Bewertung einzelner Schutzmaßnahmen ist schwierig
Die Bilanz der 18 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen fiel kritisch aus. So hätten etwa gerade in der Anfangszeit der Pandemie von der Politik verhängte Einschränkungen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen durchaus etwas gebracht, heißt es in dem 165 Seiten starken Papier. Die Wirkung von Masken zum Infektionsschutz sei aber nur dann gegeben, wenn sie richtig aufgesetzt würden.
Schulschließungen dürften nur das letzte Mittel sein
Schulschließungen dürften nur als letztes Mittel der Wahl eingesetzt werden. Erhebliche Defizite gebe es bei der Risikokommunikation oder bei der Erhebung von Daten. Juristisch sei die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ mehr als fragwürdig. Aussagen zu Corona-Impfstoffen und –medikamenten wurden nicht getroffen. Für die Politik gab es wenig konkrete Empfehlungen.
Nicht zuletzt aufgrund der unzureichenden Datenlage seien präzise Bewertungen einzelner Schutzmaßnahmen schwierig. Es seien außerdem im Pandemiemanagement der Bundesregierung viele Maßnahmenbündel gleichzeitig ergriffen worden, die man nicht voneinander trennen könne, betonten die Fachleute vor der Presse in Berlin. Ganz explizit sei es nicht Ziel des Gutachtens gewesen, eine „Abrechnung“ mit der bisherigen Corona-Politik der Bundesregierung vorzulegen, sondern den politischen Entscheidern eine Grundlage für künftige Entscheidungen zu bieten.
Hier die wichtigsten Aussagen:
Lockdown: Je länger ein Lockdown dauere und je weniger Menschen bereit seien, die Maßnahmen mitzutragen, desto geringer sei der Effekt und umso schwerer fielen die nicht-intendierten Folgen ins Gewicht. Die Wirksamkeit eines Lockdowns sei also in der frühen Phase am effektivsten, verliere aber ihren Effekt wiederum schnell, heißt es in dem Papier.
Kontaktnachverfolgung: Auch die Kontaktnachverfolgung sei in der Frühphase der Pandemie wirksam. Es sollte dringend erforscht werden, unter welchen Prämissen der Nutzen der Kontaktpersonennachverfolgung im Vergleich zum Anraten des „Zuhausebleibens“ bei Symptomen überwiegt. Zudem sei eine bessere Digitalisierung der Infektionserfassung mit bundesweit einheitlichen Systemen in Zukunft unabdingbar.
2G/3G: Der Effekt sei in den ersten Wochen nach der Booster-Impfung oder der Genesung hoch, heißt es in dem Gutachten. Der Schutz vor einer Infektion lasse mit der Zeit jedoch deutlich nach. Die Beurteilung des Effekts sei mit Unsicherheiten verbunden. Sei man aufgrund eines hohen Infektionsgeschehens und einer (drohenden) Überlastung des Gesundheitswesens gezwungen, Zugangsbeschränkungen einzuführen, so sei bei den derzeitigen Varianten und Impfstoffen eine Testung unabhängig vom Impfstatus zunächst zu empfehlen. In Anbetracht der leichten Übertragbarkeit der derzeitig vorherrschenden Omikron-Variante bei Geimpften sowie der Impf- und Genesungsquote sei allerdings begleitend zu erforschen, wie gut eine Eindämmung über Testung funktionieren kann.
Schulschließungen: Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung des Coronavirus sei weiterhin offen, betonten die Experten. Dies auch, weil im schulischen Bereich eine Reihe von Maßnahmen gleichzeitig eingesetzt wurden. Da Kinder durch Schulschließungen besonders betroffen sind, sollte eine Expertenkommission die Auswirkungen dieser Maßnahme unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls genauer evaluieren. Schließungen sollten nur das letzte Mittel der Wahl sein.
Masken und Maskenpflicht: Das Tragen von Masken könne ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein, heißt es in dem Gutachten. Eine schlechtsitzende Maske habe jedoch einen verminderten bis keinen Effekt. Deshalb sollte zukünftig in der öffentlichen Aufklärung ein starker Schwerpunkt auf das richtige und konsequente Tragen von Masken gelegt werden. Die epidemiologisch messbare Wirksamkeit von Gesichtsmasken sei gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Bewertungen von chirurgischer und FFP2-Maske nicht abschließend zu beurteilen. Da die Übertragung des Coronavirus im Innenbereich ungleich stärker als im Außenbereich sei, sollte eine Maskenpflicht zukünftig auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben. Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken sei aus den bisherigen Daten nicht ableitbar.
Datenmanagement: Angemahnt wird ein gezieltes Datenmanagement, was bislang fehle. Ein flächendeckendes Surveillance-System, mit dem Daten zur Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen erhoben und adäquat in Modellen abgebildet werden können, wäre eine Option für die Zukunft, heißt es in dem Gutachten.
Risikokommunikation: Hier sehen die Experten Defizite. Angemahnt wird eine gezielte Risikokommunikation als staatliche Aufgabe. Statt top-down zu kommunizieren, sollten dialogische Strategien gestärkt und kontroverse Debatten zugelassen werden.
Infektionsschutzgesetz hat erheblichen Reformbedarf
Ferner empfehlen die Sachverständigen, die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie vor allem für Frauen und jüngere Menschen in den Blick zu nehmen und ein besonderes Augenmerk auf Kinder und Jugendliche zu legen. Auch die Folgen für Familien und vulnerable Gruppen sollten beachtet und sozial bedingte Ungleichheiten als eigenständiges Thema der Pandemiepolitik behandelt werden. Als positiv schätzten die Experten die wirtschaftlichen Corona-Hilfen von Bund und Ländern für die Unternehmen ein.
Was das Infektionsschutzgesetz angeht, sehen die Sachverständigen erheblichen Reformbedarf. Die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) stelle eine juristisch fragwürdige Konstruktion dar. Die im Gesetz vorgenommene Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive werde im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten, so die Experten. Statt eines spezifischen Gesetzes für eine Pandemie sollte eine Norm geschaffen werden, die für alle kommenden Krankheitserreger und künftige mögliche Pandemien gilt.