischen Erkrankungen waren. Weitere Ausschlussmerkmale waren regelmäßige übermäßige körperliche Betätigung, Rauchen und illegaler Drogenmissbrauch. Die Teilnehmer verzichteten 24 Stunden vor der Studienteilnahme auf jegliche Art von Sport und Alkoholkonsum. Darüber hinaus wurden sie angewiesen, koffeinhaltige Getränke und flavonoidhaltige Lebensmittel am Studientag zu vermeiden.

Das Test-Setting: ein simuliertes Vorstellungsgespräch

Die Rekrutierung erfolgte über Online- und Offline-Anzeigen an der Universität Konstanz sowie an der Hochschule Konstanz. Alle Teilnehmer erhielten eine finanzielle Entschädigung in Höhe von zehn Euro pro Stunde. Nach dem Zufallsprinzip wurden die Testpersonen einer angepassten Version des Trierer Social Stress Tests unterzogen („TSST-Teilnehmer“, n = 20), der wiederum von einer zufälligen Auswahl von „Stressbeobachtern“ (n = 36) beobachtet wurde. Die Kontrollgruppe bildeten die „Placebo-Stress-Beobachter“, n = 30), die eine Placebo-Stress-Kontrollbedingung beobachten. Während der Stress- beziehungsweise Placebo-Stressbeobachtung wurden die Herzfrequenz, die Alpha-Amylase sowie Cortisol und Aldosteron im Speichel gemessen.

„Vertrautheit und Sympathie spielen vermutlich eine Rolle“

Im Gespräch zeigen die beiden Autorinnen Alisa Auer und Lisa-Marie Walther auf, wie unverstanden viele Aspekte der Stressübertragung noch sind, welche Faktoren darüber entscheiden, ob es zur Stressansteckung kommt, und welche Auswirkungen diese auf die einzelne Person und auch Gruppen hat.

Frau Auer, Frau Walther, was bedeuten die Studienergebnisse für Arbeitskontexte in Kleingruppen wie Teams in Zahnarztpraxen oder Tandem-Konstellationen von zwei Personen, wie einem behandelnden Arzt / einer Ärztin und seiner/ihrer Assistenz?

Alisa Auer: Wir gehen davon aus, dass diese Stressübertragungsprozesse auch einen Einfluss auf Teamdynamiken haben – beispielsweise darauf, wie Personen miteinander interagieren oder wie Entscheidungen getroffen werden. Bisher können wir jedoch nur spekulieren, wie dieser Einfluss aussieht. Der Grund ist, dass wir bei unserer Studie ein sehr passives Setting hatten, das keine Interaktion zwischen den Personen erlaubte. Das ist im Arbeitskontext natürlich komplett anders, weil die Akteure miteinander interagieren. Wie genau sich das auswirkt, muss jetzt in einem nächsten Schritt wissenschaftlich untersucht werden.

Offensichtlich neigen nicht alle Menschen gleichermaßen zu Stressansteckungsreaktionen, in ihrer Studie traf dies nur bei 46 Prozent der Testpersonen zu. Haben Sie eine Vermutung, welche Parameter entscheidend sein könnten?

Lisa-Marie Walther: Ja, es gibt schon erste Untersuchungen, was modulierende Faktoren sein können. Man geht davon aus, dass die Stressübertragung dadurch ausgelöst wird, dass der beobachtete emotionale Zustand einer anderen Person eine neuronale Repräsentation für den Zustand im Gehirn des Betrachters aktiviert. Dadurch starten automatisch physiologische Prozesse, die mit diesem Zustand in Verbindung stehen. Die bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass aufseiten des Betrachters das Bekanntheitsverhältnis zwischen den beiden Personen und damit die Vertrautheit mit dem beobachteten Stresszustand eine Rolle spielt, ebenso das Ausmaß an auf Stresszustand hinweisenden Informationen und die Empathiefähigkeit. Darüberhinaus sind weitere Parameter denkbar, beispielsweise wie gut eine Person im Erkennen von Emotionen ist oder ob die beobachtete Person dem Beobachter sympathisch ist.

Kann die gestresste Person aktiv die Ansteckung Dritter vermeiden – etwa indem sie ihr eigenes Stressempfinden verbalisiert?

Auer: Wahrscheinlich nicht. Die Aktivierung mentale Repräsentation passiert ja eher unbewusst. Stressübertragung ist eine Folge nonverbaler Kommunikation, mit der wir unterschwellig Hinweisreize geben und so bei anderen Personen den „Fight or flight“-Modus auslösen, um beim Gegenüber schon einmal im moderaten Maß Energie zu mobilisieren.

Walther: Welchen Einfluss Mechanismen haben, die bei eigenem Stress hilfreich sein können, etwa das von Ihnen angesprochene Verbalisieren, ist völlig offen. Da gibt es noch viel Forschungsbedarf.

Ist denn davon auszugehen, dass Stressansteckungsreaktionen vergleichbare gesundheitliche Auswirkungen haben wie der Stress der originär betroffenen Person selbst?

Auer: Davon gehen wir nicht aus, weil die rein durch Übertragung ausgelöste Reaktion im Vergleich zur primären Stressreaktion relativ schwach ist. Wenn wir jedoch in der Situation interagieren, kann es natürlich sein, dass zu dieser rein passiven Ansteckungsreaktion selbst empfundener Stress hinzukommt, etwa weil das Gegenüber kürzer angebunden ist. Ärger darüber wiederum kann dann zu stärkeren Reaktionen führen, aber das sind alles noch Spekulationen.

