"Auch die Chancengleichheit beginnt im Mund"

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Gesellschaft
Andreas Dietze ist neuer Chef der LAG Berlin. "No-Go-Areas" gibt es aus seiner Sicht in der Hauptstadt nicht, Problembezirke aber schon, auch was die Zahngesundheit betrifft. Im Interview spricht er über renitente Kitas, Dauernuckler und die Arbeit der LAG.

zm-online: Herr Dietze, Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, den Kariesbefall an Milchzähnen zu senken. Klappt das?

Andreas Dietze:Die gerade aktuell erschienene Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie belegt die erfreuliche Tendenz, dass die Zahn- und Mundgesundheit der Kinder in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden ist. So hat sich die Zahl kariesfreier Gebisse in den Jahren 1997 bis 2014 praktisch verdoppelt.

Auch bei den Berliner Kindern und Jugendlichen stellt sich die Entwicklung der Mundgesundheit in weiten Bereichen nach wie vor positiv dar. Die Höhe des Anteils der kariesfreien Gebisse hat sich im Vergleich der letzten Jahre bei den Berliner Kitakindern und Schülern kontinuierlich verbessert. Trotzdem ist bei Kindern im Kitaalter nach wie vor noch ein viel zu hoher Anteil an behandlungsbedürftigen Zähnen festzustellen.

Frühkindliche Karies: "Wir müssen unsere präventiven Maßnahmen verstärken"

Ich bin auf das Ergebnis der neuen epidemiologischen Begleituntersuchung der Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) gespannt. Die DAJ führt beginnend vom Schuljahr 2015/2016 eine Neuauflage der Untersuchungen zur Gruppenprophylaxe in sämtlichen Landesarbeitsgemeinschaften durch. Wenn die Ergebnisse vorliegen, wissen wir, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder ob wir neue Wege gehen müssen.

Unabhängig davon, kommt der frühkindlichen Karies eine besondere Bedeutung zu. Hier müssen wir unsere präventiven Maßnahmen verstärken, dem Dauernuckeln entgegenwirken sowie über die adäquate Art der durstlöschenden, zuckerfreien Getränke im Kinder- und Jugendalter aufklären.

Die Politik gibt in Abständen sogenannte „No-Go-Areas“ für Berlin an, etwa das Kottbusser Tor – können Sie Mundgesundheits-Problemkieze benennen?  

Ich denke, dass die Formulierung „No-Go-Area“ etwas überspitzt formuliert ist, diese gibt es in Berlin sicher nicht. Es gibt aber in Berlin, wie in anderen Großstädten auch, leider einige soziale Brennpunkte, die sich zum Beispiel dadurch auszeichnen, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung Transferleistungen erhält. Diese Bereiche können dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung entnommen werden.

Wir müssen feststellen, dass in den Schulen und Kitas in diesen Bereichen häufig Kinder mit deutlich schlechterer Zahngesundheit anzutreffen sind als in sozial besser gestellten Gegenden. Der Zusammenhang von Armut und der Zahn- und Mundgesundheit wurde in vielen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Die LAG Berlin arbeitet auf der Basis eines bedarfsorientierten Prophylaxekonzepts, sprich die personellen und sächlichen Ressourcen werden dort intensiver eingesetzt, wo der Kariesbefall besonders hoch ist.  

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Gruppenprophylaxe: "Eltern und Erzieher müssen stärker einbezogen werden"

Seit dem Sommer 2013 haben Kinder ab dem ersten Geburtstag einen Anspruch auf einen Kitaplatz. Werden sie über die Gruppenprophylaxe auch schon angesprochen?

Für die LAG Berlin entsteht dadurch keine neue Situation. In der DDR waren die Kinder in der Vergangenheit deutlich früher in der Kita, als in der „alten“ Bundesrepublik. In Berlin haben sich die Verhältnisse diesbezüglich in den westlichen und östlichen Bezirken schon seit einigen Jahren angeglichen, so dass die gruppenprophylaktische Betreuung von Kindern unter drei Jahren bereits zur „normalen“ Arbeit der Mitarbeiterinnen der LAG gehört.

Klar ist, dass man hier einen anderen Ansatz verfolgen muss. Die Eltern sowie die Erzieherinnen und Erzieher müssen hier stärker eingebunden werden. Ich begrüße es daher, dass die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege aktuell eine „Erweiterte Empfehlungen zur Prävention frühkindlicher Karies im Rahmen der Gruppenprophylaxe“ veröffentlicht hat, die sich dieser Thematik annimmt und die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit den Multiplikatoren deutlich macht.

Und welche Erfahrungen haben Sie hier gemacht?

Die Erzieherinnen und Erzieher ebenso wie die Eltern sind an dem Thema sehr interessiert und wissbegierig. Hier gelingt es immer wieder, mit einigen „Mythen“ zum Thema Milchzähne aufzuräumen. So ist zum Beispiel die Ansicht, dass die Zahngesundheit des Milchgebisses nicht so wichtig sei, da schließlich noch weitere Zähne kommen würden, immer wieder anzutreffen. Die LAG informiert zusammen mit den Zahnärztlichen Diensten der Bezirke über die Wichtigkeit eines gesunden Milchgebisses auch im Rahmen von Elternabenden oder Öffentlichkeitsveranstaltungen.

Leider kommen nicht alle Eltern zu den Elternabenden. Gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund spielt die Sprachbarriere nicht selten eine große Rolle. Hier ist es wichtig, diese durch niederschwellige Angebote zu erreichen. Die LAG nimmt zum Beispiel Kontakt mit Stadtteilmütterprojekten auf, um diese Teilnehmerinnen, die selber einen Migrationshintergrund haben, als Multiplikatoren zu schulen.

