Sachverständigenrat stellt neues Gutachten vor

„Das Gesundheitssystem ist ein behäbiges Schönwettersystem“

pr
Politik
Pandemie- und Hitzepläne verstauben oft in der Schublade: Der Sachverständigenrat Gesundheit sieht Deutschlands Gesundheitswesen für Krisen nicht gut gewappnet.

Das deutsche Gesundheitswesen muss deutlich besser für Krisen gewappnet sein, fordert der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege in seinem Jahresgutachten 2023 „Resilienz im Gesundheitswesen, Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“.

In Deutschland ist alles gut organisiert?

Scharf kritisieren die Experten darin den Umgang mit den aktuellen Herausforderungen – wie etwa Ukrainekrieg, Pandemie und Klimawandel – aus denen für das Gesundheitswesen nicht die notwendigen Schlüsse gezogen worden seien. Die bisherige Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut organisiert sei und das Land angesichts eines ausdifferenzierten Rettungs- und Gesundheitssystems bestens auch auf unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet sei, sei trügerisch, führte der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, bei der Übergabe des mehr als 600 Seiten starken Gutachtens an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) an.

„Unser Gesundheitssystem ist hochkomplex - ein behäbiges Schönwettersystem, das unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis leidet,“ sagte Gerlach. Zugleich sei das System zwischen Bund, Ländern und Landkreisen und Kommunen unzureichend koordiniert – nicht nur im Krisenfall. Das Ergebnis sei häufig schlechter als angesichts des hohen Mitteleinsatzes zu erwarten wäre. Weder auf Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien sei das System ausreichend vorbereitet. Die Krisenfestigkeit beziehungsweise Resilienz müsse gestärkt werden.

Pandemie- und Hitzepläne verstauben in der Schublade

Die Experten hoben hervor, dass es zwar für viele Bereiche und Herausforderungen bereits gute Analysen und konkrete Konzepte zur Resilienzstärkung gebe - wie etwa Pandemie- oder Hitzepläne. Aber sie verstaubten oft in Schubladen anstatt konsequent umgesetzt und eingeübt zu werden.

Tadel kam auch vom stellvertretenden Ratsvorsitzenden Prof. Dr. rer.pol. Wolfgang Greiner: Notwendig sei eine koordinierte Vorbereitung auf den Krisenfall mit ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen. Um zukünftige Krisen besser zu bewältigen, müssten das Gesundheitssystem und das Land insgesamt dringend krisenresistenter und strukturell widerstandsfähiger werden.

Seitenlange Einwilligungserklärungen bieten keine Datensicherheit

Ratsmitglied Prof. Dr. med. Petra Thürmann, klinische Pharmakologin und leitende Krankenhausärztin, sagte: „Wir müssen die verantwortliche Datennutzung zur Verbesserung der Versorgung und der epidemiologischen Lageanalyse dringend vereinfachen,“ forderte sie. Die entsprechenden Möglichkeiten der EU-Datenschutzgrundverordnung sollten endlich auch in Deutschland umgesetzt werden. Thürmann: „Seitenlange Einwilligungserklärungen bieten keine Datensicherheit. In der SARS-CoV-2-Pandemie war Deutschland weitgehend im Blindflug unterwegs. Bei den Verläufen und Folgen von Infektionen, Behandlungen und Impfungen mussten wir uns häufig auf wesentlich bessere Daten zum Beispiel aus Dänemark oder Israel verlassen.“

Der Sachverständigenrat empfiehlt einen All-Gefahren-Ansatz, da Krisen zeitgleich oder gehäuft auftreten und viele Lebensbereiche gleichzeitig betreffen können. Außerdem verlangt er, das übergreifende Prinzip Gesundheit in allen Politikbereichen zu stärken (Health in All Policies). Eine besondere Rolle komme dabei dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zu. Er müsse dringend personell und materiell gestärkt und Defizite abgebaut werden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen ÖGD, Forschung, klinischer Versorgung und industriellen Partnern unter klar definierten Bedingungen sei dringend erforderlich, so die Experten.

Health in All Policies

Die organisatorische Struktur des ÖGD sollte dezentral bleiben. Das geplante Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit sollte insbesondere für die Erhebung, Zusammenführung, Bereitstellung, Analyse und Aufbereitung von Daten zuständig sein, die für das Gesundheitswesen relevant sind. Zudem sollte das Institut als „vernetzter Akteur“ zielgruppengerechte Kommunikation und Qualitätsförderung betreiben. Die Rolle von Public Health sollte insgesamt gestärkt werden.

Der Sachverständigenrat beleuchtete in seinem neuen Gutachten auch weitere Versorgungsbereiche. Dazu gehörte die Akutversorgung und die Langzeitpflege. Untersucht wurden auch konkrete Strategien zur Stärkung der Lieferketten, der zielgruppengerechten Kommunikation und der wissenschaftlichen Politikberatung sowie zur Verbesserung des akuten Krisenmanagements.

„Unser Gesundheitswesen muss widerstandsfähiger werden,“ sagte Lauterbach anlässlich der Übergabe des Gutachtens. „Deswegen bin ich dankbar, dass der Sachverständigenrat die Resilienz zum Thema macht. Das gibt uns Rückenwind für die geplanten schwierigen, aber dringend notwendigen Reformen: Wir ordnen die Krankenhausstruktur neu, machen Arzneimittelversorgung sicherer, sorgen mit niederschwelligen Angeboten für gute Medizin für alle. Und wir ziehen Lehren aus der Pandemie. Wenn das nächste Virus zur Gefahr wird, werden wir international wie national besser aufgestellt sein.“

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