„Patienten mit speziellen Bedürfnissen gehören zum zahnärztlichen Alltag!“
Herr Prof. Filippi, welche Patientinnen und Patienten zählen zu den Special Needs? Wie häufig ist mit ihnen zu rechnen?
Prof. Dr. Andreas Filippi: Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass ungefähr zehn Patienten pro Woche in die Zahnarztpraxis kommen, die besondere Aufmerksamkeit und Maßnahmen brauchen. Es geht um diejenigen, bei denen man nicht „einfach drauf los behandeln“ kann. Das betrifft neben Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen viele weitere, wie Patienten mit psychischen oder chronischen Erkrankungen in Akutphasen, die häufig Mundtrockenheit haben, Menschen mit Essstörungen, deren Zähne oft stark geschädigt sind.
Dann gibt es Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Traumata, Zahnarztangst oder ausgeprägtem Würgereiz, Multiallergiker oder generell Patienten unter Polypharmazie. Ebenso Schwangere, Ältere, Immobile, die man nicht einfach auf den Behandlungsstuhl bitten kann oder demenziell Erkrankte, die Informationen und Instruktionen nicht verstehen. Schließlich gibt es noch Patienten, bei denen der Zahnarzt aus religiöse Gründen beispielsweise auf das Knochenersatzmaterial oder die verwendeten Membranen achten muss.
Zudem gibt es Menschen, die Metall-frei behandelt werden möchten. Wer kein Deutsch oder Englisch spricht, braucht einen Übersetzer. Ich würde auch Ausdauersportler und Menschen mit selektiven Ernährungsweisen dazu zählen, deren Trink- beziehungsweise Ernährungsgewohnheiten sich auf die Zahngesundheit auswirken können. Patienten mit speziellen Bedürfnissen sind in den letzten Jahren keinesfalls weniger geworden. Sie gehören damit über spezialisierte Praxen hinaus zum zahnärztlichen Alltag.
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Prof. Dr. Andreas Filippi ist Leiter der Klinik für Oralchirurgie Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel (info@andreas-filippi.ch). In seinem Buch „Die zahnmedizinische Behandlung von Menschen mit Special Needs“ von 2024 gibt er Tipps für die Behandlung von Patienten mit besonderen Bedürfnissen.
Vor welchen Herausforderungen stehen Zahnärzte bei deren Behandlung?
Das sind vor allem Kommunikationsprobleme bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen, aber eben auch die Herausforderungen an die Infrastruktur der Praxen – Stichpunkt Mobilität und Barrierefreiheit. Auch können Interaktionen mit zahnmedizinischen Medikamenten auftreten, wenn Patienten polypharmaziert sind. Bei Schwangeren müssen einige Besonderheiten berücksichtigt werden, unter anderem die Themen Ibuprofen und Vena-cava-inferior-Syndrom (VCIS). Und dann gibt es Menschen mit Assistenzhunden oder Patienten im (Elektro-)Rollstuhl, bei denen man für Diagnostik und Therapie für alle Beteiligten eine Möglichkeit schaffen muss, dies bequem durchführen, etwa mithilfe eines Rutschbretts oder dem Wheelchair Recliner.
Das alles stellt besondere Anforderungen an das Know-how einer zahnärztlichen Praxis, ebenso wie an das Praxismanagement mit Zeit und Logistik. Am Ende spielt auch das Vergütungssystem in Deutschland eine Rolle, das nicht weit genug gefasst ist für den möglichen Mehraufwand bei der Behandlung von Patienten mit Special Needs.
Wie können sich Zahnärzte und ihre Teams vorbereiten, um patientengerecht zu arbeiten?
Es geht um eine andere Patientenführung bei betroffenen Menschen, über die man sich entsprechend informieren sollte. Für die wichtigsten Voraussetzungen halte ich Empathie und den Willen, auch Patienten, die anstrengender und eventuell auch herausfordernder sind, zahnärztlich zu betreuen. Meiner Meinung nach gehört das zum Berufsethos, denn die betroffenen Menschen sind Teil unserer Gesellschaft. Wir sollten uns ihnen zuwenden, statt sie schnell irgendwohin zu überweisen.