Auch verteilen wir eine sehr gute Broschüre, die vom Land Berlin entwickelt wurde. Diese gibt es jetzt in 19 Sprachen und enthält die Kernbotschaften für gesunde Milchzähne und erklärt unsere KAI-Zahnputzmethode.

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Fluoridiertes Speisesalz: "Die Genehmigungshürden sind so hoch, dass der Einsatz unmöglich ist"

Der grundsätzliche Einsatz von fluoridiertem Speisesalz ist in der Kita- und Schulverpflegung nicht erlaubt. Inwiefern berät die LAG zu diesem Thema?

Ich finde es sehr bedauerlich, dass in der Gemeinschaftsverpflegung die Verwendung von fluoridiertem Speisesalz bislang nur mit Ausnahmegenehmigung möglich ist. Die Genehmigungshürden sind allerdings so hoch, dass der Einsatz für die meisten Großküchen wie in Betriebskantinen, Schulen und Kitas de facto unmöglich ist.

Ich habe an der Sitzung des Forums Zahn- und Mundgesundheit Deutschlands im Juni in Berlin teilgenommen, wo ganz klar der Nutzen des Einsatzes fluoridierten Speisesalzes dargestellt wurde. Die Verwendung von fluoridiertem Speisesalz in Kombination mit zweimaligem täglichen Zähneputzen mit fluoridierter Zahnpasta kann das Kariesrisiko um bis zu 50 Prozent reduzieren.

Der Einsatz fluoridierten Speisesalzes ist als niederschwellige Prävention zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten in der Zahngesundheit sehr gut geeignet. Daher empfehlen die Mitarbeiterinnen der LAG Berlin im Rahmen von Öffentlichkeitsaktionen die Nutzung fluoridierten Speisesalzes und verteilen Informationsbroschüren in deutscher und gegebenenfalls in türkischer Sprache dazu.

Es gab Meldungen, dass in Kitas keine Zähne mehr geputzt werden, weil das die Kapazitäten der Erzieher übersteigt oder aber, weil es hygienisch nicht tragbar sei. Was wissen Sie aktuell darüber?

Jede Kita, die nicht putzt, ist eine Kita zu viel. Das Zähneputzen muss zum täglichen Ritual in der Einrichtung gehören. So sieht es auch das Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege der zuständigen Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft vor.

Sobald wir davon erfahren, dass in einer Einrichtung nicht mehr geputzt wird, nehmen wir, beziehungsweise die Zahnärztlichen Dienste der Bezirke mit der Einrichtung Kontakt auf und versuchen sie zu überzeugen, wieder zu putzen. Wir machen die Wichtigkeit des täglichen Rituals Zähneputzen in der Kita deutlich und beraten gerade zu dem häufig genannten Punkt „Hygiene“.

Das Robert-Koch-Institut hat deutlich gemacht, dass bei Beachtung einfachster Regeln die Ansteckungsgefahr keinesfalls größer ist als im normalen persönlichen Kontakt. Kinder, die in der Einrichtung Zähneputzen, putzen sich zu Hause eher die Zähne, weil sie es als Ritual kennengelernt haben.

Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Die Gruppenprophylaxe hat sich bewährt. Die deutlich verbesserte Zahngesundheit bei Kindern und Jugendlichen zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es gibt aber keinen Grund nachzulassen. Insbesondere muss man aufpassen, dass bestimmte Gruppen nicht von dieser grundsätzlich positiven Entwicklung abgehängt werden.

Gerade bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien oder mit Migrationshintergrund ist gehäuft eine schlechte Zahngesundheit festzustellen. Diese Gruppen müssen noch stärker in unseren Fokus rücken, etwa durch Intensivierung der Elternarbeit, denn die Eltern sind Vorbilder für die Gesundheitserziehung ihrer Kinder. Nicht nur Gesund beginnt im Mund, sondern auch die Chancengleichheit beginnt im Mund.

Die Fragen stellte Sara Friedrich.

Anmerkung der Redaktion:

Am Rande vom Tag der offenen Tür im Bundesgesundheitsministerium in Berlin ergänzte Dietze das Interview. Mit Blick auf die Broschüren, die zum Thema Zahnpflege produziert werden, kritisierte er: "Wir müssen uns reduzieren, was die Botschaften betrifft. Die vorrangige Botschaft ist immer das tägliche Zähne putzen mit fluoridierter Zahnpasta." Darüber hinausgehende Botschaften wie die zahngesunde Ernährung seien auch wichtig, aber man dürfe die Zielgruppen nicht mit zu vielen Informationen überfrachten.

Am meisten Sorgen machen ihm, der seit einem halben Jahr die LAG Berlin leitet, sozial schwächere Menschen mit Migrationshintergrund. Deren Kinder, die mitunter keine Kindertageseinrichtung besuchen, würden zum Teil nur über die Gespräche mit "Stadtteilmüttern" Informationen über Zahngesundheit erfahren.

Ein weiteres Problem: In Migrationsfamilien werde mitunter mit unfluoridiertem Salz gekocht, weil das etwa in türkischen Supermärkten nicht immer verkauft werde. Flüchtlichlingskinder hätten laut Dietze das Problem, dass sie das Zähneputzen nicht als tägliches Ritual verinnerlicht haben und nun hier in der BRD auf eine "zahnungesunde Ernährung" stoßen.

Andreas Dietze ist Volljurist. Von 1988 bis 1993 hat er Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert. Von 1994 bis 1996 hat er ein Referendariat beim Kammergericht Berlin absolviert. Von 1996 bis 2015 war er beiSozialversicherung für Landwirtschaft, Gartenbau und Forsten tätig, zuletzt als Regionalbeauftragter für die neuen Länder. Seit Januar 2016 ist er Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Berlin zur Verhütung von Zahnerkrankungen (Gruppenprophylaxe) e.V.

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