Beweissicherung bei häuslicher Gewalt wird Kassenleistung
Bei häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen besteht für die Betroffenen eine hohe Hemmschwelle ihre Rechte wahrzunehmen und direkt bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. „Viele Gewaltopfer können sich erst mit zeitlichem Abstand zur Tat durchringen, Strafanzeige zu stellen. Etwaige Spuren oder Befunde, die für die strafrechtlichen Ermittlungen von Relevanz sind, können dann oft nicht mehr gesichert und dokumentiert werden“, schreibt die Landesregierung. Seit 2012 biete darum das an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) verankerte Netzwerk ProBeweis Betroffenen von häuslicher oder sexueller Gewalt eine verfahrensunabhängige und vertrauliche Spurensicherung an. Mittlerweile verfügt Niedersachsen mit 45 Untersuchungsstellen an 39 Partnerkliniken über ein flächendeckendes Beweissicherungsangebot für Gewaltopfer.
2022 gab es 8,5 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr
Die Zahl der bekannten Opfer von Häuslicher Gewalt lag im Jahr 2022 bei 240.547 und ist damit um 8,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021 gestiegen. Das zeigt ein Lagebild, das Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Bundesfamilienministerin Lisa Paus und der Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, im Sommer 2023 vorstellten. „Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von Häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten“, erklärte Paus. Die deutlich gestiegenen Zahlen zeigten die traurige Realität: Gewalt gegen Frauen sei ein gesamtgesellschaftliches und alltägliches Problem.
Münch betonte, es sei wichtig, Betroffenen gezielt Hilfen anzubieten. Auch sei es nötig, polizeiliche Maßnahmen durchdacht zu planen. Das sei jedoch nur mit einer guten Datenlage zu erreichen. Darum wurde nun die Dunkelfeldstudie „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“ (LeSuBiA) angestoßen, für die deutschlandweit rund 22.000 Menschen befragt werden sollen. Erste Ergebnisse werden 2025 erwartet.
Das Problem: Bislang handelte es sich bei der rechtsmedizinischen Leistung nicht um eine Kassenleistung. Mit der neuen Regelung wird die forensische Spurensicherung in Niedersachsen ab 2024 eine kassenfinanzierte Leistung nach Sozialgesetzbuch V, was die Hemmschwelle der Inanspruchnahme senken soll. Bei der Kostenübernahme wird ein Abrechnungsverfahren verswendet, das Vertraulichkeit garantiert: Personenbezogene Daten werden nicht an die Krankenkassen weitergeleitet.
15 bis 20 Prozent der Spurensicherungen führen zu Anzeigen
Die Kassen teilen sich die Kosten nach Marktanteil, nicht nach Inanspruchnahme durch die eigenen Versicherten. Die Vertragsvereinbarung zwischen den Kassen und der MHH beziehungsweise dem Netzwerk ProBeweis sowie dem Land Niedersachsen sieht vor, dass pro erfolgter Spurensicherung 421 Euro netto pauschal an das Netzwerk ProBeweis erstattet werden. Hiervon wird das Netzwerk 200 Euro netto an die jeweilige leistungserbringende Klinik aus dem Netzwerk überweisen. Bislang konnte ProBeweis die rechtsmedizinische Leistung aus Landesmitteln nur pauschal mit 50 Euro honorieren.
Für die gerichtsverwertbare Dokumentation werden die Betroffenen körperlich untersucht, nötigenfalls werden Proben entnommen. Verletzungen werden fotografiert. Alle Befunde werden manipulations- und zugriffssicher aufbewahrt und können im Falle einer Anzeige und Schweigepflichtsentbindung abgefordert und in ein Strafverfahren eingebracht werden. Seit 2012 wurden 1.707 vertrauliche Spurensicherungen vorgenommen, informiert das Land. „Bei etwa jedem zweiten Fall geht es um Gewalt im häuslichen Kontext. Etwa fünf Prozent der Untersuchten sind Männer. Etwa 15 bis 20 Prozent führten zu Anzeigen – darunter auch rechtskräftige Verurteilungen.“
Der Zahnärztin und dem Zahnarzt kommt somit eine entscheidende Rolle beim Erkennen häuslicher Gewalt zu, schreibt die Bundeszahnärztekammer (BZÄK). „Betroffen sind oft die Lippen, die Zähne und der Kiefer. Charakteristische Verletzungen sind zum Beispiel Zahntraumata wie Zahnrisse, -brüche und -absplitterungen, ein Riss des Oberlippenbändchens, Verletzungen der Oberlippe oder Kieferfrakturen, die sich mit der Krankengeschichte des Patienten nicht vereinbaren lassen.“ Worauf Zahnärzte achten und wie sie im Verdachtsfall mit den Patientinnen und Patienten umgehen sollten, erklärt die BZÄK auf ihrer Themenseite.