Ein Detailergebnis ist spannend. So stieg die Herzfrequenz bei den mit Stress angesteckten Personen zeitverzögert. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Walther: Neben „Fight or flight“ gibt es als gängige Stressreaktion ja auch den ebenfalls unwillkürlichen „Freeze“-Modus, in dem der Gestresste abwartet, was passiert. Da ist es möglich, dass die Ansteckungsreaktion in vollem Umfang erst auftritt, wenn die Unsicherheit der Situation nach dem Ende der Beobachtung aufgelöst wird.

Das Gespräch führte Marius Gießmann.

Das TSST-Verfahren umfasst simuliertes Vorstellungsgespräch von fünf Minuten Länge, gefolgt von einer Kopfrechenaufgabe (ebenfalls fünf Minuten) vor einem Bewertungsgremium in weißen Kitteln. Um eine direkte Stressbeobachtung zu ermöglichen, bestand das Bewertungsgremium aus bis zu drei Stressbeobachtern, die als Bewerter getarnt waren, zusätzlich zu einem Panelmitarbeiter, der den Test leitete.

Die Stressbeobachter wurden angewiesen, die folgende Situation sorgfältig zu beobachten und währenddessen einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Zusätzlich wurden sie gebeten, ihre eigenen Gefühle, Gedanken und körperlichen Erfahrungen während der Beobachtung aufzuschreiben und die Augenfarbe des TSST-Teilnehmers zu notieren, um Augenkontakt zu gewährleisten.

Um potenziellen Antizipationsstress zu vermeiden, der aus der Angst entsteht, selbst in die Testsituation zu geraten, und um sich nur auf die Beobachtung konzentrieren zu können, wurden die Stressbeobachter explizit darauf hingewiesen, dass sie nicht selbst in die Situation des TSST-Teilnehmers geraten würden.

Antizipationsstress wurde gezielt ausgeschaltet

In der Kontrollbedingung beobachteten die Placebo-Stress-Beobachter einen männlichen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, der eine emotional neutrale Geschichte von fünf Minuten Länge vorlas, gefolgt von einer einfachen Kopfrechenaufgabe – auf beide Aufgaben hatte sich der Mitarbeiter intensiv vorbereitet, um keinerlei Stresssymptome zu zeigen. Die Speichelmessungen erfolgten zu fünf beziehungsweise sieben Zeitpunkten: Alpha-Amylase (sAA) jeweils − 10, + 1, + 10, + 20, + 120 Minuten und Cortisol und Aldosteron − 10, + 1, + 10, + 20, + 30, + 45, + 120 Minuten vor beziehungsweise nach dem Test. Die Herzfrequenz (HR) wurde mittels Brustgurten kontinuierlich erfasst.

Ergebnisse: Stressbeobachter zeigten eine höhere Cortisol-, sAA- und HR-Reaktivität als die Personen aus der Placebogruppe. "Dadurch, dass sekundäre Effekte des Beobachtungssettings und der Beobachtungsaufgabe kontrolliert wurden, deuten die Ergebnisse nach der Bewertung der Forschenden darauf hin, dass die beobachteten physiologischen Reaktionen von Speichelcortisol, sAA und HR, die als Reaktion auf die Stressbeobachtung beobachtet wurden, spezifisch auf die direkte Stressbeobachtung zurückzuführen sind. Lediglich beim Speichel-Aldosteron gab es keine Unterschiede in der Reaktivität auf die Stressbeobachtung im Vergleich zur Placebo-Stress-Beobachtung.

Die Responder-Raten von Stressbeobachtern, also der Prozentsatz von Personen, die einen physiologisch signifikanten Anstieg des Cortisols (≥ 1,5 nmol/l) zeigten, lag bei 41,6 Prozent und damit deutlich höher als in bisherigen Studien, die eine nicht-direkte Beobachtung mittels Einwegspiegel oder per Video getestet hatten. Hier lagen die Responder-Raten bei 30 beziehungsweise zwischen 16 und 24 Prozent.

Effekt auf Herzfrequenz tritt zeitverzögert auf

Während die Reaktivität der Stressbeobachter in Bezug auf Cortisol und sAA direkt die Reaktivität der Stresstest-Teilnehmenden widerspiegelte, zeigte sich die Herzfrequenzsteigerung der Stressbeobachter zeitverzögert. Die HR-Stressreaktivität der gestressten Teilnehmenden war während des Tests am stärksten, während sie sich bei den Stressbeobachtern während der Stressbeobachtung nicht veränderte, aber nach Beendigung deutlich anstieg.

Die Forschenden sehen weiteren Forschungsbedarf, um zu untersuchen, ob möglicherweise eine häufige Stressansteckung – etwa in Umgebungen mit chronisch gestressten Arbeitskollegen oder Familienangehörigen – in der Lage ist, maladaptive Folgen für die Gesundheit zu induzieren, wie sie bei Stressexposition aus erster Hand beobachtet werden. Außerdem sei offen, welche Auswirkungen Stressansteckung auf die kognitive Prozesse hat und welche Aspekte darüber entscheiden, ob es zu einer Stressansteckung kommt oder nicht.

Alisa Auer, Lisa-Marie Walther et al.: Is your stress my stress? A standardized, randomized-controlled paradigm to study physiological stress contagion based on direct stress observation, Psychoneuroendocrinology, Volume 162, 2024, 106964, ISSN 0306-4530, https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2024.106964.

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