Sprachbarrieren überwinden

Braucht das Gesundheitswesen einen Dolmetscherdienst?

mg
Gesellschaft
Schätzungen zufolge haben vier bis fünf Prozent der Bevölkerung nur unzureichende Deutschkenntnisse. Forschende fordern darum einen Dolmetscherdienst fürs Gesundheitswesen. Vorbild ist die Schweiz.

Ein Besuch beim Arzt ist für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen oft nur schwer zu bewältigen. Sprachbarrieren stellen für die betroffene Person ein Hindernis dar, sie sind aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen im Arbeitsalltag problematisch. Die Schwierigkeiten steigen zusätzlich, wenn innerhalb kurzer Zeit viele Geflüchtete ins Land kommen, die nicht so gut Deutsch sprechen, wie im Frühjahr 2022 aus der Ukraine.

„Schätzungen zufolge haben vier bis fünf Prozent der Bevölkerung nur unzureichende Deutschkenntnisse. Das behindert deren Versorgung in jeder Hinsicht“, erklärt Prof. Dr. Bernd Meyer von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). „Wir brauchen daher Regelungen, damit Sprachmittlung systematisch in öffentlichen Einrichtungen und vor allem im Gesundheitswesen eingesetzt werden kann.“ Meyer ist Leiter des Arbeitsbereichs Interkulturelle Kommunikation an der JGU und hat sich als Sachverständiger im Gesundheitsausschuss des Bundestags unlängst zur Sprachmittlung in der Pflege und im Gesundheitssystem geäußert.

Länder begegnen dem Bedarf völlig unterschiedlich

Gesetzliche Regelungen zum Einsatz von Dolmetschern, die bei Sprachbarrieren helfen, gibt es in Deutschland bislang nur im Gerichtswesen. Ansonsten herrsche ein Flickenteppich, so die Forschenden. Die Bundesagentur für Arbeit hat die Möglichkeit, Telefondolmetscher hinzuzuziehen, was monatlich in 4.000 bis 5.000 Fällen in Anspruch genommen wird. In Thüringen wird auf Landesebene Video- und Audiodolmetschen für Gesundheitseinrichtungen angeboten, darunter für Beratungsstellen, Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Krankenhäuser, Frauenhäuser und Gemeinschaftsunterkünfte. Rheinland-Pfalz unterstützt den Aufbau lokaler Sprachmittlerpools für den Kontakt mit Kitas oder Schulen, bei Behörden, in Flüchtlingsunterbringungen, in psychotherapeutischen Settings, in Beratungsstellen oder bei Arztbesuchen.

In anderen Regionen Deutschlands gibt es weitere Praktiken, berichtet Meyer. „Es gibt zahlreiche Initiativen auf diesem Gebiet, aber die Angebote sind sehr unterschiedlich. Prinzipiell ist eine gewisse Vielfalt zu begrüßen, um auf unterschiedliche Bedürfnisse einzugehen.“ So sollte es beispielsweise möglich sein, dass bei der Betreuung von Obdachlosen durch die aufsuchende Sozialarbeit Telefondolmetscher auch recht kurzfristig zur Verfügung stehen oder Personen mit entsprechenden Sprachkenntnissen eingesetzt werden. „Aber im Gesundheitswesen bedarf es klarer Strukturen.“

Übersetzungen von Angehörigen können problematisch sein

Meyer weist darauf hin, dass Übersetzungsleistungen bislang oft von Laien erbracht werden, was teilweise sehr gut funktioniert, teilweise aber schwierig ist, wenn die sprachmittelnde Person eine der beiden Sprachen nicht ausreichend gut beherrscht oder stark persönlich involviert ist, etwa aufgrund von Verwandtschaft. Eine gesetzliche Regelung für das Gesundheitswesen sollte daher die diversen Praktiken vereinheitlichen und einen funktionierenden Markt für Sprachmittler schaffen, der auch nach außen die Qualifikation, die Art des Angebots und die Geschwindigkeit der Verfügbarkeit transparent macht, fordern die Forschenden.

Aktuell bereitet das Bundesgesundheitsministerium dazu einen Gesetzesentwurf vor, der voraussichtlich im Herbst 2023 vorgelegt wird. „Eine gesetzliche Regelung wird nicht nur den Betroffenen helfen, wenn sie Unterstützung bei gesundheitlichen Problemen suchen, sondern auch den Beschäftigten eine enorme Erleichterung verschaffen“, glaubt Meyer.

„Vorbild ist die Schweiz“

Wie die Sprachmittlung gut funktionieren könnte, zeige ein Blick in die Schweiz. Meyer: „Die Schweiz hat in den vergangenen 20 Jahren ein System mit hoher Leistungsfähigkeit aufgebaut. Es gibt eine Zertifizierung von Sprachmittlern und eine große Anzahl regional tätiger Vermittlungsstellen.“ Nachgefragt werden vor allem Sprachen, die aufgrund von Flucht und Arbeitsmigration präsent sind, wie Arabisch, Tigrinya, Albanisch oder Tamil. Fast 80 Prozent der Einsätze erfolgen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales – das waren rund 370.000 Einsätze im Jahr 2022. Gesundheit allein macht nahezu die Hälfte des gesamten Bedarfs aus.

Auch andere Länder, darunter Österreich, Belgien, Schweden, Dänemark und die USA, verfügen über Strukturen zur Sprachmittlung, wobei es weltweit ebenfalls recht unterschiedliche Systeme gibt. Das Beispiel der Schweiz zeigt laut Bernd Meyer, wie hoch der Bedarf ist, falls Zugriff auf ein gut funktionierendes Angebot besteht. Anhand der Schweizer Zahlen schätzt er den Bedarf in Deutschland auf über 1,5 Millionen Dolmetschereinsätze pro Jahr. Die Kosten dafür werden mit etwa 60 Millionen Euro jährlich veranschlagt.

„Technische Übersetzungstools sind keine Alternative“

„Weil der Bedarf hoch ist, benötigen wir ein effizientes System. Es darf nicht zu kompliziert, nicht zu langsam und nicht zu teuer sein“, so der Experte. Maschinelle Übersetzungstools können nach Auffassung von Meyer zertifizierte Dolmetscher nicht ersetzen: Studien zufolge kommt es einerseits bei Gesundheitsthemen zu problematischen Missverständnissen, andererseits stellt die digitale Spracherkennung der Apps einen Flaschenhals dar und scheitert oft an Dialekten, leisen Stimmen oder Störungen im Redefluss.

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