Mangelndes Gesundheitsverhalten und ineffektives Gesundheitssystem

19 Prozent der Todesfälle in Deutschland sind vermeidbar

pr
In vielen Regionen Deutschlands haben die Menschen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als in deutschsprachigen Regionen in Österreich, der Schweiz und Italien. Forscher haben herausgefunden, woran das liegt.

Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne hat erstmals Berechnungen zur vermeidbaren Sterblichkeit für mehr als 100 Regionen im deutschsprachigen Raum vorgelegt. Das Ergebnis: Zu diesem Rückstand tragen offenbar in erheblichem Maß Todesfälle bei, die durch ein besseres Gesundheitsverhalten der Bevölkerung und ein effektiveres Gesundheitssystem vermieden werden könnten.

Demzufolge gibt es bei vermeidbaren Sterbefällen ein beträchtliches Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle. So ist die Lebenserwartung besonders stark in Ostdeutschland verringert, vor allem in Vorpommern und Sachsen-Anhalt – trotz großer Fortschritte, die hier seit der Wiedervereinigung erreicht wurden. Aber auch einige vom Strukturwandel geprägte Regionen in Westdeutschland wie Ostfriesland, das Ruhrgebiet und das Saarland weisen laut Studie eine ähnlich hohe vermeidbare Sterblichkeit auf.

Die geringste Zahl an vermeidbaren Todesfällen verzeichnen laut Studie dagegen die Schweiz und Südtirol, gefolgt vom Westen Österreichs und dem Süden Deutschlands. In Österreich gibt es demnach ähnlich wie in Deutschland ein Ost-West-Gefälle zulasten des Ostens, mit der höchsten vermeidbaren Mortalität in Wien. Dagegen sind die regionalen Unterschiede in der Schweiz vergleichsweise gering, schreiben die Autoren.

„Obwohl der Süden Deutschlands mit der Metropolregion München und dem südlichen Baden-Württemberg im innerdeutschen Vergleich relativ gut dasteht, ist die vermeidbare Sterblichkeit in der Schweiz und in Südtirol noch einmal merklich niedriger“, resümiert Studienleiter Dr. Michael Mühlichen vom BiB. Dabei sei der Abstand zur Schweiz und Südtirol in den letzten Jahren sogar noch gewachsen. „Insofern besteht in allen Regionen Deutschlands noch Potenzial, vermeidbare Todesfälle zu reduzieren."

Deutschland habe aber nicht nur bei vermeidbaren Todesfällen einen Nachholbedarf gegenüber seinen südlichen Nachbarn. „Auch bei der Sterblichkeit im höheren Alter, vor allem im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zeigen sich Defizite", betont sein Kollege Dr. Pavel Grigoriev, Mitautor der Studie. Die hohe Zahl an vermeidbaren Todesfällen stehe dabei im Kontrast zu den Ausgaben im Bereich der Gesundheitsversorgung, die im weltweiten Vergleich pro Kopf mit am höchsten sind.

Die Prävention muss besser greifen

Die Autoren sehen Verbesserungsbedarf bei Präventionsmaßnahmen und -politik, um gesundheitsschädigendes Verhalten wie etwa Rauchen, Alkoholmissbrauch wirkungsvoller einzudämmen. Auch bei der Früherkennung und deren adäquater Inanspruchnahme hinke Deutschland hinterher. Viele Behandlungen setzten spät an, wenn Erkrankungen schon stark fortgeschritten seien, heißt es.

Als vermeidbar haben die Studienautoren Todesfälle eingeordnet, die auf Basis des aktuellen Stands des medizinischen Wissens durch beispielsweise Vorbeugung oder eine optimale Behandlung zu verhindern gewesen wären. Nur Todesfälle bei Menschen zwischen null und 75 Jahrenwurden als vermeidbar eingestuft. Zwischen 2017 und 2019 betrug der Anteil der vermeidbaren Todesfälle an allen Sterbefällen in Deutschland 19 Prozent, wie es in der Studie heißt. Dies sei erheblich, da ein Großteil der Sterbefälle im Alter ab 75 Jahren erfolgt.

Die Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollte im Fokus stehen

Bereits in einer Studie aus dem April hatten Forschende des Max-Planck Instituts (MPI) in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) die Lebenserwartung in Deutschland und sechs ausgewählten Ländern mit hohem Einkommen (Schweiz, Frankreich, Japan, Spanien, Vereinigtes Königreich und USA) untersucht.

Mit demselben Ergebnis:Die Lebenserwartung in Deutschland liege weit unter dem, was für ein wohlhabendes, westeuropäisches Land zu erwarten sei, und das schon seit langem. 2019 lag Deutschland im Vergleich der Lebenserwartung von Männern demzufolge auf Platz 14 von 15 „alten“ EU-Mitgliedstaaten, knapp vor Portugal. Bei der Lebenserwartung von Frauen lag Deutschland auf Platz 13 von 15, vor dem Vereinigten Königreich und Dänemark. Seit der Wiedervereinigung sei der Abstand zu den weltweiten Spitzenreitern in Sachen Lebenserwartung, wie Japan oder der Schweiz, bei etwa drei bis vier Jahren stehen geblieben, berichteten die Studienautoren.

„Es liegt auf der Hand, dass Deutschland sich in erster Linie auf die Bekämpfung der sehr hohen Belastung durch vorzeitige Erkrankung und Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzentrieren sollte. Dazu müsste Deutschland seine gesundheitspolitischen Maßnahmen und Präventionsbemühungen verstärken und die Effizienz der Primärversorgung insgesamt erhöhen", bilanzierten die Forscher.

Mühlichen, Michael; Lerch, Mathias; Sauerberg, Markus; Grigoriev, Pavel (2023) Social Science & Medicine 329(115976): 1–17. DOI: 10.1016/j.socscimed.2023.115976.

Jasilionis, D., van Raalte, A.A., Klüsener, S. et al. The underwhelming German life expectancy. Eur J Epidemiol (2023). doi.org/10.1007/s10654-023-00995-5

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