Konkret muss oftmals mehr Zeit eingeplant werden, eventuell auch mehr Pausen. Behandlungen sind vielleicht nur in kleineren Schritten möglich. Auch die Kommunikation ist häufig zeitintensiver, redundantes Erklären kann erforderlich werden. Bedarf es eines Übersetzers bei sprachlichen Problemen? Beherrscht die Praxis die Leichte Sprache oder hat sie Erklärtafeln mit Piktogrammen? Welche Maßnahmen können zur Stressreduktion beitragen? Es hilft bereits, wenn Sie Verständnis signalisieren und Hilfe anbieten. Wie ist die angenehmste Lagerung auf dem Behandlungsstuhl für Schwangere oder Patienten mit rheumatoider Arthritis? Sind spezielle Instrumente oder Materialien erforderlich, etwa wegen der Religion, multiplen Allergien oder dem Wunsch nach Metallfreiheit? Ist eine Behandlung in Lokalanästhesie überhaupt möglich? Zentral für eine sichere und erfolgreiche Behandlung ist eine gute Anamnese. Hier können die Bezugspersonen weiterhelfen, aber auch die betreuenden Ärztinnen und Ärzte. Ich rate jedenfalls dazu, diese so weit wie möglich einzubinden. Das beruhigt die Patienten meist spürbar.
Die Zusammenarbeit mit Angehörigen, Betreuern, Ärztinnen und Ärzten oder Pflegepersonal ist grundsätzlich wichtig. Nicht wenige Special-Needs-Gruppen brauchen eine Vertrauensperson oder einen Vormund – gerade die demenziell Erkrankten, die sich am ehesten noch an Angehörige erinnern, die sie sehr lange kennen. Neben dem Besuch in der zahnärztlichen Praxis und den zahnärztlichen Bemühungen sollte auch kontrolliert und sichergestellt werden, was zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung bezüglich Mundhygiene und Ernährung passiert. Auch hier gibt es Möglichkeiten, so etwas anzuleiten oder zu unterstützen.
Wo können sich die Praxen informieren?
Es gibt Fortbildungen zum Thema, die in der Regel für die großen Special-Needs-Gruppen einen Überblick geben – beispielsweise für die Behandlung von Senioren, psychisch Erkrankten oder Menschen mit allgemeinmedizinischen Risiken. Dann gibt es aktuelle Literatur mit vielen Tipps und Tricks für die tägliche zahnärztliche Praxis. Netzwerke wie Study Clubs tauschen sich gegebenenfalls tiefgreifender aus. Ich würde davon abraten, einfach nur zu googeln. Die Ergebnisse sind oftmals zu oberflächlich. Wenn man KI involvieren möchte, dann mindestens das Tool Perplexity, da dort die Quellen angegeben sind. Außerdem kennen sich Selbsthilfegruppen für Betroffene in der Regel sehr gut aus und kennen oft auch spezialisierte Praxen.
Wo sind die Grenzen?
Merkt man, dass die Versorgung eines Special-Needs-Patienten die Möglichkeiten der eigenen Praxis übersteigt, darf und muss man ihn überweisen. In der Regel gibt es in jeder Großstadt spezialisierte Kolleginnen und Kollegen sowie (Universitäts-)Zahnkliniken. Als Zahnärztin oder als Zahnarzt kann man nicht in allen Bereichen oder für alle Patientengruppen gleich fit sein. Aber man sollte sich schon immer wieder mal updaten – das Thema ist in den letzten Jahren in die Mitte der Gesellschaft gerückt und deutlich wichtiger geworden.
Wo sehen Sie Lücken in der Versorgung?
Ich denke eine flächendeckende Versorgung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen existiert nicht. Angehörige müssen oft weite Anreisen zu spezialisierten Praxen oder Zentren auf sich nehmen, was bedauerlich und für die Betroffenen herausfordernd ist.
Welche Verbesserungen wären hier sinnvoll?
Ein Problem ist sicher der nicht adäquat abzudeckende Mehraufwand bei der Behandlung von Menschen mit Special Needs. Da sollte nachgebessert werden – gerade auch, weil die Zahl der betroffenen Patienten stetig zunimmt. Für Betroffene und deren Angehörige gibt es Stiftungen und Selbsthilfegruppen, die beraten können, wie es zusätzliche finanzielle Unterstützung geben kann. Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die oft ein wenig durch das zahnmedizinische Raster fallen, eine spezialisierte Zahnarztpraxis in ihrer näheren Umgebung finden können, die über die Empathie und das erforderliche Know-how verfügt, hier die Betreuung zu übernehmen.
Das Gespräch führte Laura Langer.




