Deutsches Netzwerk Evidenz-basierte Medizin

COVID-19: "Selbst renommierte Medien berichten irreführend"

mg/pm
Gesellschaft
Das Deutsche Netzwerk Evidenz-basierte Medizin (EbM) hat die Berichterstattung zu COVID-19 - selbst in den Leitmedien - als teilweise "irreführend" kritisiert. Die Menschen wollten ehrlich und unmissverständlich informiert werden.

"Selbst in den Leitmedien wurden zur Beschreibung des Infektionsrisikos über Monate lediglich Fallzahlen ohne Bezugsgrößen und unter Verwendung unpräziser Bezeichnungen benutzt", schreibt das EbM in seiner Stellungnahme . "Dabei wird nicht zwischen Testergebnissen, Diagnosen, Infektionen und Erkrankungen differenziert."

Üblicherweise handele es sich um „gemeldete positive Testergebnisse“. Dabei bleibe jedoch unklar, ob das Testergebnis richtig positiv ist, also eine Infektion mit SARS-CoV-2 tatsächlich anzeigt. Auch wäre jeweils relevant, ob und wie schwer die Personen erkrankt sind, präzisiert das EbM weiter.

Diagnosen sind noch keine Krankheiten

"Diagnosen sind noch keine Krankheiten. Gerade für COVID-19 wäre wichtig zu wissen, wie viele Personen tatsächlich so krank sind, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen." Die immer noch genutzte Aussage „Heute gab es X Infektionen“ sei falsch, da die Gesamtzahl der Infizierten unbekannt bleibe. Dazu bräuchte es eine zeitgleiche vollständige Testung einer repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung, betont das Netzwerk.

Aktuell sterben 2.500 Deutsche pro Tag – auch ohne COVID-19

Aktuell sei die tägliche Berichterstattung der gemeldeten Fälle hingegen kaum interpretierbar, wenn nicht bekannt ist, wie viele Tests bei welchen Personen durchgeführt wurden: "Je mehr getestet wird, umso häufiger finden sich auch richtig oder falsch positiv getestete Personen."

Neben diesen "irreführenden Darstellungen in den Medien" beobachtet das EbM in der medialen Berichterstattung "missverständliche Ranglisten" und "fehlende Vergleichsgruppen". Die Nennung von Rohdaten ohne Bezug zu anderen Todesursachen führe so zur Überschätzung des Risikos. "In Deutschland versterben etwa 2.500 Personen pro Tag, pro Jahr sind es fast eine Million Bürger*innen, die an den unterschiedlichsten Todesursachen versterben", heißt es in der Stellungnahme.

"Die Angaben zu den Todesfällen durch COVID-19 sollten daher beispielsweise auch die wöchentlich verstorbenen Personen mit Angabe der Gesamttodesfälle in Deutschland nennen. Auch ein Bezug zu Todesfällen durch andere akute respiratorische Infektionen sollte berichtet werden."

Alarmismus und emotionalisierte Einzelfallberichte führen zu haltlosen Hypothesen

Einzelfalldarstellungen hält das EbM generell für eher ungeeignet, um Bürger über mögliche Folgen einer COVID-19-Erkrankung zu informieren. "Für eine sinnvolle Einordnung der Beobachtungen wären (...) Vergleiche notwendig." So gebe es auch bei Grippe schwere Folgeerkrankungen, insbesondere des Herzens. Zudem sei jede Behandlung auf einer Intensivstation mit einem bestimmten Risiko von Folgeschäden verbunden.

"Inwiefern die Komplikationen auf die COVID-19 Erkrankung selbst oder die Behandlung auf der Intensivstation, eventuell aufgrund schwerer Grunderkrankungen, zurückzuführen sind, müsste systematisch im kontrollierten Vergleich untersucht werden", fordert das EbM.

Einzelfallberichte könnten so Hypothesen generieren, nicht jedoch ursächliche Zusammenhänge belegen. Für eine mediale Berichterstattung ohne umfassende Einordnung der Befunde sind Falldarstellungen aus Sicht des EbM für ungeeignet. Insgesamt sei die Sprache in der medialen Berichterstattung oft alarmierend. "Es scheint, als würde die eigene Angst der Berichterstatter*innen in der Auswahl und Formulierung der wissenschaftlichen Daten mittransportiert."

Kriterien für evidenzbasierte Risikokommunikation

Kriterien für evidenzbasierte Risikokommunikation

  • Zahlen mit einer sinnvollen Bezugsgröße ermöglichen es, die Größenordnung eines Problems beziehungsweise die Effektivität einer Maßnahme zu erkennen. In einer Gesundheitsinformation sollten gleiche Bezugsgrößen eingesetzt werden.

  • Für die Abbildung von Nutzen und Schaden sollten – so weit möglich – einheitliche Bezugsgrößen gewählt werden. Ausgangspunkt der Information sollte ein Basisrisiko sein (zum Beispiel der „natürliche Krankheitsverlauf“). Dies meint die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Beschwerdebild auch ohne medizinische Intervention verbessert, verschlechtert oder konstant bleibt. Die Information, dass sich viele Beschwerdebilder auch ohne Behandlung bessern können, sollte den Nutzern vermittelt werden.

  • Der Effekt einer medizinischen Maßnahme sollte durch Darstellung der absoluten Ereignishäufigkeiten in den zu vergleichenden Gruppen angegeben werden. Welches Maß an Sicherheit die Zahlen haben, sollte benannt werden. Auf Daten, die nicht ausreichend sicher sind, sollte verzichtet werden.

  • Die Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen sollten als absolute Risikoänderung dargestellt werden.

  • Je nach Kontext kann es sinnvoll sein, zusätzlich zur absoluten Risikoänderung auch relative Änderungen darzustellen. Die alleinige Darstellung der relativen Risikoänderung ist jedoch zu vermeiden, weil damit die Größenordnung von Effekten nicht vermittelt wird.

  • Angemessen kann die Kombination von Darstellungen sein (zum Beispiel absolutes Risiko, relatives Risiko, unterstützt durch eine grafische Darstellung). Behandlungsergebnisse werden mit Angaben zu ‚Gewinn-Verlust' ergänzt – beispielsweise „x von 100 Patienten überleben“ beziehungsweise „y von 100 Patienten versterben“ (Bezugsrahmensetzung, „Framing“). Unterschiedliches Framing desselben Sachverhalts kann unterschiedliche Effekte bei Patientinnen und Patienten bewirken, etwa in der Risikowahrnehmung, dem Verständnis und der Motivation. Ausgewogenheit beim Framing ist erforderlich, um Patienten nicht einseitig zu beeinflussen .

Quelle: EbM

Melden Sie sich hier zum zm Online-Newsletter an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Online-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm starter-Newsletter und zm Heft-Newsletter.