20 Jahre Giftnotruf in Erfurt
Der Giftnotruf wurde vor 20 Jahren für Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gegründet. Welche Vorteile hat eine Vier-Länder-Einrichtung?
Hentschel: Ein Giftinformationszentrum muss 24 Stunden rund um die Uhr als Notruf erreichbar sein. Jedes Land kommt eine eigene Lösung wesentlich teurer als eine gemeinsame Zentrale für vier Länder für knapp zehn Millionen Einwohner.
Seit zehn Jahren kooperieren wir zudem beim Nachtdienst mit dem Zentrum Göttingen für Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen, ab September auch mit dem Zentrum für Baden-Württemberg. Wir können so vom Standort Erfurt günstig Beratungen anbieten. Ein weiterer Vorteil: Bei Telefon- oder Computerausfällen kann leicht von einem Zentrum auf das andere umgeschaltet werden.
Welche Schwerpunkte der Beratung gab es zu Beginn 1994 und wie haben sich die Anforderungen seitdem verändert?
Anfangs hatten wir 5.000 Anfragen pro Jahr, jetzt fast 22.000, also mehr als das Vierfache. Das hat natürlich etwas mit der Bekanntheit zu tun. Aber es ist offensichtlich auch Ausdruck für mehr Beratungsbedarf etwa bei Vergiftungsunfällen im häuslichen Umfeld. Gestiegen ist die Zahl der Selbstvergiftungen Erwachsener mit Arzneimitteln und die der Drogennotfälle.
Vergiftungsgefahr lauert fast überall - jetzt im Frühling bei Frühblühern, aber auch bei Pilzen und Tieren. Welche Aussichten auf Erfolg haben Aufklärung und Prävention?
Alle präventiven Ansätze haben aus unserer Sicht nur begrenzte Wirkung. Nach 20 Jahren habe ich den Eindruck, jede Generation muss wieder neu lernen oder hat es nach einem Jahr wieder vergessen. Es sind immer wieder die gleichen Fehler. Im Frühling wird Bärlauch mit Herbstzeitlosen, Maiglöckchen oder Aronstab verwechselt, im Sommer und Herbst ist es Unkenntnis über giftige und essbare Pilze. Oft ist es auch Unachtsamkeit, die zu Vergiftungen führt, etwa wenn Substanzen ohne Bezeichnung in Flaschen gefüllt werden und niemand später weiß, was drin ist.
Was bereitet Ihnen Sorge?
Der Missbrauch von Alkohol und Drogen bei Kindern und Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren. Es vergeht praktisch kein Tag, an dem nicht ein Notfall bei Koma-Saufen oder Stimulanzien wie Crystal zu beraten ist. Schwerpunkt ist Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Sie werden auf eine neue Gefahr bei einem neuen Produkt aufmerksam. Welche Möglichkeiten haben Sie dagegen vorzugehen?
Die Giftinformationszentren sind "Signalgeber". Neben der Öffentlichkeit machen wir das Bundesinstitut für Risikobewertung auf Gefahren aufmerksam. Die Maßnahmen können bis zur Marktrücknahme von gefährlichen Produkten führen. Uns beschäftigen derzeit konzentrierte Flüssigwaschmittel in wasserlöslichen Folien, sogenannte Caps. Wenn diese von Kleinkindern gelutscht oder aufgebissen werden, können sie schlagartig Erbrechen auslösen und beim Eindringen in die Atemwege zu Lungenentzündungen führen.
Sie bekommen einen Notruf. Welchen Rat können Sie Menschen in Notsituationen und Helfern grundsätzlich geben?
Nicht in Panik geraten und nichts Unüberlegtes tun. Das Auslösen von Erbrechen ist in der Regel nicht zielführend. Wenn erkennbar Lebensgefahr etwa bei Atemstillstand oder Krämpfen besteht, immer zuerst über die 112 den Rettungsdienst anrufen. Der Notarzt entscheidet dann, ob eine Anfrage im Giftinformationszentrum erforderlich ist.
Wenn keine Lebensgefahr besteht, ist es wichtig, dem Giftnotruf möglichst genau zu berichten, was sich ereignet hat. Nur so ist es möglich, die tatsächliche Gefährdung rasch einzuschätzen und daraus diagnostische und therapeutische Maßnahmen abzuleiten. Wir können nur Ratschläge und Empfehlungen geben. Die Verantwortung für die Behandlung liegt in jedem Fall bei dem, der anruft.
Helmut Hentschel leitet seit 20 Jahren das Giftinformationszentrum für vier ostdeutsche Länder in Erfurt. Er wurde im Dezember 1951 geboren und studierte Humanmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Danach machte er seinen Facharzt in Pharmakologie und Toxikologie. Bis 1990 arbeitete er in einem pharmakologischen Institut an der Medizinischen Akademie in Erfurt. 1991 begann Hentschel das länderübergreifende Zentrum aufzubauen. Es dauerte fast drei Jahre bis alle Absprachen und Verträge unter Dach und Fach waren.
Das Interview führte Antje Lauschner, dpa